Verner von Heidenstam
Die Schweden und ihre Häuptlinge
Verner von Heidenstam

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IX. Arnljot Gelline

(Im elften Jahrhundert)

Der Mord

Auf einem großen Bauernhof in den nördlichen Bezirken wurde ein Festmahl gehalten.

Aber die Jugend hatte keine rechte Ruhe bei den vielen Braten und Kuchen, und als das achte Gericht aufgetragen war, standen die jungen Männer lärmend auf, sich nach der Spielwiese zu begeben. Als sie die Tür aufmachen wollten, lag draußen etwas Schweres, das den Weg versperrte. Sie reckten die Köpfe und sahen im Halbdunkel Torland, einen Bauernsohn, den alle gut leiden mochten, mit einem Messerstich in der Brust leblos vor der Schwelle liegen. Keiner wußte, wie der junge Mann die Wunde bekommen haben konnte, vor einer kleinen Weile hatte er noch mit den andern am Tisch gesessen.

Wie man damals glaubte, sollte die Wunde eines durch Mörderhand Gefallenen wieder zu bluten anfangen, sobald der Mörder den Toten berührte. Um ihre Unschuld zu beweisen, eilten nun alle Anwesenden herbei, und einer nach dem andern erfaßte Torlands Hand. Gerade weil er im ganzen Dorfe beliebt war, zeigte sich so großer Eifer. Ja, sogar die Kinder, Greise und Frauen drängten sich heran, den Toten anzurühren, obgleich keines eines solchen Verbrechens verdächtigt hätte werden können. Schließlich war nur noch eine einzige Person übrig, die sich zurückhielt und nicht herantrat; das war die Tochter des Hofes selbst.

Sie hieß Ingefried und war sonst die sonnigste, freundlichste Maid, die man sich denken konnte. Aber jetzt stand sie allein am Eßtisch zwischen den leeren Bänken und wendete den Kopf vom Licht weg. Torlands Verwandte hatten sich indes unter der Tür versammelt. Es waren finsterblickende, schwarzgekleidete Leute mit herunterhängendem schwarzem Haar und niedrigen, gefurchten Stirnen.

Sie sprachen immer nur leise und hatten eine schwermütige Ausdrucksweise. Heute waren sie aus ihrem Flecken im inneren Hälsinge-Bezirk herabgekommen, und das Silber an ihren Gürteln legte Zeugnis ab, daß sie reich waren.

»Rache, Rache!« flüsterten sie kaum hörbar und streckten ihre Hände, an denen die Finger wie Rabenkrallen gekrümmt waren, über die umherstehende Schar aus. Einer aber hielt ein Licht über Ingefried und deutete dabei auf den Toten.

»Ingefried!« sagte er mahnend.

Da trat Ingefried vor und ließ sich auf der Schwelle nieder. Verlegen und still nahm sie Torlands Hände in die ihrigen.

Aber kaum hatte sie ihre tränenvollen Augen auf das bleiche Gesicht gerichtet, als auch schon ein großer roter Blutstrom aus seinem Hemd gerade über dem Herzen herausquoll.

Es war so still im Hause, daß man das Sausen der Sensen auf dem Thinghügel vernahm, wo das Gras gemäht wurde, weil am nächsten Morgen Thing gehalten werden sollte. Einer von Torlands Verwandten setzte sich zu Ingefried auf die Schwelle.

»Du bist die Schuldige, du mit den sanften Augen,« flüsterte er, »Du schweigst und willst nichts gestehen. Verlangst du denn, daß wir Verwandten noch ein Gottesurteil versuchen, ehe wir dich der Schuld anklagen? Ich höre wohl, daß die hier Versammelten jetzt darauf dringen, nachdem sie sich bis zuletzt gesträubt haben, einem Weibe ein solches Verbrechen zuzutrauen. So mögen sie ihren Willen haben. Wenn du morgen vor der ganzen Thingversammlung ein rotglühendes Eisen neun Schritte weit tragen kannst, ohne die geringste Brandblase an den Händen davonzutragen, dann wollen wir an deine Unschuld glauben. Ich bin ein Vikinger und habe in fremden Landen Unschuldige über glühende Pflugscharen hinlaufen sehen, ohne daß sie sich verbrannten.«

Während seiner Rede schlug er kräftig auf seinen silberbeschlagenen Gürtel, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Und sobald er geendigt hatte, banden seine andern Verwandten Ingefried die Hände auf dem Rücken zusammen und führten sie in das Vorratshaus, das nur einige Schritte entfernt lag. Hier wurde sie eingesperrt; die Leute des Hofes aber wurden in ihrem eigenen Saal eingeschlossen. Dann richteten die Verwandten ihre Schritte nach dem Thinghügel, und die andern Festgäste gingen bestürzt und schweigend mit.

Einige blieben indes als Wache zurück, und diese krochen unter das Vorratshaus hinunter, das auf vier Steinblöcken etwas erhöht über dem Boden stand.

An den Wänden hingen Kleider und Renntierfelle, und an der einen Wand war eine runde Luke. Da stand Ingefried im nächtlichen Schimmer und preßte die Stirne an die ellendicke Balkenwand. Es war Mittsommerzeit, und das Wollgras auf dem Moore leuchtete weithin wie frisch gefallner Schnee. Halbverwelkte Schlüsselblumen, verblühter Löwenzahn und frische Butterblumen vermengten sich mit den Margeriten und dem Wiesenlauch auf der Flur zu einem buntschimmernden Teppich. Die Blumen hatten damals noch andere Namen als jetzt, die einen christliche, die andern heidnische, und obgleich viele von ihnen schon die Augen für die Nacht geschlossen hatten, konnte Ingefried doch die größten davon zwischen den Blättern und leichtwogenden Grashalmen deutlich erkennen. Als aber die Wächter eingeschlafen waren, trat plötzlich ein Mann vor das Luftloch, ein so großer Mann, wie das Mädchen noch keinen gesehen hatte. Er trug einen purpurnen Anzug, hielt einen goldbeschlagenen Speer in der Hand, und sein Gesicht hatte einen strengen, grüblerischen Ausdruck.

»Ich bin Arnljot Gelline,« sagte er, »obgleich mein Name in meiner Kindheit anders gelautet hat. Sage, Bauerntochter, hast du denn keine Anverwandten, die dich verteidigen könnten?«

»Meine Mutter ist zu alt und gebrechlich,« lautete die Antwort; Vilar, mein Bruder, aber zog mit Olof Tryggvesson davon und kam nicht wieder. Dann hatte ich auch noch einen jüngeren Bruder, aber dem gefiel es nicht daheim; so lebt er draußen in den Wäldern, und ich fürchte, er ist ein Waldläufer und Räuber geworden. Aber wenn ich dich genau ansehe, deucht es mich, als sei er in dieser Nacht zur rechten Stunde zurückgekommen.«

»Es ist, wie du sagst,« erwiderte Arnljot Gelline. »Ein gutes Geschick hat mich gerade heute nacht hierher geführt, wo du der brüderlichen Hilfe so sehr bedarfst. Ich bin heute in die Ortschaft herabgestiegen, dich und die Mutter zu besuchen. Da drang sogleich das Gerücht böser Ereignisse auf mich ein. Wann tuscheln die Ansässigen wohl je von etwas anderm?«

Ingefried wurde blutrot. »Niemand kann das rätselhafte Unglück dieser Nacht mehr beklagen als ich,« sagte sie, »denn gerade vorher während des Gastmahls habe ich Torland Treue fürs ganze Leben gelobt gehabt. Und daher kam es wohl auch, daß sein Blut, während ich mit liebevollen Gedanken seine erkalteten Hände umfaßte, noch ein letztes Mal in sein armes durchbohrtes Herz stieg und sich in einem roten Strom auf das Hemd ergoß.«

»Ich wußte, daß du unschuldig bist,« sagte Arnljot, nachdem er eine Weile über ihre Worte nachgedacht hatte. »Aber schwer möchte es dir werden, auch Torlands Verwandte zu überzeugen, falls du die Probe nicht bestehst, die dir jetzt auferlegt ist. Weißt du, was das heißen will, ein glühendes Eisen in den Händen halten? Die Schuldigen und die Unschuldigen werden sich sicher in gleicher Weise die Hände daran verbrennen, es sei denn, ein Wundertäter bestriche sie ihnen vorher mit einer geheimen Salbe. Aber noch sehe ich keinen barmherzigen Menschen mit einem Salbenkrüglein daherkommen, obgleich die Nacht am Verrinnen ist. So werde ich es versuchen, dir zu helfen; ich habe von jeher auf meine eigene Kraft gebaut. Ingefried, meine Schwester, der Mann, der ein glühendes Eisen ohne Schaden in der Hand halten kann, ist für immer unüberwindlich.«

Ohne noch ein Wort hinzuzufügen, wendete er sich um und stieg den Thinghügel hinan.

Dort oben hatte ein frommer Prediger auf einem von hohen Steinblöcken umgebenen runden Platz aus Rasenstücken einen kleinen Altar errichtet. Da betete er und ließ Weihrauch in die Höhe steigen. Dicht daneben lag Torlands blasser Leichnam auf einer Bahre, und nicht weit davon wurde in einem aus Holz und Kohlen errichteten lodernden Feuer ein eiserner Speer glühend gemacht.

»Hört mich, ihr Dorfbewohner!« sagte Arnljot Gelline, denn obgleich es kaum heller Tag war, waren die Leute, von Neugier getrieben, doch schon vollzählig zum Thing auf dem Hügel versammelt. »Ich bin Ingefrieds Bruder, und es ist Verwandtenrecht, sich der Sache eines Weibes anzunehmen. In den Wäldern hat mich mein Weg oft auf die steilsten Felswände geführt, und da habe ich etwas gelernt. Reicht mir das Eisen! Ich habe mich niemals vor irgend etwas gefürchtet, und deshalb ist mir fast alles gelungen.«

Hierauf traten zwei Sklaven an das Feuer und zogen den glühenden Speer mit Zangen heraus. Als sie ihn über das taufeuchte Gras hinschleiften, stieg ein weißer Dampf auf, und sie mußten das Gesicht bis über die Augen mit dem Mantel bedecken, weil die Hitze zu stark war. Sie warfen den Spieß vor Arnljot Gelline hin. Das Eisen leuchtete ihm wie Feuerstrahlen ins Gesicht.

»Wohlan, wohlan!« sagte er, sich nach dem Spieße bückend. Und mit einem raschen Griff hob er ihn empor.

Nachdem er die beiden ersten Schritte zurückgelegt hatte, war in seinen Zügen noch keine Spur von Schmerz zu entdecken, sie verblieben ruhig und freudig. Und nachdem er noch fünf Schritte gemacht hatte, begann das Volk ihm zuzuwinken und zu rufen.

»Das Eisen brennt ihn nicht! Erhabenen Hauptes und unbeschädigt schreitet er dahin und tut, was kein andrer wagen würde. In seiner Hand wird das Unmögliche möglich!«

Aber beim nächsten Schritt hörte Arnljot unwillkürlich auf den Jubel des Volkes, und da erhob sich plötzlich eine Stimme in seinem Herzen.

»Arnljot,« flüsterte diese Stimme, »kann ein Mensch ein solches Wunder vollbringen?«

Und in dem Augenblick, wo dieser Zweifel Macht über ihn gewann, zerbarst seine Kraft wie ein allzu straff gespannter Bogen, und er mußte den Speer loslassen. Der Priester eilte mit einer Binde und einem Siegel herbei; er wollte ihm die Hand verbinden und bis zur näheren Untersuchung das Siegel darauf drücken. Aber Arnljot wies die Binde zurück und hob die Hand in die Höhe. Da sahen alle, daß er Brandblasen auf der Handfläche hatte.

Indessen war die Sonne über den Bergen aufgegangen.

Der Lagmann stellte sich auf den Thingstein, und die Luren wurden geblasen.

»Du stehst hier an Stelle der Schuldigen,« sagte er strenge zu Arnljot, »und ich verurteile dich zum Sühnegeld für den Mord.«

»Ihr Hofbauern!« antwortete Arnljot Gelline mit einem bittern Lächeln. »Auf dieses Sühnegeld werdet ihr lange warten müssen.«

Da erhob sich ein Aufruhr unter der Thingversammlung; aller Hände streckten sich gen Himmel, und wohl tausend Stimmen schrieen:

»Das Wolfsurteil, das Wolfsurteil! Verkündige das Wolfsurteil über den, der den Gesetzen trotzt!«

Da sprach der Lagmann folgende Worte über Arnljot Gelline aus:

»Haus und Heim sollst du verlassen. Du sollst den Herd fliehen und friedlos im Walde umherstreifen wie ein wildes Tier. Wenn du stirbst, sollst du unter einem Steinhaufen am Wege begraben werden. Jeder darf dich ungestraft töten, aber keiner dich in seiner Hütte aufnehmen. Fort, fort mit dir, fort wie ein Wolf!«

Und dann begann die ganze Versammlung mit dem zischelnden Ton, der bei einer Wolfsjagd üblich war, zu schreien und zu singen:

»Wolf, Wolf, als Wolf sollst du fliehen!
Als Wolf bis zum Tod deines Weges ziehen!«

Arnljot Gelline hob den Speer in der verbrannten Hand auf und erwiderte:

»Dieses Urteil freut mich! Und euch allen, die ihr in Betten schlaft, unter Dach und Fach eure Mahlzeiten einnehmt und euerm Aberglauben gemäß Urteil sprecht, denen es so viel schwerer wird, die Wahrheit in einem Menschenauge zu lesen, als uns Waldmenschen – euch erkläre ich Fehde bis zu meiner letzten Stunde!«

Damit hatte Arnljott Gelline den Thingfrieden gebrochen, und die ansässigen Bauern wichen nach allen Seiten auseinander, als er zurück auf den väterlichen Hof ging.

Er öffnete die Tür des Hauses und die des Vorratshauses, und Mutter und Schwester trugen die letzte Mahlzeit auf, die ihm im Elternhause noch gewährt werden durfte. Aber er aß nur wenig.

»Die Freiheit und die Wildnis sind meine rechte Heimat,« sagte er und brach bald auf.

Nun wanderte er immer weiter gen Norden bis in die Täler des Jämtlands, und eines Abends erreichte er einen dunklen endlosen Wald. Es rauschte und dröhnte in den Föhren, und das erfüllte sein Herz mit Freuden. Der Pfad führte zu einer Felswand hin, wo an den übereinandergetürmten Steinblöcken das Moos herabhing. Darunter saßen einige Waldläufer mit ihren Frauen um ein Feuer. Aber diese sahen nicht wie gewöhnliche Weiber aus, sondern wie Waldhexen. Sie zeigten nur sehr ungern den Rücken, der hohl war wie ein vermoderter Baumstamm, und gaben sich alle Mühe, ihren Fuchsschwanz unter ihrem Rock zu verbergen, damit ihn ja niemand sähe. Um die Männer leichter irre zu führen, rollten sie ihre braunen Augen und nickten mit den gelblichen kleinen Gesichtern, wo auf jeder Wange ein purpurroter Fleck brannte. Dazu plauderten und schnatterten sie unaufhörlich, daß es wie in einem Vogelbauer klang und lärmte. Arnljott Gelline gab nicht acht auf sie, er ließ sich ruhig am Feuer nieder und zog einen silbernen Teller aus seiner Tasche. Von diesem aß er; und als er fertig war und eben noch den Teller abwischte, sagte er: »Was gibts Neues, ihr Waldläufer?«

»Nichts, als daß von den Snäsabergen her in den letzten Tagen ein verzweifeltes Weinen herübergedrungen ist,« antworteten sie. »Wir haben deshalb einen Umweg gemacht.«

»Ich will morgen hinaufsteigen und nachsehen,« sagte Arnljott. Dann streckte er sich ebenso stolz und vornehm aufs Moos, wie der reichste Hofbauer sich auf seinen Federpfühl legt.

Das Sehnen der Wildnis

Am nächsten Morgen erstieg Arnljot Gelline den Snäsaberg. Die Luft war klar und still, und ringsum erstreckte sich eine schwarzblaue Bergkette mit ihren weißen Schneestreifen. Die Zwergbirken strömten ihren starken Duft aus, und da und dort glänzten noch Berganemonen zwischen dem Glockenheidekraut, aber allmählich wanderte Arnljot nur noch über kahle Felsen hin. Wohin er sah, nirgends stieg ein Rauch aus einer menschlichen Wohnung auf. Schließlich erreichte er eine Opferstätte aus uralten Zeiten, wo ein von ungezählten Wintern verwitterter Opferstein aufragte, den moosbewachsene Renntierhörner wie dichtes Dorngestrüpp umgaben.

Als Arnljot bei dem Zauberstein anhielt, hörte er Seufzen und verzweifeltes Weinen, das gleichsam aus dem Herzen der Einöde aufzusteigen schien.

Und dann entdeckte er einen kleinen einsamen Lappen, der, das Gesicht in den Händen vergraben, an der Böschung saß.

»Warum weinst du?« fragte Arnljot und stellte den Speer beiseite.

»Sollte ich nicht weinen?« fragte der Lappe und hob das tränenüberströmte Gesicht auf. »Gehöre ich nicht zu dem Volke, das mit Schwertschlägen niemals weder etwas gewann noch etwas verlor. Ich kenne dich, Arnljot Gelline. Du hast deine Kraft, auf die du dich verlassen kannst, aber was habe ich? Sollte ich da nicht weinen?«

Nachdem er dann wieder eine Weile geschluchzt hatte, hob er aufs neue den Kopf und fuhr fort: »Torland drunten im Dorfe schoß mit Pfeilen auf meine Renntiere, wenn sie sich auf seinen Acker verliefen. Torland nahm mir meinen Reichtum. Und dann hörte ich, daß er Ingefried, die reiche Bauerntochter, freien sollte. Da schlich sich der Lappe in der Dämmerung zum Festmahl hin. Niemand sah ihn. Wie ein Schatten kroch er auf dem Boden näher und stieß Torland sein Steinmesser in die Brust. Auf andere Weise konnte er nicht kämpfen. Sollte er da nicht weinen?«

Während er also sprach, schlugen seine Finger auf seine Zaubertrommel, die er auf seinen Knieen hielt.

»Schön ist es, die Erde tanzen zu sehen,« sang er und trommelte dabei immer lauter und wilder wie in Fieberphantasien. »Einstmals waren auch wir stark, wir, die die Geheimnisse der Wildnis erforscht haben. Ach, du Vöglein dort drüben, das über das Gebüsch hinschwebt, komm, komm! Nimm meine Seele mit, nur für eine einzige Stunde! Hörst du, wie der Lappe lockt und bittet? Komm, Vogel, komm, kleiner Sänger, komm, du Leichtbeschwingter!«

Da flog ein Vöglein herbei und setzte sich dem Lappen auf die Finger. Und der Lappe blies ihm seine Seele ein, worauf er selbst in einen ruhigen Schlummer versank. Der Vogel aber stieg mit einem frohen Triller zu den Wolken empor und schwebte weit, weit fort in endlose Ferne.

Arnljot Gelline war sich bewußt gewesen, daß ein weibliches Wesen auf dem Bergpfad hinter ihm herging. Er glaubte, es sei eine Waldhexe, und hatte sich deshalb nicht umgesehen. Jetzt legte die Frau ihren Sack und ihren Stab dicht neben ihm nieder, und da erst erkannte er seine Schwester Ingefried.

»Arnljots Schwester hat von den Waldläufern nichts zu fürchten,« sagte sie. »Sie haben mir den Weg gezeigt, und ich bin zu dir gekommen, für deine Nahrung zu sorgen. Auch ich konnte es drunten unter den Ansässigen nicht mehr aushalten; wir beide haben dasselbe Blut in den Adern. Ich habe gehört, daß der elende Lappe dort Torlands Mörder ist; aber wir wollen lieber gut gegen ihn sein, dann wird er auch gut und kann uns mit dem, was er versteht, Hilfe leisten.«

Bei dem Ton ihrer Stimme erwachte der Lappe; er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Als er Ingefried erkannte, fuhr er heftig zusammen, doch sofort fiel ihm der Traum ein, aus dem er eben erwacht war.

»Der Lappe hat schöne Träume,« sagte er, und in seinen glänzenden Augen war sowohl Freude als Kummer zu lesen, gleich Regen bei Sonnenschein. »Wenn ich schlafe, kann ich sehen, was mehrere Tagereisen von hier vor sich geht. Jetzt eben flog ich über das norwegische Hochgebirge hin und kam dann zu einem stattlichen Königshofe. Der König stand auf dem Söller, er hatte einen hellen Bart, war sehr erhitzt und atmete schwer. Sein Leib war von einem fürchterlichen Umfang, und wenn ich nicht einen Vogelschnabel gehabt hätte, wäre ich wohl in helles Lachen ausgebrochen. Das war König Olof Haraldsson. Er trug gerade so ein rotes Hemd wie du, Arnljot Gelline, und auch solche Rüstung, nur war auf der seinigen ein Kreuz auf dem Schild. Mit den Städtern, die umher standen, sprach er kühn und gebieterisch, gerade wie du. Nachdem ich ihm eine Weile zugehört hatte, wurde ich indes sehr ernsthaft, und mit Furcht gemischte Bewunderung ergriff mich. Arnljot Gelline, gegen ihn bist du nur klein, wie ein Sandkorn gegen den großen Zauberstein hier auf dem Snäsaberg.«

Der Lappe erzählte noch weiter von Olof Haraldsson und führte dann die beiden Geschwister in die nächste Sennhütte. Dort angekommen, schleppte er frisches Moos herbei, und mit der Zeit wurde er ihnen ein treuer Diener und Freund.

Eines Abends standen Arnljot und Ingefried unter der Tür der Hütte.

»Siehst du dort drüben den Felsenspalt?« fragte Ingefried. »Dort sehe ich die Sonne hinter die Erde versinken. Der Lappe bläst seine Seele einem Vogel ein, ich aber stehe hier und wünsche, ich könnte mit der Sonne reisen. Und du, woran denkst du?«

»Am häufigsten an Olof Haraldsson,« antwortete Arnljot. »Die Hofbauern denken an ihre Kornsäcke, aber in der Wildnis wächst alles ins Riesenhafte, und so wandert unsere Sehnsucht von einem schneeigen Berggipfel zum andern, hin zu den Riesen. Und jetzt müssen wir ergründen, was dieser Abend uns Neues bringt,« fügte er hinzu und deutete beunruhigt und ahnungsvoll den Weg hinab.

Zwei Männer tauchten dort auf, die in Wahrheit erbärmlich aussahen, obgleich man wohl erkennen konnte, daß ihre Kleider ursprünglich sehr kostbar gewesen waren. An den Schuhen guckten die Zehen hervor, an den durchlöcherten Pelzen hing das Futter heraus, und dem einen war das Haar an der Schläfe weggerissen. Es waren Botschafter von Olof Haraldsson. Sie kamen, Steuer und Tribut zu erheben, aber die Jämtländer wollten lieber dem Sveakönig Abgaben bezahlen und hatten die Botschafter so übel zugerichtet. Diese baten nun Arnljot Gelline, ihnen den Weg über die Berge in ihre Heimat zu zeigen.

Arnljot schnallte seine langen Schneeschuhe an, denn es lag jetzt tiefer Schnee. Dann stellte er die Botschafter hinter sich auf die Läufe der Schneeschuhe, gebot dem ersten, sich an seinem Gürtel, und dem zweiten, sich in gleicher Weise an seinem Vordermann festzuhalten.

»Arnljot, Arnljot!« rief Ingefried hinter ihm her. Aber er hörte sie nicht mehr, in sausender Fahrt ging es davon.

Blaugraue Wolkenmassen wälzten sich dicht an der Erde hin, es wurde dunkel ringsumher, und man konnte nichts mehr sehen. Doch plötzlich tauchte etwas Helles zwischen den dichtesten Wolken auf, und sie zerstoben in tausend kleine Fetzen. Zugleich stieß Arnljots Speer auf etwas Hartes. Eine verlassene Herberge stand vor ihnen; alle drei Männer gingen hinein und schüttelten sich den Schnee ab. Der Sturm heulte unheimlich um das Balkenwerk, aber die drei schlugen ruhig Feuer und bereiteten sich eine Mahlzeit. Seiner Gewohnheit gemäß zog Arnljot Gelline seinen silbernen Teller heraus; und nachdem er gegessen hatte, rieb er ihn noch blanker als gewöhnlich.

»Hier müssen wir uns trennen,« sagte er. »Ihr könnt von hier aus der Fahrstraße nach Norwegen folgen. Sagt König Olof, niemand trage größere Sehnsucht, ihn zu sehen, als ich. Das Wort eines Waldläufers wird freilich für ihn wenig Wert haben, überbringt ihm deshalb einstweilen meinen silbernen Teller und sagt ihm, das sei mein Gruß!«

Die Schlacht bei Stiklastad 20. Juli 1030

Arnljot Gelline blieb allein auf dem Hochgebirge. Lange nach dem Erlebnis mit den beiden Botschaftern, als er an einem schönen Sommerabend eben einen Wagen plünderte, füllte sich das Tal mit Menschen. Zu seiner Verwunderung sah er ganz vorne eine Schar schwedischer Waldläufer, hinter denen norwegische rote Schilde auftauchten. Einer der Waldläufer kletterte zu ihm herauf, schlug ihm auf die Achsel und sagte:

»Vieler Reisenden Säcke hast du geöffnet, willst du nun nicht auch einmal in einer ehrlichen Schlacht unter Olof Haraldssons Zeichen kämpfen? Er ist hier unter uns. In Svitjod hat er Leute um sich gesammelt, die norwegischen Großbauern, die ihn vertrieben haben, zu schlagen.«

Rasch und ohne Zögern ergriff Arnljot Gelline seinen Speer und zog mit den Waldläufern von dannen.

Als das Heer auf der andern Seite des Gebirgs hinunter gelangt war, lagerte es sich in der Nähe von Stiklastad im Grase und schlief unter den Schilden. Bei Tagesanbruch erwachte Olof Haraldsson und bat seinen Skalden, den Sänger Tormod Kolbrun, ihm etwas zu singen. Tormod setzte sich auf und sang einige Strophen aus dem alten Liede Bjarkamal:

»Der Morgen ist da,
Es krähet der Hahn!
Nicht weck ich zum Wein euch
Noch fröhlichem Zwiegespräch,
Nein, zu hartem Waffengeklirr!«

Bei dem Gesang erwachte das ganze Heer, und zum Dank für sein Lied gab der König Tormod einen goldenen Armring, der eine halbe Mark wog. Hierauf eilte er fort, seine Scharen zu ordnen. Die Skalden stellte er so auf, daß sie den Kampf sehen und besingen konnten. Vor diesen versammelte er die Waldläufer; aber noch fehlte ihm einer, der stark genug gewesen wäre, ganz an der Spitze zu stehen. Da fiel sein Blick auf einen Mann von mächtiger Gestalt, dem die andern alle nur bis an die Schultern reichten. Der Mann trat auf Olof Haraldsson zu und sagte:

»Ich bin Arnljot Gelline. Bisher habe ich mich auf meine eigene Kraft verlassen, aber jetzt will ich auf dich vertrauen, König.«

Als Arnljot Gelline diese Worte gesprochen hatte, fühlte er, daß der Speer in seiner bisher so sicheren Hand plötzlich zu zittern begann.

»Erst ein einziges Mal in meinem Leben bin ich von einer solchen Schwäche befallen worden,« murmelte er. »Das war damals, wo ich das glühende Eisen trug und bei dem letzten Schritt der Zweifel in mir aufstieg.«

Olof Haraldsson ließ nun Arnljot Gelline taufen und stellte ihn dann an die Spitze der Schar. Hinter ihm brach das Heer in das Feldgeschrei aus: »Vorwärts, vorwärts ihr Streiter! Für Christus, das Kreuz und den König!«

Die vordersten hieben mit dem Schwert drein, die nächsten mit dem Spieß, und die hintersten schossen mit Pfeilen in das Gewimmel der Feinde. Gleich bei dem ersten Pfeilregen sank Arnljot Gelline sterbend ins Gras. Ein kleiner Gebirgsvogel kreiste lange über seinem Helm, aber dann mußte er eilig in die Lüfte hinaufstiegen, denn die Pfeile flogen einem Hagelwetter gleich knatternd daher.

Der Kampf tobte wild in dem gelichteten Heere. Der König, der einen Axthieb in den linken Schenkel bekommen hatte, lehnte sich an einen Steinblock und wurde da mit einem Speere erstochen. Als Tormod den König fallen sah, wankte er selbst blutend zu einer Hütte, wo eine heilkundige Frau die Verwundeten verband.

»Wie entsetzlich bleich du bist,« sagte die Frau. »Aber hier habe ich Kräuter und gestoßene Zwiebel zusammengekocht. Wenn du davon etwas verschluckst, kann ich an deinem Atem erkennen, ob du eine tödliche Wunde im Gedärme hast.«

Da riß sich Tormod die Kleider vom Leibe und rief: »Ich habe keine Krankheit, die dein Brei heilen könnte! Schneide mir lieber die Wunde hier in der Brust auf und reiche mir eine Zange, damit ich mir selbst die abgebrochene Pfeilspitze herausziehen kann. Meinen goldenen Armring erhältst du zum Lohn; der ist eine große Kostbarkeit, denn erst kürzlich habe ich ihn von Olof Haraldsson erhalten.«

Die Frau holte die Zange herbei, und als Tormod die Pfeilspitze herauszog, hingen rote und weiße Fetzen vom Herzen daran. Der Skalde betrachtete sie, und ehe er sterbend zusammenbrach, sagte er noch: »Der König muß uns gut genährt haben, da sogar mein Herz in Fett gebettet ist.«

Der Leichnam des Königs wurde dann ganz im Geheimen fortgebracht und schließlich in einem Sandhügel vergraben. Erst zwölf Monate und fünf Nächte später wurde er wieder herausgeholt. Da hatte sich der Leichnam im Sande so gut gehalten, daß die Wangen noch ihre Farbe hatten und das Haar und die Nägel gewachsen waren. Man schnitt ihm das Haar ab und legte es in eine Schale mit geweihtem Räucherwerk. Aber siehe da, als das Räucherwerk verbrannt war, lag das Haar noch unverkohlt in der Schale! Nun erklärte das Volk, Olof Haraldsson sei in Wahrheit ein Heiliger. Da wurde sein Leichnam in kostbare Tücher gewickelt und unter dem Hochaltar in Nidaros beigesetzt. Mit seinem Bart und seinem roten Hemde sah er dem Bild des gestürzten ehemaligen Gottes Thor ähnlich, und er wurde später zum Schutzheiligen von Norwegen erklärt und hoch verehrt.

Aber droben auf den Bergen lebte Ingefried in ihrer Hütte, und der Lappe trug treulich Wasser und Brennholz für sie herbei. Sie merkte wohl, daß er stiller und gedrückter umherging als zuvor. So verging ein ganzes Jahr; da fragte Ingefried ihn schließlich, was ihm fehle, und nun berichtete er ihr von der Schlacht bei Stiklastad.

»Meine Seele flog im Federkleide unter dem Pfeilregen dort umher,« flüsterte er mit einem traurigen Lächeln. »Zum erstenmal sah ich da Arnljot Gelline erblassen und zittern. Er glaubte nicht mehr an die Kraft seiner eigenen Arme, sondern an Olof Haraldsson, und da wußte ich, daß seine Stunde gekommen war. Als die Bauern zum zweiten Male die Bogen spannten, war er schon gefallen.«

Ingefried saß unter der Tür. Sie hatte die Hände um die Kniee geschlungen, und ihr Blick flog weit über die endlose Bergkette hin, wo nie ein Alpenhorn erklang.

»O, ihr Männer, die ihr da unten in den Ortschaften oder in den Wäldern wohnt,« sagte sie, »ihr Eingesessene, oder ihr Bewohner der Wildnis. Solange ihr auf eure eigene Kraft vertraut, fahrt ihr am besten.«


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