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Nachdem Imgjor ihre Wohnung betreten hatte, schritt sie mit einer gewissen Hast an den Briefkasten. Sie erwartete, einen Brief von ihrer Pflegemutter oder von Lucile zu finden. Sie hoffte es, während sie noch bei ihrem Fortgange überlegt hatte, wie sie sich den Versuchen der Ihrigen, ihren Sinn umzustimmen, zu entziehen vermögen werde.

Sie fand auch ein Schreiben und zwei Karten, aber sie waren nicht von den Lavards geschrieben.

Die eine Karte war von dem Marquis de Curbière, die andere von dem Hospitalarzt Doktor Kropp. Das Schreiben aber trug die ihr bekannte Handschrift des Direktors des Krankenhauses, Doktor Stede, der seinem lebhaften Bedauern darüber Ausdruck gab, daß Imgjor nicht mehr in das Hospital zurückkehren wolle. Er teilte ihr überdies mit, daß Doktor Kropp von dort ebenfalls seinen Abschied genommen und sie besuchen werde, um ihr eine Bitte vorzutragen.

Einen Augenblick vertiefte sich Imgjor nach Lesen dieser Zeilen in ein stilles Nachdenken, dann griff sie nochmals nach den beiden Karten.

Und da fand sie beim Umwenden auf der Rückseite der vom Doktor Kropp abgelegten die mit Bleistift geschriebenen Worte:

»Bitte, Ihnen morgen vormittag gegen zwölf Uhr wieder aufwarten zu dürfen –« und auf derjenigen des Marquis de Curbière die Notiz:

»Bedaure außerordentlich, Sie nicht getroffen zu haben! Wann darf ich Sie sprechen?«

Da in diesem Augenblick das neue, von Imgjor statt der diebischen Dirne angenommene Mädchen, das Stiefkind der Witwe Holm, Gebine Holm, ins Zimmer trat, und nach ihren Befehlen fragte, wurden Imgjors Gedanken von ihren eigenen Angelegenheiten abgelenkt.

Sie hatte dem Kinde versprochen, für sein Fortkommen zu sorgen, und besaß nun selbst nichts!

Das beschäftigte Imgjor so sehr, daß sie erst Ruhe fand, als sie sich vorstellte, sie könne das junge Ding in Rankholm unterbringen.

Und dadurch wieder in ihren Vorstellungen gehoben, richtete sie einige bisher verschobene Fragen an Gebine.

»War jemand da, während ich fort war, Kind?« warf sie hin.

»Ja, gnädige Komtesse! Ein Mann wollte Sie sprechen –«

»Ein Mann oder ein Herr? – Wie sah er aus?«

»Es war – glaube ich – ein Matrose. – Ich fürchtete mich –«

Imgjor schrak heftig zusammen. Sie dachte an den Ueberfall, und unwillkürlich brachte sie den Besuch mit diesem Geschehnis in Verbindung. Als Imgjor in jener Nacht endlich die Kraft gewonnen, zu schreien, waren zwei zufällig nicht weit vom Parkeingang befindliche Nachtwächter herbeigeeilt und hatten den Strolch verscheucht. Er hatte ihr aber noch zugerufen, daß er sie von neuem zu treffen wissen werde.

»Wie sah er denn aus, Gebine? War's ein großer, starker dunkler Mann?« forschte Imgjor stark erregt.

Gebine nickte.

»Ja! Er hatte ein rotes Tuch um den Hals.«

Imgjor fuhr zusammen. So war's also derselbe! Ein rotbraunes Tuch hatte jener in der Nacht getragen.

»Und was sagtest du, Gebine?«

»Ich sagte, Komtesse wären verreist. Sie kämen heut' Abend mit einem Herrn zurück, mit einem Rittmeister.«

»Weshalb sagtest du das? Wie kamst du darauf?« Imgjor sprach's verwundert.

Das Kind richtete einen ängstlichen Blick auf ihre Gebieterin. Sie antwortete nicht.

»Nun? Sprich! Weshalb sprachst du von einem Rittmeister?«

»Ja – ich – hatte so schreckliche Angst – Er guckte mich so sonderbar an – und da, da dachte ich, wenn ich das sagte, dann würde er nicht wiederkommen, würde er Komtesse nicht belästigen.«

Imgjor sagte zunächst nichts. Sie überlegte, ob sie Gebine schelten oder ihr für ihre Fürsorge ein Lob spenden sollte. Jedenfalls hatte sie es gut gemeint, hatte sie sehr fürsorglich gehandelt.

Endlich glaubte sie, das Rechte gefunden zu haben. Sie sprach: »In diesem Fall war deine Unwahrheit nützlich, Gebine. In der Not mag eine solche einmal erlaubt sein. Sonst aber mußt du dich strengster Wahrheit befleißigen. Nichts ist so verabscheuenswert wie die Lüge! Aus ihr entspringen alle anderen Laster. – Und noch eine Frage: Was äußerte der Mann, als du dies sagtest?«

»Er fragte, wie lange der Rittmeister bliebe, und wer er wäre.«

»Und du? du? Was – entgegnetest du, Gebine?«

»Ich sagte – ich sagte – daß es Ihr Bräutigam wäre –«

»Aber das war ja abermals eine Lüge!« stieß Imgjor nun zornig heraus.

»Was sind das alles für Erfindungen – für Phantasien! – Ich bin außer mir, Gebine! Das macht mich sehr betrübt. Hast du mich auch schon belogen? Oft? – Heraus mit der Sprache! Du sagtest gestern, ich hätte dir nur eine halbe Krone gegeben, als du vom Krämer wiederkamst. Ich hätte mich geirrt. Sprich! Und ich warne dich, etwas anderes zu sagen, als die Wahrheit! War's doch eine ganze Krone? Hast du die andere Hälfte in die Tasche gesteckt?«

»O nein – nein – ganz gewiß nicht, Komtesse! Ich habe der Komtesse immer nur die Wahrheit gesagt. – Der Kaufmann schickte mich gleich wieder weg. Ich hatte das Geld in Papier gewickelt – ich hatte es gar nicht nachgesehen –«

»Kann ich dir glauben, Gebine? Sieh', Kind, wenn du mich betrogen hast – ich werde mich erkundigen – mußt du gleich zu deiner Stiefmutter zurück. Und wenn du es später thust, ziehe ich meine Hand unwiderruflich wieder von dir zurück.«

Und zurücksinkend, weil von all den Eindrücken überwältigt, flüsterte Imgjor: »O welche Einblicke in das Innere der Menschen, – täglich, stündlich! Wo sind die wahrhaft Reinen, Guten?« Und dann rief sie das Kind heran und sprach:

»Gewiß, ein Beispiel, wie du es im Hause hattest, Gebine, macht schlecht und entschuldigt dich eher! Aber da dir das Unterscheidungsvermögen noch nicht abhanden gekommen ist, so sage ich dir und wisse und glaube es: Nur aus dem Guten vermag Gutes zu ersprießen! Eine Weile mag's gehen, aber es kommt die Zeit, wo du dafür schwer büßen mußt, wo dich tiefe Reue ergreift, wo du alles hergeben möchtest, um Geschehenes ungeschehen zu machen! So – und nun gehe zu Bett! Weine nicht mehr! Nein, nein, ich bin dir nicht böse.«

Und Gebine ging. Imgjor Lavards Gedanken aber wanderten, während sie noch dasaß, nach Rankholm, und ihr war's abermals jetzt, als ob dort ein Eden, ein unvergleichliches Paradies sei – in der großen Welt aber – eine Hölle –



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