Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Da Imgjor in den letzten Tagen ihrer Familie fern geblieben war, erschien's nicht auffallend, daß sie sich auch an dem dieser aufregenden Scene folgenden Tage zurückhielt.

Sie war erst gegen Morgen in einen durch seelische Erschöpfung geförderten langen, bleiernen Schlaf gesunken, und als sie um die Mittagsstunde erwachte, war ihr Gemach erfüllt von leuchtendem Herbstsonnenschein.

Aber mit dem Wiedereintritt in die Welt der Wirklichkeit stürmten auch die schweren Gedanken auf sie ein, und von der Erinnerung an das am vergangenen Tage Geschehene überwältigt, starrte sie vor sich hin.

So war denn nun das Band zwischen ihr und jenem Manne dennoch und endgiltig zerrissen; so hatte doch der recht behalten, der sich gegen ihren Willen in ihr Leben gedrängt hatte! Noch mehr: Alle hatten recht behalten, und so rasch hatte sich die Prüfung der Unwürdigkeit Prestös vollzogen, daß zunächst nur der schamvolle Gedanke sie beherrschte, ihrer Umgebung die Thatsache zu verheimlichen.

Plötzlich war alles anders geworden.

Die Enthüllung ihrer Geburt hatte sie belehrt, daß sie geringere Rechte besaß als Lucile, in der sie eine Schwester zu sehen sich gewöhnt hatte. Plötzlich war sie eine nur Geduldete da, wo sie bisher das Lavardsche Scepter geschwungen.

Ihrer Pflegemutter hatte sie sich demütig unterzuordnen, statt ihr wie bisher mit stummer oder offener Auflehnung zu begegnen. Da sie sich verdeutlicht hatte, mit welcher Selbstentäußerung diese an ihr, dem Adoptivkinde, gehandelt, verwandelte sich ihre Minderachtung in Hingebung und Bewunderung. Aber gerade aus all diesen Ursachen und weil sie ein heftiges Unmutsgefühl gegen ihren Pflegevater ergriffen, deshalb sich ihrer bemächtigt hatte, weil sie sich sagte, daß er einer Lucile niemals so hart, so grausam begegnet sein würde, daß nur ihr das geworden, weil er sie als eine Halbwürdige betrachtete – verstärkte sich in ihr der Entschluß einer Trennung von den Ihrigen.

Zudem vermochte sie sich durch eine andauernde Entfernung von der Familie der Gefahr zu entziehen, dem Werben des Grafen Dehn dennoch zu unterliegen. Ihr Stolz verbot ihr, ihm je zu zeigen, daß sie etwas für ihn empfand. Sie wollte eine Liebe zu dem nicht aufkommen lassen, der sie sein Uebergewicht in solcher Weise hatte fühlen lassen.

Auch war ihre Begeisterung für die große Sache trotz der gemachten Erfahrungen nicht vermindert. Diese Erfahrungen mußten sie, wie sie sich sagte, nur von neuem belehren, wie sehr den Besitzenden zu mißtrauen sei.

Die Armen und Elenden würden sie niemals enttäuschen, und wenn doch, so verdienten sie lediglich Mitleid, weil ihnen die Erziehung nicht wie jenen geworden, weil ein zarteres Empfinden ihnen erst eingeflößt werden müßte.

Sie wollte in ihren Pflegevater dringen, ihr eine Freiheit zu gewähren, in der sie wenigstens im Kleinen ihre Menschenliebe zu bethätigen vermochte, sie wollte ihn zwingen, sie abzulösen von Verhältnissen, die ihrer Natur zuwiderliefen. Sie wollte nicht in Prunkgemächern wohnen, sie wollte keine Genüsse, keine kostbaren Gewänder und Vergnügungen. Sie wollte überhaupt keinen Ueberfluß, sondern ein auf Arbeit und hilfreiches Menschentum gerichtetes Leben. Sie erstrebte Beschäftigung mit edlen Dingen, mit der Natur und den feineren Regungen des Menschengeistes.

Und Kopenhagen, die Großstadt, erschien ihr als der rechte Ort dafür.

Dort wollte sie wohnen, um es zunächst kennen zu lernen, und dazu war jetzt, wo die Abreise vor der Thür stand, die beste Gelegenheit geboten. Zuvor aber wollte sie noch völlige Klarheit über das zu erlangen suchen, was zwischen der Gegenwart und der für sie dunklen Vergangenheit lag.

Unter solchen Erwägungen wurde geklopft, und Lucile trat zu ihr ins Wohngemach.

»Nun, meine liebe Imgjor,« hub Lucile an und umarmte ihre Schwester sanft, »wie ist's verlaufen? Lasse uns unser Vertrauen fortsetzen! Mache mich glücklich und sage mir, daß du Prestö nach Einsicht in die Briefe den Bescheid erteilst hast, den wir alle herbeisehnen!«

In Imgjor erhob sich bei diesen Worten ein schwerer, innerer Kampf.

Sie sollte von ihrem Thron herabsteigen, sie sollte gestehen, daß ihre Menschenkenntnis nur allzu winzig, daß ihr stolzes Selbstgefühl nur allzu unberechtigt gewesen.

Sich seiner selbst zu entäußern, sich seiner Hoheit um der bloßen Wahrheit, statt um eines Vorteils willen, zu entkleiden, erfordert einen starken, sittlichen Fond, ein besonders stark entwickeltes Rechtsgefühl.

Imgjor fand das, was ihrer zwiefältigen Natur entsprach. Sie gab der Wahrheit die Ehre und wahrte ihren Stolz.

Zunächst überwältigte sie allerdings ein machtvolles Gefühl.

Sie warf sich wie jüngst, einem Kinde gleich, an die Brust ihrer Halbschwester und brach in ein anhaltendes Schluchzen aus.

Dann schob sie den Körper zurück und sagte: »Aus irgend einem Grunde habe ich mich für eine Lösung meiner Beziehungen zu Prestö entschieden. Erweise mir darin deine Liebe, Lucile, daß du mich nach den Gründen nicht fragst. Sei eine Fürbitterin bei deinen Eltern, die auch mir Eltern waren, daß auch sie die Angelegenheit nicht ferner mehr berühren. Hilf mir, teure Lucile, daß meine Bitten erhört werden! Ich habe mehr denn je die Sehnsucht, Rankholm zu verlassen und mich irgendwo, fern von hier, nützlich zu machen. Will dein Vater mir zu solchen Zwecken keine Mittel zur Verfügung stellen, so möge er mir wenigstens das gewähren, was er bisher für meine Ausbildung aufwendete. Fräulein Merville hat ohnehin die Absicht, in ihre Heimat zurückzukehren. So möge er mir die für sie verausgabte Summe bewilligen und dieser etwa noch so viel hinzufügen, daß ich auf eigenen Füßen zu stehen vermag!«

Lucile, die mit glücklichen Mienen zugehört hatte, nickte rasch und bereitwillig.

»Ich will alles thun, Imgjor! Ich will schon deshalb und in weit größerem Umfange deine Wünsche befürworten, weil ich hoffe, daß dieser Austritt ins Leben dich gänzlich heilen wird, daß du einsehen wirst, daß es kein undankbareres Geschäft giebt, als seine Nebenmenschen ohne ihre Anforderung glücklich machen zu wollen. Also, das möge dich nicht bekümmern, Imgjor, und wenn du sonst noch –«

»Ja, noch etwas, Lucile: Bitte deinen Vater, daß er mir die Aufklärungen über meine Geburt nicht vorenthält. Ich muß jetzt alles wissen –«

Lucile versprach auch das. Dann warf sie zögernd hin:

»Und Graf Dehn, was wird's mit ihm?«

Imgjor preßte die Lippen zusammen. In ihren Augen erschien ein Ausdruck von Schmerz und Trotz, durch dessen Einwirkung sich die Lider unwillkürlich schlossen. Und dann sprach sie in einem unbeugsam kalten Ton:

»Sage ihm, daß ich auch ferner darauf verzichten muß, in eine engere Berührung mit ihm zu treten und daß eher über Nacht das Rankholmer Schloß im Walde von Mönkhorst emporsteigt, als daß ich sein Weib werde!«



 << zurück weiter >>