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Die kommenden Tage verflossen den Rankholmer Schloßbewohnern unter allerlei Vorbereitungen zu der Kopenhagener Reise. Auch erledigte der Graf dringliche Gutsgeschäfte mit seinen Beamten und wies unter anderem auch Unterstützungen für die von der Epidemie noch immer gleich hart betroffene, ärmere Dorfbevölkerung an. Gegenwärtig gab es kaum ein Haus mehr in Kneedeholm, in dem sich nicht Schwerkranke befanden oder Tote täglich hinausgetragen wurden. Der Pastor kam Tag und Nacht kaum mehr zur Ruhe, da er Sterbende zu trösten, geistliche Handlungen vorzunehmen und nach den Bedrängten zu sehen hatte.

Und nicht minder war Doktor Prestö beschäftigt. Wenn er einen der Betroffenen eben verlassen hatte, rief ihn die Pflicht schon wieder zu gleichem Zwecke ins Nebenhaus, und so fort. Ueberall Sterbende, Schwerkranke oder der Genesung Entgegengehende, die der Aufsicht bedurften.

Aber jegliches, was er that, geschah in einer kurzen, schroffen, gefühllosen Art. So kam es nicht selten vor, daß er die Boten der Erkrankten mit dem barschen Bescheide abfertigte, sie müßten warten, er sei auch nur ein Mensch, der einen Kopf und zwei Arme habe.

Ein engeres Zusammenwirken zwischen ihm und seinem ausgesprochenen Gegner, dem Pastor Nielsen, fand nicht statt. Sie bewegten bloß das Haupt, wenn sie sich begegneten, und bedienten sich der Zwischenpersonen, wenn sie sich etwas mitteilen mußten.

Unter den geizigen und körperlichen Anspannungen war Prestö zu einer Förderung seiner Verlobungspläne mit Imgjor, die eine Reise nach Kopenhagen erforderlich machten, gar nicht gelangt, und wenn schon dieser Umstand seine Laune zu der allerschlechtesten gemacht hatte, so war seine Stimmung durch die Vorfälle der letzten Tage seine geradezu feindselige geworden.

Er behandelte in seiner Verstimmung die Kranken sehr rücksichtslos, sie mußten büßen, worunter er litt.

Plötzlich war alles über den Haufen geworfen. Die Mitteilungen, die ihm von Imgjor geworden, hatten einen geradezu niederschmetternden Eindruck auf ihn gemacht. Imgjor war die Tochter irgend eines Abenteurers und keine Lavard; sie war bedroht mit dem Verlust alles dessen, was gerade eine bestrickende Wirkung auf ihn ausgeübt hatte.

So lange Imgjor der Glanz ihres ungeheuren Reichtums umgab, war's dem Manne nicht schwer geworden, sein Gewissen zu beschwichtigen. Um solchen Lohn glaubte er sich berechtigt, jener, die sein Wort hatte, einen endgiltigen Absagebrief zu schreiben.

Um der hohen Ziele willen, die Imgjor im Auge hatte, heiligte der Zweck die Mittel!

Nun aber stoppte er plötzlich wie ein vor ein Hindernis gestellter Reiter. Alle bisherigen Beschwichtigungen verfingen nicht mehr, er sann vielmehr, wie er sich, wenn Graf Lavard seine Drohungen wirklich wahr machte, wieder von Imgjor zurückziehen könne.

Selbst die Schönheit Imgjors, die ihn gereizt und zeitweilig seine Sinne bereits zur höchsten Leidenschaftlichkeit angefacht hatten, sank nunmehr zu einem Nichts herab.

Ihren Enthusiasmus für die große Sache, der er nur aus Selbstsuchtsgründen und rachsüchtigen Trieben Vorschub geleistet, die er in ihrem Sinne als Thorheit bespöttelt hatte, belegte er nunmehr mit der Bezeichnung einer Verrücktheit. Der Gedanke, sie ohne materiellen Einsatz von ihrer Seite zu heiraten, gar ihren Schwärmereien Gefolgschaft zu leisten, statt zu raffen, durch Geld und dadurch gewonnene Macht zu herrschen, schuf eine solche Auflehnung in ihm, daß er bereits überlegt hatte, ob er nicht ohne alle Versuche, den Grafen Lavard umzustimmen, der Sache ein Ende machen und Imgjor erklären solle, er könne nun doch die von ihr geforderten Beweise nicht beibringen.

Freilich bedurfte es jetzt, da sie vor der Enterbung stand, eines klugen Verhaltens. Vorläufig mußte er sich geben, wie bisher, mußte er in Imgjor den Eindruck erhalten, daß seine Gesinnungen in keiner Weise erschüttert seien. Ungleich regten sich neben diesen Erwägungen auch wieder Gefühle eines ingrimmigen Verdrusses, so plötzlich um alle glänzenden Hoffnungen betrogen werden zu sollen. Eine durch den Eintritt wiedergekehrter, grenzenloser Habsucht hervorgerufene Unruhe bemächtigte sich des Mannes, die ihn nach Mitteln suchen ließ, wie er dennoch zum Ziele zu gelangen vermöge.

Unter solchem Schwanken fiel ihm sein Gönner, Graf Knut ein. Vielleicht konnte es möglich sein, wenigstens einen Teil des Vermögens, sofern dessen Höhe der Mühe eines Kampfes wert sein würde, dem Grafen abzuringen.

Und da Prestö diese Pläne schließlich zum Entschluß erhob, so zögerte er auch keinen Augenblick mit deren Ausführung.

Einerseits richtete er ein Schreiben an Imgjor, in dem er sie um eine abermalige Unterredung ersuchte, und andererseits bat er den Grafen Knut in einem eilig beförderten Briefe, ihm eine solche nachmittags gewähren zu wollen.

Ohne Antwort zu empfangen, nähme er an, daß ihm der Graf diese Vergünstigung gewähren wolle.

Und von dem Eingang dieses Schreibens erzählte Graf Knut, des Grafen und der Gräfin Meinung einholend, in Gegenwart von Axel und Lucile nach dem zweiten Frühstück, und alle Teile wurden darüber einig, daß der Graf diesem Ersuchen Folge leiten müsse. Man wolle hören, was Prestö zu sagen habe.

Alles, was einer Klärung der Angelegenheit dienlich sei, dürfe nicht von der Hand gewiesen werden. Aber während noch dies stetig wieder in den Vordergrund tretende, die Gemüter beschäftigende Thema behandelt ward, regte sich ein neuer Gedanke in Axel, und ihn zur Ausführung zu bringen, dadurch seinen geheimen Plänen Vorschub zu leisten, erfüllte ihn solchergestalt, daß er das Herannahen der nächsten Stunden kaum erwarten konnte.

Sobald sich die Gelegenheit bot, begab er sich in seine Gemächer und dann später, nachdem die dritte Stunde geschlagen, vom Arbeitshofe aus ins Dorf hinab.

Da Graf Dehn als Kind die drunten wütende Krankheit bereits überstanden hatte, beschlichen ihn keine Bedenken. Zudem wollte er ein Haus betreten, an das die Epidemie sich wenigstens bisher nicht herangewagt hatte. Er wollte versuchen, von Prestös Wirtschafterin den Namen der Braut ihres Herrn in Erfahrung zu bringen.

Es war nicht undenkbar, daß ihr, die seine Briefe besorgte, dieser und der Aufenthaltsort der Dame bekannt waren.

Als Graf Dehn durchs Dorf schritt, fiel ihm auf, wie menschenleer es war. Wie ausgestorben schien's. Nirgends ein rauchender Schornstein, nirgends jemand auf der Dorfstraße oder auf den Höfen.

Nur einmal bemerkte er ein tiefgebeugtes, altes Mütterchen, das aus einem Bauernhause heraustrat und ein Gefäß an der Pumpe ausspülte. Und nicht einmal emporschauend, schritt sie sogleich und in einer Art zurück, die ihr beschäftigtes Gemüt verriet.

Und noch ein menschliches Wesen, der Postbote, kam ihm später und gerade dann entgegen, als er die Wohnung des Doktors erreicht hatte.

Den ehrerbietigen Gruß des Mannes erwidernd, entfuhr Axel unwillkürlich die Frage nach Briefen fürs Schloß. Er empfing auch solche für die Herrschaften, sah überdies Posteingänge für Prestö in der Hand des Angestellten und trat, nachdem er solche ebenfalls abzugeben sich erboten, in Prestös Haus ein.

Da war alles still. Er suchte sich bemerkbar zu machen, und als dies erfolglos blieb, wandte er sich dem hinteren Ausgang in der Hoffnung zu, die Alte entweder auf dem Hofe oder im Garten zu finden. Und da er dadurch verhindert wurde, sich weiter ins Innere der Wohnung zu begeben, steckte er, mechanisch handelnd, vorläufig die Postsachen in seine Rocktasche.

Und dann erspähte er hinten im Garten die alte Frau, welche beim Kartoffelaufnehmen beschäftigt war, und näherte sich ihr.

Nachdem sie sich bei seinem Anblick aus ihrer gebückten Stellung erhoben, die erdigen Hände an der Arbeitsschürze abgewischt und ihn freundlich begrüßt hatte, sagte Graf Dehn, gleich ohne Einleitung aufs Ziel steuernd:

»Ich komme mit einer Frage, gute Frau Madsen: Können Sie mir vielleicht sagen, wie des Herrn Doktor Prestös Braut heißt? Sie haben gewiß bisweilen Briefe nach dem Postkasten am Wirtshaus unten im Dorf getragen und kennen ihren Namen –«

»Seine Braut? Ja, das weiß ich nicht. Aber er schreibt allerdings ab und zu an ein Fräulein. Sie heißt – sie heißt – Ingeborg Jensen.«

»Hm – Danke! Und die Adresse? Es handelt sich um eine kleine Ueberraschung vom Schloß, deshalb frage ich bloß –«

»Adresse? Adresse? Ja, da kann ich mich allerdings nicht darauf besinnen. Aber sie wohnt bei einen Etatsrat Estrup in Kopenhagen. Das steht mit drauf.«

»So, so, schön! Das genügt, meine gute Frau Madsen. Und sagen Sie dem Doktor gar nicht, daß ich gefragt habe, daß ich hier war! Es ist wegen der Ueberraschung. Sie verstehen?«

Und die Alte nickte, und nachdem ihr Axel ein Geldstück in die Hand gedrückt und sie noch einiges über den Gesundheitszustand im Dorf gefragt hatte, nahm er Abschied.

Als er die Straße hinabschritt, klopfte ihm ungestüm das Herz, und als er wieder in sein Zimmer gelangt war, schrieb er zur Sicherheit sogleich auf, was er erkundet hatte. Bei dieser Beschäftigung kam ihm auch die Erinnerung an die Briefschaften, die er dem Postboten abgenommen, und dabei zugleich, daß er nun doch vergessen hatte, die für Prestö bestimmten Eingänge an die Alte abzuliefern.

Er zog eilig alles aus der Tasche, legte die Briefschaften für Lavards für sich und schob das mit einem Bindfaden verknüpfte Bündel Zeitungen für Prestö bei Seite. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, daß auch Briefe vorhanden waren, und als Graf Dehn solche zur besseren Bergung berührte, sah er, daß auf der Rückseite der Name Ingeborg Jensen als Absenderin vermerkt war.

Und da zitterten des Mannes Hände, und seine Brust hob sich in heftiger Erregung.

Wie nun, wenn er sie um des Zweckes willen öffnete und ihren Inhalt las?

Aber ein Briefgeheimnis verletzen, dadurch abermals Imgjor einen Anlaß geben, ihn einer unkavaliermäßigen Handlung zu zeihen?

Und doch war ihm durch diesen Zufall das Mittel in die Hand gegeben, mit einem Schlage völlige Klarheit in die Verhältnisse zu bringen.

Axel hatte die Abrede getroffen, mit Lucile zwischen vier und sechs Uhr eine Spazierfahrt nach einem der südlich gelegenen Vorwerke zu unternehmen.

Er sah nach der Uhr. Die Zeit war gekommen. Er mußte sich hinaufbegeben.

Noch in solchem inneren Zwiespalt befangen, begab er sich, vorher die Briefe in seiner Brusttasche bergend, zu Lucile, bestieg mit ihr das beide bereits erwartende Gefährt und kutschierte, es selbst lenkend, aus dem Schloßhof hinaus.

Und als sie dann jenen Weg erreicht hatten, den Axel damals bei seiner Ankunft beschritten, trat plötzlich Imgjor aus dem Hause desselben Alten heraus, der Axel an jenem Mittag das Gepäck getragen hatte. Ein kalter Blick traf beide, als sie sie freundlich vom Wagen herab grüßten.

Nach dem Ball hatte sich Imgjor nicht mehr unten sehen lassen. Sie nahm die Mahlzeiten in ihrem Zimmer ein, sie war gegenwärtig mit einer im Gewahrsam befindlichen, ihres Schicksals wartenden Persönlichkeit zu vergleichen.

Auch an jenem Abend war sie, zum Verdruß all' der jungen Herren, die sie wie Planeten umkreisten und um ihre Gunst zu werben suchten, nicht wieder zum Vorschein gekommen.

»Wenn ich mir diese ganze Angelegenheit überdenke,« hub Lucile an, »will's mir nicht wie Wirklichkeit, sondern wie ein Roman erscheinen. Meine Schwester ist nicht meiner Mutter Kind! Mein Vater führt die Entlarvung ihrer Geburt herbei! Ich sehe die Möglichkeit, Imgjor wirklich zu verlieren, sie hinausgehen zu sehen in die Welt als Predigerin des Umsturzes, zugleich als Frau eines Prestö, eines rachsüchtigen Fanatikers, eines Unwürdigen! Heute zweifeln Sie doch auch nicht mehr daran, daß der Mensch ein solcher ist, Graf Dehn?«

Zunächst wich Axel Luciles Fragen noch aus. Er wünschte einen anderen, ruhigeren Ort zu erreichen, um Lucile Mitteilungen zu machen. Erst als sie das Vorwerk erreicht hatten und sie hier in einen altmodisch bestellten, hinter dem Wirtschaftshaus befindlichen Garten traten, sagte er nach schicklicher Einleitung:

»Ich möchte Ihnen etwas sagen, Komtesse! Ich möchte Sie bitten, mir zu raten –«

Und dann eine von Ulmen eingefaßte Höhe besteigend und Lucile zum Niedersitzen auf einer hier befindlichen Bank auffordernd, berichtete er ihr, nachtragend, nicht nur von dem Gespräch, das zwischen ihm und Imgjor am Ballabend stattgefunden hatte, sondern auch von dem, was heute im Dorf geschehen war.

Seinem Vortrage hörte Lucile mit größter Spannung zu, und währenddessen verrieten ihre Mienen nichts anderes, als ein sachliches Interesse.

Als Graf Dehn aber die Frage aufwarf, ob es zur möglichen Wiedergewinnung und Umkehr Imgjors nicht Pflicht sei, den Inhalt der Briefe zu untersuchen, schüttelte sie den Kopf mit einer Miene, in der ausgedrückt war, daß sie den bloßen Gedanken schon nicht begreifen könne.

Aber noch etwas anderes kam in einem deutlich erregten, Luciles sonstigem ausgeglichenem Wesen nicht entsprechendem Tone zum Vorschein.

»Sind Sie denn noch immer nicht kuriert, Graf Dehn? Ich sollte denken, daß Ihnen nach solchen Erklärungen doch der Geschmack vergehen und – pardon – Ihr Selbstgefühl Sie zurückhalten sollte, um meine Schwester zu werben! Sie wissen, wie ich über Imgjor, die ich auch ferner als mir zugehörig ansehe, denke. Mein Urteil über sie hat sich nicht verändert und kann sich nicht ändern, aber daß Sie beide nach all' diesen Vorgängen nicht für einander passen, daß Sie ebenso unglücklich werden würden, wie sie es mit Prestö sicher wird, erscheint mir ganz zweifellos.«

Graf Dehn wurde durch diese Sprache sehr betroffen, so betroffen, daß er nicht einmal zu einem ausgleichenden, seine Empfindungen klarstellenden Gegenwort gelangte.

Was er sich bei früherer Gelegenheit wieder aus dem Sinn geschlagen, war in ihm diesmal zur Gewißheit geworden: Ein eifersüchtiges Interesse für seine Person hatte Lucile sprechen lassen! Aber er sagte sich auch, daß er eine große Thorheit begangen habe, sie abermals in seine Pläne einzuweihen, ja, daß er, da es geschehen, fortan auf Rankholm – ohne Luciles Freundschaft – einen unhaltbaren Stand haben werde.

Unter solchen Gedanken suchte Graf Dehn vergeblich nach einem Ausgleich.

Seiner Neigung und seinen Entschlüssen untreu zu werden, weil ein anderes weibliches Wesen ihn deshalb verurteilte, konnte nicht einmal Gegenstand seiner Ueberlegung sein.

Freilich hatte sich auch inzwischen wieder in Lucile eine Wandlung vollzogen.

Sie, die Stolze, die ihre Hand nur nach einer Fürstenkrone hatte ausstrecken wollen, bereute, sich so vergessen, sich so vor ihm bloßgestellt zu haben. Sie mußte deshalb darauf bedacht sein, ihm so rasch wie möglich die Eindrücke zu nehmen, die sie aus ihrer von ihrem Herzen gedrängten Unvorsicht in ihm hervorgerufen hatte. Niemals sollte er ein Recht haben, zu glauben oder gar zu behaupten, daß sie sich ihm genähert, durch ihre Haltung um ihn geworben habe. Mit diesem Augenblick, den er nicht benutzt hatte, ihr wenigstens einen Brosamen zu gewähren, erstickte sie mit ganzer Kraft ein für allemal ihre Gefühle für ihn, zwang sie sich, ihrer Natur aber auch insofern zu gebieten, als sie ungerechte oder gar feindliche Gesinnungen gegen den Mann, der sie verschmäht hatte, nicht aufkommen lassen wollte.

Infolgedessen sagte sie, sich zu äußerster Sachlichkeit auch im Ton zwingend:

»Mißverstehen Sie mich nicht, Graf Dehn! Wir würden an sich alle sehr glücklich sein, wenn Sie uns durch eine Verbindung mit Imgjor so nahe wie möglich rückten, wenn unseren bereits vorhandenen, warmen Beziehungen noch dieser Stempel aufgedrückt würde. Ich habe Sie nur in ihrem Interesse warnen wollen, nicht einem Phantom nachzujagen. Wenn Imgjor Ihnen dennoch ein Jawort geben würde, Sie vor schweren Enttäuschungen zu behüten. Ich will trotz meiner Ansichten, wenn Sie es wünschen, dennoch Ihre Verbündete sein. Nur stehen Sie davon ab, in solcher Weise den Knoten lösen zu wollen! Das, eben das würde eine Imgjor mit ihrem sein ausgeprägten Gerechtigkeitssinn Ihnen nie verzeihen. Es ziert Sie nicht. Nur einen Weg gäbe es – und daß wir ihn beschritten haben, müßte ein unverbrüchliches Geheimnis zwischen uns bleiben. Wir könnten Imgjor die Briefe zustellen. Sie mag dann thun, was ihr gutdünkt.«

Durch diese Worte wurde Graf Dehnaufs angenehmste berührt. Während er sich schon der kummervollen Befürchtung hingegeben hatte, daß sie ihm seine Zurückhaltung mit Feindseligkeit lohnen werde, baute sie Brücken zu ihm, die von neuem von ihrer Klugheit, ihrem Takt, ihrer Erziehung und ihrer vornehmen Gesinnung Zeugnis ablegten.

Aber deshalb ward er auch gedrängt, nichts Unklares mehr zwischen ihnen bestehen zu lassen, auch seinerseits zu festen, guten Freundschaftsbeziehungen durch offene Bekenntnisse beizutragen.

»Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen, Komtesse,« hub er an.

»Und gestatten Sie, daß ich auf alles, was Sie berührt haben, eine freimütige Antwort erteile. Unter normalen Verhältnissen würde mir wahrlich niemals auch nur der Gedanke kommen, ein Schriftgeheimnis zu verletzen. Ich betrachte es, gleich Ihnen, als ein Vergehen. Aber wir dürfen, wo es sich um die Wohlfahrt eines uns nahegehenden Menschen handelt, um ein Wesen, daß wir in dem Sinne lieben, daß wir unser eigenes Leben ihm opfern würden, Anschauungen und Bedenken, die sich uns sonst durch unsere Grundsätze aufdrängen, nicht aufkommen lassen. Wie im Kriege niemand die äußerste List verwerflich finden wird, um den Feind zu bezwingen, so giebt's Lebensverhältnisse, wo Gewohnheitsanschauungen zurücktreten müssen.

Ein Mann wird ein junges Mädchen nicht plötzlich umfangen und an sich pressen. Aber wenn es ins Wasser stürzt und die Fluten über ihm zusammenschlagen, hat der Retter das Recht zu einer solchen Berührung.

Also die Umstände entscheiden über die Handlungen. Die Dinge sind eben das, wozu jene sie machen und was wir durch unsere Auffassungen in sie hineinlegen.

Ich sage das alles, weil ich gerade von Ihnen – die meinem Herzen nach Imgjor am nächsten unter den Frauen auf der Welt steht – verzeihen Sie mir diese offene Sprache! – nicht falsch beurteilt werden will.

Und dann noch eins: Mich treiben mein Mitgefühl und meine Pflicht. Sie stehen mir über der Sicherheit, dadurch gerade alles, was ich wünsche, begraben zu müssen.

Mein Herz zittert schon, wenn ich denke, daß dieses schöne, edle, nur falsch beratene Mädchen unglücklich werden, daß sie einst weinen und schluchzen, daß ihre Seele in Nöten liegen könnte, daß ihr wirklich die fürchterliche Enttäuschung würde, die ich fürchte. Ein Mensch, wie Prestö, wird sein Weib, wenn es sich ihm nicht willenlos unterordnet, knechten, gar mißhandeln! Ich stelle mir vor, daß er solches thun könnte, und mein Inneres schwillt unruhvoll auf in grenzenloser Sorge und Mitleid um sie. Ich kann's nicht ändern. Ich liebe sie mit heißer Zärtlichkeit, und eben diese meine Liebe läßt mich handeln. Ich danke Ihnen im übrigen für Ihre Zustimmung. Vielleicht können wir die Briefe in ein Kouvert stecken, es mit verstellter Hand überschreiben und Imgjor zustellen.«

Aber Lucile bewegte bei diesem Vorschlag die Schultern und zeigte eine zweifelnde Miene. Er gefiel ihr nicht.

»Nein, ich möchte anders raten, lieber Graf,« hub sie an. »Was Sie vorschlagen, kann einen Verdacht auf Personen lenken, die gänzlich unschuldig sind. Das Verfahren kann auch dem Postboten Unannehmlichkeiten bereiten. Ich meine so: Ich gehe zu meiner Schwester, sage ihr, daß Briefe für Prestö mit in unsere Post geraten seien, und überlasse es ihr, durch Oeffnen ihr Schicksal zu entscheiden oder sich zu bescheiden. Freilich ist auch das nicht ganz der Wahrheit entsprechend, aber wir handeln so am ehrlichsten.«

»Ja, so ist es gut, so ist's noch besser, Komtesse! Auch dafür danke ich Ihnen!« stieß Graf Dehn belebt und einen Blick ehrerbietiger Bewunderung auf das junge Mädchen richtend, heraus.

»Immer entscheiden Frauen richtig!«

Ungleich beugte sich Graf Dehn auf Luciles Hand herab und drückte einen Kuß darauf. Und Lucile schoß, obschon sie dagegen kämpfte, ein Blutstrom in die Wangen, und sie zitterte heftig.

Sie liebte den Mann, und sie litt, weil er sie verschmähte, schwere Qualen.



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