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Der Rest der Woche und die Hälfte der folgenden verliefen Graf Axel sehr rasch, ja, die Tage flogen förmlich dahin. Bald nahm ihn die Gräfin gefangen, indem sie mit ihm in langen Gesprächen auf weitausgedehnten Spaziergängen philosophierte oder ihn zu einer Partie Schach heranzog. Zu anderer Zeit mußte er dem Grafen in seine mit vielen interessanten Dingen angefüllten Gemächer folgen oder Wagen und Reitausflüge mit ihm und dem Grafen Knut unternehmen. Dazwischen lagen die Mahlzeiten mit ihren Leckerbissen, Weinen und anregenden Gesprächen.

Graf Knut – ein früherer dänischer Reiteroberst – besaß im Dorf, abseits, ein höchst malerisch belegenes Herrenhaus mit Garten und Park, das er nebst einem nicht unbedeutenden Kapital von einer verstorbenen Tante geerbt hatte.

Er führte ein sorgenfreies, äußerst behagliches Leben und gehörte zu jenen Menschen, die schon durch ihre bloße Anwesenheit eine angenehme Atmosphäre um sich verbreiten. Er war ein sehr konzilianter, maßvoll veranlagter Mann, der in allen die Menschheit beschäftigenden Fragen jederzeit einen vermittelnden Standpunkt einnahm und zudem stets aufgelegt war, sich an den Abwechslungen, die ihm dargeboten wurden, zu beteiligen.

Nicht nur das zu der ungeheuren Herrschaft gehörende Gebiet: die Vorwerke, die Fischteiche, die Waldungen und die Förstereien wurden während dieser Woche durchmessen und in Augenschein genommen, sondern auch das eigentliche Gut mit all' seinen Einzelheiten und das zu dessen Füßen hingelagerte Kneedeholm.

Dem Prediger, dem Ortsvorsteher und Apotheker, aber auch, aus Gründen kluger Ueberlegung, dem Doktor Prestö, stattete Axel Besuche ab, und wenn der Abend kam, wurde geplaudert, musiziert, etwas vorgelesen oder eine Partie gemacht.

An all' diesem nahm Imgjor garnicht teil oder sie gab nur die Zuhörerin ab. Entweder hielt sie sich für sich auf ihrem Zimmer auf oder sie durchschweifte, allein oder von einem Reitknecht gefolgt, zu Pferde die Umgegend. Auch machte sie viele Spaziergänge ins Dorf, besuchte hier die Bauern und fühlte sich unter ihnen offenbar am glücklichsten.

Und daß sie sich so absonderte, ward von ihrer Umgebung als so selbstverständlich angesehen, daß sie auch jetzt bei des Grafen Anwesenheit zu einer Aenderung ihres Verhaltens garnicht angefordert wurde.

Der Graf schien auf demselben Standpunkt wie seine Gemahlin zu stehen.

Eine Annäherung zwischen ihr und Axel mußte sich nach und nach ergeben. Jeder Zwang war von Uebel.

Am Freitag der folgenden Woche traf endlich Lucile ein.

Alle fuhren ihr in einem mit zwei schwarzen und zwei weißen Rennern bespannten, offenen Gefährt bis zur Landstraße entgegen. Sie kam mit der Post, ebenso wie Graf Dehn; sie hatte es so gewollt.

Komtesse Lucile Lavard war eine ungemein schlanke Dame mit einer außerordentlich vornehmen Haltung. Ihr Gesicht besaß eine vollendete Regelmäßigkeit; sie glich einer edlen Römerin, die den Schönheitspreis davongetragen. Die Nase war leicht gebogen, die schwarzen Augen glühten in einem dunklen Feuer, die Lippen waren sein geschnitten. Gleich der Abendröte Anhauch lagen sauste Farben auf den weichen Wangen, und ihre Zähne blitzten in dem Weiß der Fischgräte.

Die Gräfin hatte recht, sie war blendend schön und zugleich von einer Liebenswürdigkeit, die etwas wahrhaft Bestrickendes besaß. –

Als man das Schloß erreicht hatte, zog sich Axel absichtlich zurück und wanderte ins Dorf.

Mitten in diesem lag, zurückgelehnt, der Besitz des Grafen Kunt, ein zweistöckiges, schneeweiß angestrichenes Haus mitten unter Grün und Tannen.

Er fand den Besitzer in seinem Garten bei den Blumen, und nachdem ein im Hause eingenommenes Glas Wein und eine Zigarre bereits die Gemütlichkeit erhöht hatten, unternahmen sie zusammen einen Spaziergang durch den sehr ausgedehnten, mit stattlichen Gehöften und Bauerhäusern, aber auch mit vielen ärmlichen Katen besetzten Ort. Bei dieser Gelegenheit ließ sich Axel möglichst viel von Lavards und auch von Lucile erzählen.

Graf Knut berichtete, daß Lucile vor anderthalb Jahren mit einem französischen Gesandtschaftsattaché in Kopenhagen, dem jungen Marquis von Rebullion, verlobt gewesen sei und diese Verbindung wieder gelöst habe.

Dem wäre es zuzuschreiben, daß sie seither keine Ehe eingegangen sei.

Er bezeichnete sie als ein vollendetes Mädchen, sie besitze aber einen unbeugsamen Standesstolz.

Während sie noch sprachen, kam Doktor Prestö vorüber, machte eine Bewegung, als ob er stehen bleiben wolle, besann sich aber und grüßte den Grafen mit großer Artigkeit, Axel aber mit steifer Gemessenheit. Es geschah, obschon Prestö Axels Besuch noch nicht erwidert hatte.

»Ein recht unangenehmer Mensch!« warf Axel hin.

Graf Knut bewegte stumm die Schultern.

»Sie scheinen meine Auffassung nicht zu teilen?«

»Man muß den Zusammenhang der Dinge kennen, um ein gerechtes Urteil zu fällen –« entgegnete Graf Knut. »Prestös Eltern fanden unter dem Druck eines maßlos hochmütigen und gegen seine Untergebenen rücksichtslos harten Gutsherrn, des Grafen Vedelsborg auf Bornholm. Prestös Vater war dort Guts-Inspektor. So sog der Sohn den Haß gegen den tyrannischen Gutsherrn seit seiner Kindheit in sich ein. Prestö ist völlig mittellos; die unvermögenden Eltern sind lange gestorben; nur durch eisernen Fleiß, Stipendien und Stundengeben hat er sein Studium ermöglicht. Durch solche Thaten, durch solches Ringen um die Existenz bilden sich Charaktere, allerdings selten liebenswürdige, eher einseitige und selbstsüchtige. Als unser alter Doktor vor sechs Monaten starb, gab ich die Veranlassung, daß sich Prestö hier niederließ. Ich interessierte mich von jeher für die Eltern. Gewiß, seine Manieren lassen recht sehr zu wünschen übrig, ich gestehe das zu. Auch gären in ihm die Ideen der neuen Zeit. Ich bedaure diese Richtung. Aber – was will man machen? Wechsel regiert die Welt, und mit ihm treten neue Anschauungen und Erscheinungen zu Tage. Wir – die Gutsherren – haben die gute Zeit gehabt, nun wollen auch die Bauern einmal leben!«

»Ah, nun verstehe ich! Deshalb Imgjors Eintreten für ihn! Sie begegnen sich in ihren Anschauungen. Jetzt ist mir alles klar. Nun weiß ich, wer meinem Werben um sie entgegengeht.«

»Sie interessieren sich für die Komtesse Imgjor, Herr Graf?«

»Ich gestehe es – außerordentlich! Ich habe auch des Grafen und der Gräfin Beifall für meine Pläne. Bisher glaubte ich nur gegen Vorurteile zu kämpfen. Nun bin ich überzeugt, daß ich in Prestö meinen eigentlichen Widersacher zu suchen habe. Gewiß, sie lieben sich!«

»Vielleicht doch nicht –« betonte der Graf, auf das Gespräch ohne Umschweife eingehend. »Daß Imgjor Interesse für ihn besitzt, will mich wohl auch bedünken. Aber er für sie? Er war schon als Student verlobt und ist es, soviel ich weiß, noch –«

»Ah welch' eine gute Nachricht! Erzählen Sie, ich bitte!« fiel Axel lebhaft ein und zog den alten Herrn über das Dorfgebiet hinaus. –

Am folgenden Tage, nach dem zweiten Frühstück, wußte es Axel so einzurichten, daß er mit Lucile im Garten auf- und abwandelte. Der Graf hatte wegen seiner Geschäfte auf eins der Vorwerke fahren müssen, die Gräfin – eine selten vorkommende Erscheinung – mußte wegen einer Migräne das Zimmer hüten.

Lucile war, in Vertretung ihrer Mama, beim Frühstück sehr liebenswürdig um Axel bemüht gewesen. Sie besaß ähnliche Eigenschaften wie ihre Mutter. Mit Verstand und Geist verband sie große Lebhaftigkeit. Wie sie sonst zu beurteilen sei, mußte er erst ergründen.

Es giebt Frauen, die bei aller sonstigen Beweglichkeit eine stolze Prüderei hervorkehren, sobald ein Mann eine über das Konventionelle hinausgehende Annäherung wagt.

Zu einer engeren Berührung im ersteren Sinne gehört nach ihrer Auffassung die Prüfung eines halben Menschenalters, und Artigkeiten, die ein Interesse verraten, weisen sie mit einer verletzenden Schroffheit zurück.

Der Graf hatte recht: zu diesen schien Lucile zu gehören.

Lucile sprach mit Vorliebe über ihren Aufenthalt in den großen Städten und ihren Verkehr mit den Personen der bevorzugten Stände. Es geschah das aber in einer Weise, die keinerlei Absichtlichkeit durchschimmern ließ; sie behandelte die Dinge als etwas naturgemäß zu ihr gehöriges. Aber es ging aus allem hervor, daß sie Umgang und Beziehungen zu solchen Personen über alles stellte, daß das Leben in diesen Kreisen mit dem Interesse für Toilette, Korsos, Jagden, Pferde und geräuschvolle Geselligkeiten ihr Eldorado war. Und dieses Hervorkehren und dieses Wertlegen auf Dinge, die Axel als minderwertige ansah, reizte ihn und verführte ihn zu starkem Widerspruch.

»Was Sie besonders anzuziehen scheint, Komtesse, stößt mich geradezu ab –« warf er, herabsetzend im Tone, hin.

Und mit einem »So, so! Ja, der Geschmack ist eben ein verschiedener –« antwortete sie darauf.

Statt daß Lucile, wie Axel erwartet hatte, ein Erstaunen darüber an den Tag legte, daß er, der doch zu diesem Kreise gehörte, einen solchen abweichenden Geschmack bekundete, schien sie das hinzunehmen, wie das Zwitschern eines Vögelchens, das über ihnen in den Zweigen huschte.

Sie rechnete mit dem, was einmal vorhanden war; sie entwickelte keinen Eifer darüber, daß es mit ihren Neigungen nicht übereinstimmte.

Während sie sich eben wieder dem Schloß näherten, in dem sie ein Waffenzimmer besichtigen wollten, von dem beim Frühstück die Rede gewesen war, sagte er:

»Sie ziehen also wohl jedenfalls die Stadt dem Lande vor. Sie finden wahrscheinlich gar keinen Geschmack an dem einförmig-stillen Leben auf Rankholm, Komtesse?«

Statt einzutreten – eben hatten sie eine Pforte im Souterrain erreicht, durch die man von hinten ins Schloß gelangen konnte – blieb sie stehen, richtete den Blick geradeaus und sagte, zunächst durch eine Kopfbewegung seinen Worten begegnend:

»Nein, ich bin hier sehr gern. Im Sommer ist mir die Stadt nichts. Aber – ich spreche offen – ich finde die Personen hier wenig anziehend. Wäre nicht mein Vater –« Sie hielt inne und während sie die Lippen schloß, reckte sie den schlanken Hals rückwärts, wie jemand, der einer starken Empfindung Herr zu werden versucht.

Nun wurde Axel aufmerksam.

Scheinbar arglos sprechend, fiel er ein:

»Ja, Ihre Eltern, Ihr Herr Papa, Ihre Frau Mama, die müssen jedermann fesseln!«

»Meine Mutter – ?« Lucile zog die Schultern, und in ihren Zügen erschien ein eigentümlicher Ausdruck. Doch sprach sie nicht aus, was sie dachte, und offenbar empfand sie Reue, daß sie sich so weit vergessen hatte.

Auch suchte sie den von ihr hervorgerufenen Eindruck rasch wieder zu verwischen, indem sie sagte:

»Ich wollte betonen, daß ich mit meinem Vater besser hamoniere als mit Mama und Imgjor« – Und plötzlich abschweifend:

»Wie finden Sie Imgjor?«

»Bezaubernd!«

»So – !? Ja, das ist ein Mädchen, um das alle Männer werben. Es geschieht, weil sie ihnen nicht einen Finger giebt. Solche strecken ganze Scharen zu ihren Füßen.«

Dann schwieg sie. Als sie aber oben in das Waffenzimmer getreten waren und sich hier, nach Besichtigung der Gegenstände, noch einmal niedergelassen hatten, sagte Lucile Lavard:

»Ich gehe gern hier hinauf, weil meine Vorstellungen rege werden. Ich wollte, ich hätte damals leben können, als noch Rankholm der Mittelpunkt der vornehmen Welt war, als noch unsere Vorfahren Gesandte, Staatsminister und Feldmarschälle waren, als sie die Herrscher Dänemarks wochenlang zum Besuch bei sich sahen!«

»Sie sind offenbar sehr ehrgeizig, Komtesse! – Sie sind aus dem alten Lavardschen Blut.«

»Ja, ich bin ehrgeizig, Sie haben recht, Graf Dehn! Ich leugne es nicht. Ich lege Wert auf meinen Stamm, auf unser Ansehen und unsern Reichtum. Ich bin aber –« hier lächelte Lucile Lavard mit einem liebenswürdig anschmiegenden Lächeln – »durchaus nicht so äußerlich, wie Sie glauben mögen. Ja, ja, ich hab's schon bemerkt, Herr Graf, daß Sie mich recht abfällig beurteilen. – Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie ich denke! Ich wünsche mich auszusprechen, da ich Sie bereits zu uns zähle: Ich überhebe mich über niemanden, das wäre eine Beschränktheit. Gott gab mir objektiven Verstand. Aber ich leugne nicht, daß ich, je höher die Verfeinerung der Sitten und je vornehmer, sorgloser die Lebensverhältnisse sind, um so größeren Geschmack an den Menschen und Verhältnissen finde. Das Leben mit den gesellschaftlich Auserwählten ist mir Bedürfnis, ich teile durchweg ihre Interessen und Neigungen. Freilich unterscheide ich stark. Der Oberflächlichkeit gehe ich möglichst aus dem Wege; die Männer, die unthätig nur in den Tag hinein leben, verabscheue ich. Finde ich Verstand, Streben, Geist und wahrhaft kavaliermäßige Eigenschaften, so suche ich eine Annäherung. Mein Ziel ist das Bündnis mit einem Mitglied der höchsten Stände. Eine Lavard hat das Recht, ihre Hand nach einer Fürstenkrone auszustrecken. Und wenn ich das erreicht habe, so will ich mir Beachtung erwerben durch die Pflege der Künste und Wissenschaften, durch Wohlthun, durch die Förderung alles dessen, was im wahren Sinne wertvoll und sittlich ist. So denke ich mir mein künftiges Leben, dahin geht mein Ehrgeiz.«

Axel hatte ihr aufmerksam zugehört, und so sehr wuchs durch die Verminderung seiner Vorurteile ihre Persönlichkeit in seinen Augen, daß er sich zu einer eifersüchtigen Regung fortreißen ließ.

»Wahrlich, ich bewundere Sie, Komtesse!« stieß er heraus. »Aber ich empfinde einen starken Schmerz um die, welche mit keiner Krone im Wappen zur Welt kamen und deshalb nicht einmal Ihre Fingerspitzen berühren dürfen.«

Sie sah ihn an, und ein reizvoll gütiges Lächeln umspielte ihren Mund. Dann sagte sie:

»Sie dürfen es, Graf Dehn! Auch dahin wollte ich noch Ihre Voraussetzungen berichtigen. Ich bin nicht stolz oder gar hochmütig in Ihrem Sinne. Ich hab' etwas Selbstgefühl, weil ich mir bewußt bin, daß ich stets vernünftig zu handeln suchte, weil ich Grundsätze habe und dem Besseren – wenn auch nur in meiner Weise – ehrlich nachstrebe. Aber glauben Sie es mir, ich bin für meine Leute ein guter Kamerad. Ihnen will und werde ich es jederzeit sein, wenn Sie mich brauchen können.«

»Ah, welche Musik für mein Ohr, gnädigste Komtesse! So sprach auch Ihre Frau Mama.

»Ich danke Ihnen, danke Ihnen von Herzen! Ich bitte Ihre Hand zum Zeichen meiner Verehrung berühren zu dürfen!«

Ein stiller, freundlicher Blick traf ihn, während sie gewahrte, worum er bat, ein Blick, ähnlich wie der, welcher in den Augen ihrer Mutter bisweilen erschien. Voll Nachdenken über diese Frauen, die sich so offen gaben und in denen allen sich doch etwas Rätselhaftes verbarg, stieg Graf Axel an der Seite Luciles wieder in die unteren Räume hinab. –

Nach dem Frühstück am folgenden Tage wurde über eine, einem geplanten größeren Fest noch vorherzugehende, kleine Abendfête beraten.

Man wollte Lucile nach ihrer langen Abwesenheit Gelegenheit geben, mit den gesellschaftsfähigen Personen in Kneedeholm und einigen der höheren Gutsangestellten ein Wiedersehen zu feiern. Ueber das Erscheinen der letzteren, des Pastors Nielsen und des Apothekers war man sich einig. Die Hinzuziehung des Doktor Prestö stieß auf Schwierigkeiten.

»Wenn's nicht Graf Knut gewesen, würde ich mich in diesen Ersatz für unsern alten, vortrefflichen Doktor Kröde nicht so willig gefügt haben –« warf die Gräfin hin.

»Der Prestö ist mir eigentlich sehr unsympathisch, er besitzt gar keine Lebensart, und sollte ich krank werden, würde mich sein Kommen eher beschweren, als erleichtern!«

»Ja, Manieren hat er wenig, oder eigentlich keine –« bestätigte der Graf. »Er ist ein selbstbewußter Herr, und, wie der Gutsförster schon neulich behauptete, sicherlich ein fanatischer Bauernfreund. Gestern erhielt ich auch wieder eine Probe von seiner alles bekrittelnden Art. Als ich beim alten Peder Ohlsen vorsprach, fand ich ihn dort mit der kleinen Sine beschäftigt, und als ich ihn fragte, was ihr fehle, zuckte er, ohne mich überhaupt zu begrüßen, die Achseln und sagte: »Sie hat sich den Magen mit Obst vollgepfropft, und statt ihr einen Finger in den Hals zu stecken, schickt man nach dem Arzt, als ob's ans Sterben ginge!« Und auf eine vermittelnde Aeußerung von meiner Seite, die nämlich, daß der Laie doch den Zustand des Patienten nicht beurteilen könne, entgegnete er in seiner belehrenden Art: »Ja, man sollte die Bauern zu selbständigem Denken erziehen. Statt dessen wird womöglich ihre Dummheit noch gefördert. Der Schulmeister hier im Dorfe macht tiefe Katzenbuckel vor der Gutsherrschaft, er ist nichts anderes als ein Streber, der längst hätte wieder zurückgeschickt werden müssen.«

Graf Axel hatte während dieser Erörterung absichtlich seine Blicke auf Imgjor gerichtet. Schon bei ihrer Mutter Einwände war ein Ausdruck der Auflehnung in ihre Züge getreten. Axel sah's an ihren Mienen. Nun hielt sie's nicht mehr. Indem sie das Buch, auf das sie trotz des Gespräches ihre Augen geheftet, in den Schoß gleiten ließ, fiel sie mit deutlicher Gereiztheit im Tone ein:

»Der Doktor Prestö hat doch ganz recht, Papa. Markholm ist ein widerwärtiger Augendiener und ein Schulmeister zum Erbarmen. Nichts, nichts weiß die Jugend. Und daß man einen Arzt um jeden Quark bemüht, ist doch in der That ein Mangel an praktischer Schulung. Prestö ist eine tüchtige, energische Natur mit vielen neuen, wahrhaft reformierenden Ideen.«

»Ja, ja – reformierende Ideen! Das ist das glückselige Schlagwort, das einst nicht nur die Gutshäuser, sondern auch die Hütten der Bauern zertrümmern wird!« fiel Lucile erregt ein. »Solche Menschen, wie dieser Doktor einer zu sein scheint, sind ein wahres Unglück. Sie wollen alles verbessern. Sie müssen des Schöpfers Weisheit, die auf eine besonnene, nicht überstürzende Entwickelung aller Dinge im Natur- und Menschenleben hinausgeht, übertrumpfen. Im Grunde aber lauert hinter diesen Weltverbesserern nichts anderes als die ewig sich wiederholende Unzufriedenheit des Subjekts mit seinem Schicksal oder eine grenzenlose Eitelkeit. Nicht die Sache – einige unpraktische Schwärmer abgerechnet – leitet sie, sondern ihre Person. Innerster Ingrimm darüber, daß sie in den Thälern marschieren müssen, statt auf den Gipfeln zu stehen, wo ihnen das Schicksal nun einmal keinen Platz eingeräumt, ist das Motiv ihrer Handlungen. Ging's Jahre und Jahre so und in Frieden, wird's auch mit allmählichen, aus den Erfordernissen herauswachsenden Umgestaltungen so gehen, ohne daß der Herr Doktor den Bauern, dem Lehrer und Papa schulmeisterliche Unterweisungen erteilt.«

Imgjors Augen sprühten, während Lucile sprach.

Ihre weißen Hände fieberten, sie ballten sich in ihrem Schoß, und sie konnte es nicht erwarten, ihrer Schwester zu antworten.

Aber statt ihrer wußte die Gräfin, die Lucile durch ihre Mienen bereits zugestimmt hatte, rasch das Wort zu nehmen.

»Ja, ich teile vollkommen deine Ansicht, Lucile. Und ich glaube, wir alle! Was meinen Sie, Graf Dehn? Wie finden Sie unsern neuen Aeskulap?«

»Ich beurteile ihn milder, nachdem ich näheres über ihn durch den Grafen Knut vernahm. Aber ich muß – ich gestehe es – meiner Objektivität stark aufhelfen. Wenn ich meinen Geschmack sprechen lasse, sage ich: Dieser junge Mann besitzt weder äußere noch innere Erziehung. Er sollte erst einmal bei sich beginnen, bevor er über andere schulmeisternd urteilt oder gar gegen ältere Leute den Präceptor spielt.

Vielleicht wird seine künftige Frau – ich höre vom Grafen Knut, daß er mit einer Kopenhagenerin verlobt ist – vorteilhaft auf ihn einwirken, sie und der Einfluß so verstandesreicher und humaner Personen, wie dies Schloß sie birgt.«

Graf Dehn richtete nach diesen Worten einen gespannten Blick auf Imgjor. Er wünschte den Eindruck seiner letzten Rede auf sie zu beobachten. In der That schien sie etwas beunruhigt, aber es war offenbar nicht Enttäuschung, die ihre Wangen verfärbte, sondern etwas anderes, das sie trieb, sich zu entfernen.

Sie fingierte einen sie plötzlich überfallenden Hustenanfall, stand auf, drückte die Hand auf die arbeitende Brust und verließ, als ob sie die Anwesenden von der lästigen Störung befreien wolle, das Zimmer.

Aber eben die Zweifel über das, was in Imgjor vorging, veranlaßte Axel für des Doktors Erscheinen an dem geplanten Besuchsabend einzutreten. Es lag ihm daran, Prestö und Imgjor noch einmal beisammen zu beobachten, um daraus seine Schlüsse zu ziehen und darnach seine künftige Handlungsweise einzurichten.

Er betonte der Gräfin gegenüber, daß eine Umgehung des Doktors bei einer Gelegenheit, wo alle übrigen eingeladen würden, eine allzu stark hervortretende Zurücksetzung an sich trage. Wenn Prestö auch zur Kritik stark herausfordere, so habe er sich doch gegen die Familie bisher eigentlich nichts zu Schulden kommen lassen. Er wage deshalb zu bitten, daß man ihn hinzuziehe.

»Ihr Wunsch entscheidet, lieber Graf!« erklärte Graf Lavard verbindlich, und die beiden Damen neigten nicht weniger bereitwillig den Kopf, nun, da es sich um die Bitte des Gastes handelte.

Als Axel eine Stunde vor dem Diner sein Zimmer betrat, um Toilette zu machen, fand er auf seinem Schreibtisch eine Karte von Prestö, erfuhr aber durch seine an Frederik gerichtete Frage, daß niemand den Doktor im Schloß gesehen habe.

»Er wird hinten durchs Haus eingetreten sein, Frederik –«

Der Angeredete schüttelte den Kopf.

»Es kann keiner unbemerkt eintreten. Ich war fortwährend unten beschäftigt, und oben hat Christian heute den Dienst.«

»Es liegt mir daran, zu wissen, wann der Doktor hier war. Vielleicht weiß der Portier auf dem Schloßhof von des Doktors Hiersein. Bitte, fragen Sie ihn und Christian! Es liegt mir daran –«

Aber Frederik kehrte mit dem Bescheide zurück, daß Doktor Prestö während des Tages Rankholm nicht besucht habe. Es mußte also jemand im Schloß die Karte in des Grafen Zimmer gelegt haben, und es mußte während des Reitausfluges geschehen sein, den Axel mit dem Grafen zwischen dem zweiten Frühstück und dieser Stunde unternommen hatte. Vor Verlassen des Schlosses war Axel noch in seinen Räumen gewesen und hatte keine Karte gefunden.

Nachdem Axel den Kammerdiener entlassen und zur Vermeidung falscher Auffassungen noch vorher hingeworfen hatte, daß es sich nur um eine kleine, lustige Wette handle, und daß er nur deshalb nachgefragt habe, kam ihm bei fernerem Grübeln über diesen Fall plötzlich die Idee, daß – Imgjor in seinem Zimmer gewesen, daß sie die Ueberbringerin der Karte war.

Man hatte Prestö Mangel an Lebensart vorgeworfen, man hatte ihn überhaupt aufs schärfste verurteilt, und er, Axel, war der einzige gewesen, der ihm das Wort geredet. So war die nachträgliche Aufmerksamkeit vielleicht der Dank, und Imgjor, die sich schon einmal als Prestös Verteidigerin aufgeworfen, hatte dem Doktor möglicherweise einen Wink gegeben.

Und wenn Axel in solcher Annahme das rechte traf, so waren diese beiden Menschen also im stillen mit einander einig. Freundschaft macht erfinderisch, wie Not.

Als Axel den Weg in den Speisesaal nahm, war er überzeugt, daß sich die Dinge so verhielten, und er beschloß, nicht zu ruhen, bis er über Imgjor und Prestö völlige Klarheit gewonnen. –

Indessen fand er bei Tisch keine Gelegenheit, Imgjor zu beobachten. Lucile erklärte kurz vor dem Niedersitzen, daß ihre Schwester nicht erscheinen werde. Sie sei bei ihr im Zimmer gewesen, und Imgjor habe erklärt, daß sie sich unwohl fühle und bis zum Abend das Bett hüten müsse. Es sei nichts Erhebliches, sie wünsche nur zu ruhen und habe keinen Appetit.

Da man Axel bereits so sehr zu der Familie rechnete, daß in seiner Gegenwart alles Vorkommende besprochen wurde, so nahmen der Graf, die Gräfin und Lucile auch heute keinen Anstand, sich über Imgjor zu äußern.

»Sie wird immer unzugänglicher und geht immer mehr ihren Kapricen nach –« warf die Gräfin hin. »Du müßtest einmal energisch mit ihr reden, Lavard! Sie sollte sich doch wenigstens anders verhalten, wenn wir Gäste haben.«

Der Graf nickte.

»Wenn sie nicht zugleich ein solcher Engel für die Kranken und Armen auf der Herrschaft wäre, hätte ich ihr schon ihre fortwährenden Entfernungen verboten. Das ist's ja! Man kann ihr eigentlich keinen anderen Vorwurf machen, als daß sie sich für sich hält und ihren besonderen Neigungen nachgeht.«

»Es schickt sich doch wirklich nicht, daß sie fortwährend umherflankiert, mit den Bauern und oft mit den Knechten verkehrt. Gestern wurde sie, wie ich weiß, im Dorfwirtshaus gesehen, wo sie ihre bauernfreundlichen Ansichten zum Besten gegeben hat,« fiel Lucile ein.

»Wer hat dir das mitgeteilt?« rief der Graf nunmehr in erheblicher Erregung.

»Vom Gutsförster von Kilde hörte ich es, Papa.«

»Da siehst du's, Lavard! Es geht wirklich nicht mehr. Sie rührt uns das ohnehin aufsässige Bauernvolk noch mehr auf. Und der Doktor agitiert auch schon seit seiner Niederlassung im Dorf. Du weißt doch, daß Pastor Nielsen ganz außer sich darüber ist, welche Ideen er vor den Bauern entwickelt. Greife ein! Sprich morgen mit dem Doktor und stelle ihm die Wahl, sich solcher Dinge streng zu enthalten oder seinen Stab wieder in die Hand zu nehmen!«

Graf Lavard nickte.

»Ja, es soll geschehen. Nur morgen geht's nicht. Er ist unser Gast; da wäre es unzart, ihm grade Vorhaltungen zu machen.«

»Und Imgjor?« fiel Lucile ein.

»Willst du ihr nicht auch gebieten, daß sie ihre Besuche in den Wirtshäusern einstellt? Nächstens erscheint das Bauernvolk auf dem Schloßhof und stellt dir Forderungen, und wenn du sie nicht erfüllst, stecken sie uns das Dach über dem Kopfe an!«

»Na, na – Ihr seht allzu schwarz! Ich bewege mich doch auch unter ihnen – ich kenne sie –«

»Es mag sein, Lavard! Aber daß hier vom Schloß aus durch unsere eigene Tochter die neuen Ideen gefördert werden, daß sie indirekt gegen ihre eigene Familie zum Widerstand aufreizt, geht doch wahrlich nicht mehr –«

»Ich bin derselben Ansicht, Papa, und willst du gründlich vorgehen, so schicke Imgjor einmal fort. Und bevor sie zurückkehrt, gieb dem Monsieur Prestö auch den Laufpaß!«

»Warum so lange warten, Lucile?« fiel die Gräfin ein. »Will er sich nicht fügen, mag er auch gehen, gleich –«

Lucile zog die Lippen. – Sie zögerte noch eine Weile, dann sagte sie und warf zugleich einen stillen Blick auf Axel:

»Ich riet nicht ohne Absicht so, wie ich riet, liebe Mama. Denn wisset, beide, alle: Seit der Scene gestern habe ich die feste Ueberzeugung, daß Imgjor völlig unter dem Einfluß Prestös steht. Als ich vorher mit ihr sprach und auf sie einredete, Graf Dehns halber sie ermahnte, sich mehr zu Hause zu halten, liebenswürdiger, entgegenkommender sich zu geben und den ganzen, sich nicht für sie schickenden Verkehr drunten aufzugeben, entwickelte sie geradezu erstaunliche Ansichten. Wir gerieten aufs heftigste aneinander. Sie warf mir Beschränktheit, Hochmut und lächerlichen Adelsstolz vor. – Die Zeiten seien vorüber, wo man sich so geben dürfe wie ich. Sie, Imgjor, würde, wenn es an ihr läge, den Adel abthun, das Schloß verlassen und sich ganz den armen, geknechteten Bauern widmen. Es müßte in ganz Dänemark von Männern und Frauen der besseren Stände das Veredelungs- und Samariterwerk für die niedere Klasse, für die Armen und Elenden, ins Werk gesetzt werden. Zu diesem Zwecke sei das Land in Distrikte einzuteilen, und in diesen habe dann die Wirksamkeit der Brüder und Schwestern des neuen Vereins zu beginnen. Volksprediger sollten Vorträge halten, um Menschenliebe, Pflichterfüllung und ein von allem ceremoniellen Beiwerk befreites Christentum zu predigen. Der Arbeitslosigkeit, Not und Krankheit solle Einhalt gethan werden, es sei durch Errichtung von öffentlichen Versorgungs- und Krankenanstalten in jedem Ort, sowie durch öffentliche Speisehäuser überall den Armen zu helfen und damit den Forderungen der Neuzeit gerecht zu werden.«

»Wie? Mit solchen Dingen beschäftigt sie sich? Das alles hat sie dir erklärt?« fielen beide Lavards ein, und auch Axel erhob mit nicht geringerem Erstaunen das Haupt.

»Ja, das und noch anderes! Man könnte einen gelehrten Vortrag daraus machen.«

Nachdem Lucile geendigt hatte, verharrten die Anwesenden zunächst in Schweigen. Was sie gehört hatten, beschäftigte sie ausschließlich.

»Ach ja, nun verstehe ich auch vieles –« nahm sinnend die Gräfin wieder das Wort. »Wahrhaftig es ist höchste Zeit zum Einschreiten,« fuhr sie, gegen ihren Mann gewendet, fort, – »wenn wir nicht einen großen Affront erleben sollen. Du mußt deine Rechte üben und noch im Beginn durch geeignete Mittel zu mildern oder auszumerzen suchen, was sich in ihr für sie selbst Verderbliches festgesetzt hat. – Was sagen Sie, Graf Dehn, was sagen Sie? Hätten Sie das gedacht, das in Imgjor gesucht?«

Axel bewegte die Schultern und sagte: »Was die Komtesse will, ehrt sie und hebt sie in meinen Augen! Aber allerdings glaube ich auch, daß sie starke Enttäuschungen erleben und sehr unglücklich werden wird, wenn's keine Mittel giebt, ihr schönes Menschentum auf ein richtiges Maß herabzumindern.«

Er wollte noch mehr sprechen, aber nun öffnete eben Frederik, den die Gräfin beim Beginn der Unterredung für eine Zeit lang abgewinkt hatte, von neuem die Thür und brachte, von Christian und einem anderen Lakaien gefolgt, die dampfenden Schüsseln des nun folgenden Ganges.

Er hob die silbernen Deckel ab, und ein auf portugiesische Art bereiteter, gebratener Fisch aus dem Teiche des Gutsgebiets mit einer dazu gehörenden duftenden Sauce verbreitete einen so köstlichen Hauch, daß die Sinne für diesen Leckerbissen das Interesse für Imgjors Umgestaltungsideen vorläufig verschlangen.



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