Ida Gräfin Hahn-Hahn
Faustine
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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XIX

Kaum war Faustine allein, als sie einen Brief erhielt. Die Aufschrift von unbekannter Hand machte ihr Herz ängstlich schlagen. Das Fremde ist so selten etwas Gutes. Sie erbrach atemlos den Umschlag und fühlte sich wahrhaft erleichtert, als sie die Unterschrift »Kunigunde« las.

Diese schrieb:

»Meine Mutter wird Ihnen soeben sagen, daß ich Sie nicht mehr sehen soll, Holdselige! Das betrübt mich tief; denn nicht nur, daß ich Sie immer sehen möchte: ich habe auch eine dringende Bitte, die ich jetzt schriftlich an Ihr Herz legen muß. Mein guter Vater ist mit mir einverstanden, er billigt meinen Schritt, er unterstützt meine Bitte. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen bin ich Arme leider dem elterlichen Hause eine Last geworden. Es ist bitter für ein Kind, das zu erkennen; doppelt bitter mir, weil ich selbst daran schuld bin und es doch nicht auf die Weise ändern kann, welche man von mir wünscht. Aber das Haus verlassen, wo ich allen, nur nicht meinem armen lieben Vater, im Wege bin, das kann ich allerdings und das will ich. Dazu müssen Sie, Sie wahrhaft Gnädige, mir behilflich sein. Sie haben Verwandte und Freunde in der Ferne, die Ihrem Wort, Ihrer Bitte gern Gehör geben werden. Ach, für sich selbst haben Sie wohl nie gebeten. Ihrem unausgesprochenen Wunsch sind gewiß alle zuvorgekommen. Nun denn, so bitten Sie für mich, daß man mich aus Menschenliebe aufnehme, eine Freistatt mir gönne, einen Wirkungskreis mir anweise, den meine geringen Fähigkeiten ausfüllen können. Einen andern Anspruch an diese große Barmherzigkeit als den, daß ich sie bedarf, habe ich freilich nicht, denn ich bin ein unbedeutendes, unentwickeltes Wesen, das denen, die sich meiner annehmen wollen, nichts verheißen kann als Dankbarkeit. Aber wenn Sie das Gewicht Ihrer Bitte für mich in die Schale legen, so sinkt sie gewiß herab. Zürnen Sie mir, weil ich diese Zuversicht zu Ihnen habe? Mein letztes Wort ist: möchte ich so bald wie möglich so fern wie möglich sein.«

Nachdem Faustine mit tiefer Rührung diesen Brief gelesen, schrieb sie ihn ab, erzählte Andlau ausführlich Kunigundens Geschichte und auf welche Weise sie darin verflochten sei, beschwor ihn, bei seinen Schwägerinnen und wo man Vertrauen zu ihm habe, nach einer Freistatt für Kunigunde zu suchen, schloß die Abschrift in ihren Brief, und bedachte erst, nachdem er gesiegelt, daß kein Wort von der gestrigen Begebenheit darin stand. »Aber dies ist auch wichtiger,« fügte sie hinzu und schickte den Brief augenblicklich zur Post.

Daß sie dem armen Klemens versprochen hatte, sich heute auf dem Teiche des Großen Gartens im kleinen Eisschlitten von ihm fahren zu lassen, war ebenfalls gänzlich ihrem Gedächtnis entschwunden und fiel ihr erst dann ein, als er in später Abendstunde sich bei ihr anmelden ließ. Sie war eben an ihre Toilette gegangen, um sich auf einen glänzenden Ball zu begeben, wo sie mit Mengen über die Vorfälle des heutigen Tages plaudern wollte; also konnte sie Klemens nicht annehmen.

Eine halbe Stunde später trat sie in den geschmückten Saal.

Mengen stand mit Feldern so, daß er den Eingang im Auge hatte, und obgleich er lebhaft mit dem Freunde sprach, so flog doch sein zerstreuter Blick unablässig dorthin. Feldern war sehr niedergeschlagen, weil der Bruch mit Kunigunden unwiderruflich und seine Achtung vor ihrem festen Willen seine Neigung nicht verminderte.

»Auf Wiedersehn!« sagte Mengen plötzlich. »Hernach reden wir weiter darüber!«

»Heute nicht mehr,« sagte Feldern lächelnd, denn er folgte Marios Augen und erblickte Faustinen. Sie stand an der Tür, die Unmöglichkeit einsehend, durch den Kreis der Tänzer und das Gedränge der Zuschauer zu brechen. Sie lehnte am Pfeiler mit übereinandergeschlagenen Armen – eine Stellung, die den meisten Frauen wegen zu enger Kleidung unmöglich sein dürfte – und die Rechte tändelte mit dem Fächer, den sie sinnend an den Lippen hielt, nachdem ihre Gedanken nicht mehr durch die Umgebungen beschäftigt waren. Das meergrüne Kleid, die leichten lang herabfallenden Locken, die stille Traurigkeit, die sich wie ein silberner Schleier auf ihre weichen Züge legte, gaben ihr etwas so Himmlisches, daß Mario, während er sich Bahn zu ihr machte, sie unablässig im Auge behielt, um sich zu vergewissern, daß sie kein Traumgebild sei, oder um, wenn sie ein solches sei, doch wenigstens wahrzunehmen, wie sie sich in Duft auflöse.

»Welch ein allerliebst verdrießliches Gesichtchen bringen Sie auf unsern muntern Ball, Gräfin Faustine!« sagte er, als er sie endlich erreicht hatte.

»Es ist übel, daß jede Trauer einen verdrießlichen Beischmack hat,« antwortete sie gelassen.

»O, keine Trauer heute!« bat er. »Ich bin glücklich, noch von gestern, glaube ich! Und dann habe ich die Nachricht bekommen, daß meine zweite Schwester dem Ziel ihrer Wünsche, der Verbindung mit einem längst Geliebten, durch unvorhergesehene günstige Umstände nahe ist. Die beiden Menschen haben sich abgequält und abgezehrt, und nun ist plötzlich das Glück da.«

»Sagen Sie lieber, die Qual ist aus! Ob das Glück nun kommt, bleibt fraglich.«

»Sie hoffen es doch . . . . . Wollen Sie mit mir walzen, Gräfin Faustine?«

»Ich kann heute keine lustigen Leute leiden, Graf Mengen.«

»Ich bin nicht lustig, nur heiter.«

»Wenn die Heiterkeit sich auf äußere Dinge und Zeichen legt, wird sie lustig.«

»Nun, wie soll ich sein, um Ihnen zu gefallen?«

»Teilnehmend!« sagte sie und eine Träne trat in ihr Auge.

Mengen erbleichte. Sie weinte, und er hatte sie geneckt, in guter Absicht zwar, um sie von der Traurigkeit zu zerstreuen, die er beim ersten Blick in ihrem Gesicht entdeckt; aber sie weinte. Er nahm ihren Arm unter den seinen und führte sie zu einem ruhigeren Platz in einer Fensternische.

Da fragte er ernst: »Was ist Ihnen widerfahren?«

Und Faustine erzählte. Zum Schluß bat sie ihn, seinerseits sich zu bemühen, damit Kunigundens Wunsch erfüllt werden möge. »Feldern selbst muß uns dafür dankbar sein,« fügte sie hinzu, »wenn er nur das geringste echte Gefühl für dies edle Geschöpf hat.«

Mengen hatte gespannt zugehört. Er war beglückt, weil Faustine nicht persönlich von einem Leiden heimgesucht; und zwiefach beglückt, weil er im Stande war, das fremde zu heben, das ihr so zu Herzen ging.

Er sagte:

»Tun Sie mir den Gefallen, sich recht innig über die Verlobung meiner Schwester Mathilde zu freuen!«

»Recht gern, mein lieber Mengen, besonders darüber, daß Sie ein so zärtlicher Bruder sind, denn ich habe Sie nun doch einmal lieber als Ihre mir unbekannte Schwester Mathilde.«

»Aber diese Verlobung macht ja, daß meine jüngste Schwester, ein allerliebstes Wesen, nun ganz allein bei den Eltern sein wird, weshalb ich den Auftrag habe, eine junge und liebenswürdige Gesellschafterin für sie ausfindig zu machen.«

»Mengen! Lieber Bester, ist es war?« fragte Faustine mit innerem Jubel.

»Und da könnte ich wohl keine liebenswürdigere finden als Fräulein Stein.«

»Dank!« sagte sie. »O tausend, tausend Dank!« Sie drückte seine Hände; sie sah ganz verklärt aus.

»Sie sind ein Engel!« sagte Mario rasch und leise.

»Ich nicht,« sprach sie und trocknete die Augen, »aber Sie! Sie bringen ja eine himmlische, eine rettende trostreiche Botschaft.«

»Wer sich so freuen kann, ist ein Engel! Der gewöhnliche harte kalte engherzige Mensch hat kein solches Mitgefühl.«

»Wenn Sie wüßten, wie froh Sie mich machen! Dies ist der erste gute Augenblick, den ich heute gehabt. Ich konnte gar nichts für Kunigunden tun! Solch ein Wesen paßt nicht überall hin. Unter meinen näheren Bekannten konnte ich niemanden ausfindig machen; zu meiner Schwester paßt sie nicht. Und nun nehmen Sie mir die schwere Sorge vom Herzen! Nicht wahr, Sie schreiben gleich morgen früh an Ihre Eltern? Ich werde Ihnen Kunigundens Brief senden, damit die Ihrigen sich überzeugen mögen, wie anspruchlos sie auftritt. Nicht wahr, Sie zweifeln nicht, daß es uns glücken wird, sie aus ihren trüben Verhältnissen zu erlösen? Machen Ihre Eltern, macht Ihre Schwester besondere Ansprüche an die Gesellschafterin?«

»Gar keine als daß sie musikalisch sei.«

»Das ist Kunigunde! Sie singt allerliebst.«

»Sie hat allerdings eine glockenreine Stimme, aber ihr Gesang läßt mich eiskalt.«

»Kurz, sie singt und spielt das Piano. Das ist die Hauptsache! O, ich bin froh über die Verlobung Ihrer Schwester Mathilde . . . . Wollen wir walzen?«

Sie tanzte selten, weil sie es übernatürlich langweilig fand, den Tanz, diesen jubelnden Ausdruck des Frohsinns, bis zur Ermüdung und Erschlaffung durch lange Stunden gleich einer aufgegebenen Arbeit auszudehnen. Es wäre ihr eben so unmöglich gewesen, einen ganzen Abend hindurch zu tanzen als zu lachen. Was sie auch tat, es geschah nie ohne innere Notwendigkeit. Darum tanzte sie auch wie niemand sonst, obschon ihre Bewegungen so regelrecht waren, wie vom Tanzmeister eingeübt.

Faustine wollte Mario eine Freude machen; darum tanzte sie mit ihm. Als mehrere andere Herren sie um gleiche Gunst baten, sagte sie lachend:

»Sie kommen zu spät!« und war zu keinem Schritt zu bewegen; was man denn freilich wunderlich genug fand.

»Ich mußte heute doch einen Spaß haben,« sagte Faustine zu Mengen, »nachdem ich einen sehr hübschen versäumt, eine Fahrt auf dem Eise im Großen Garten mit Walldorf; alles wegen der bewußten Angelegenheit. Auch mein Mittagsmahl habe ich darüber versäumt! Um vier Uhr war ich in Schreiberei vertieft, und hernach, als meine gewohnte Stunde vorüber, hatte ich keinen Hunger mehr.«

»Es muß Ihnen immer jemand zur Seite stehn, der für Sie sorgt: sonst begreife ich nicht, wie Sie durch das Leben kommen sollen, Gräfin Faustine.«

»Es ist mir auch unbehaglich genug.«

»Für die verlorene Mahlzeit kann ich Ihnen freilich keinen Ersatz bieten. Wollen Sie sich aber morgen von mir im Eisschlitten fahren lassen, so sind Sie wohl sicher, daß Sie mich erfreuen.«

»Ich bin heute in gnädiger Stimmung für Sie. Dann tue ich alles, was man wünscht, und sage gewiß nicht Nein.«

»Tun Sie das je, wenn ein Andrer Ja sagt?«

»Wenn ich nicht diesem Andern gegenüber meine Selbständigkeit dadurch verloren, daß ich ihn liebe, so muß ich allerdings für mich selbst denken und handeln, und dann kann es kommen, daß ein sehr entschiedenes Nein seinem Ja begegnet. Übrigens hasse ich Nein und Ja, und all diese trocknen scharfen Worte, die plötzlich den sanften Lauf der Dinge hemmen wie die Schleuse den Bach. Bei Menschen, die sich überhaupt verstehen, folgt die ganze Entwicklung des Charakters, des Verhältnisses so unumgänglich klar aus dem ersten Verständnis, daß eine Frage, auf welche Ja oder Nein folgt, mir sonderbar vorkäme. Fragte mich jemand: Lieben Sie mich? – so könnte ich doch gewiß nichts besseres tun als dem Tropf den Rücken zukehren, der das Ja oder Nein nicht längst gemerkt hat.«

»Die Frauen lassen uns so häufig im Zweifel über ihre eigentlichen Gefühle und treiben so häufig allerliebste Koketterie mit fremden, daß solche unschuldige Frage uns armen schlichten Männern erlaubt sein dürfte.«

»O, die Männer sind rührend in ihrer Einfachheit!« rief Faustine höchst belustigt. »Wesen, die immer sich vorsehen, berechnen, auf ihrer Hut sind, sollen sich plötzlich zu einer Schlichtheit erheben, die die Gefährtin der Kindesunschuld ist oder – der weltgroßen Leidenschaft; denn diese wirft all den Flitterkram der Eitelkeit und der Mode von der brennenden Stirn und dem mächtig schlafenden Herzen!«

»Gräfin Faustine,« sagte Mario ganz ernst, »Sie werden mich von Vorurteil für mein Geschlecht befangen nennen; dennoch ist es meine tiefste Überzeugung, daß ein Mann leichter als das Weib eine weltgroße Leidenschaft faßt.«

»Für das Spiel, zum Beispiel, für das Gold, für den Ruhm, ja, das glaube ich.«

»Nein, gerade die Leidenschaft, die Sie im Sinn hatten!«

»Gut! Auch für die Frauen?«

»Nicht für die Frauen, Gräfin Faustine, für eine Frau!«

»Richtig! Ich besinne mich, daß Sie auch nur den Mann der Begeisterung fähig halten. Sie sind konsequent, lieber Mengen, konsequent in der Verblendung und Parteilichkeit. Nicht wahr, nur die Männer sind konsequent?«

»Zum Ausgleich sind die Frauen eigensinnig!«

»Das kommt auf eins heraus.«

»Nicht ganz! Der Eigensinn beharrt bei Grillen und Launen. Zur Konsequenz gehört die Grundlage einer bestimmten Überzeugung, die zur Richtschnur wird beim Aufbau des Gebäudes.«

»Aber diese Richtschnur kann eben so falsch wie eine Grille sein.«

»Falsch allerdings; dann muß der Baumeister sein Gebäude niederreißen. Aber es herrscht doch kein solcher Wirrwarr in seinem wie in einem Kopfe, der ohne Plan baut, der heute für eine korinthische Säulenhalle schwärmt, morgen eine gotische Türe dahinter wölbt, und übermorgen das ganze mit einem chinesischen Dache krönt.«

»So geschmacklos sind die Frauen nicht!« rief Faustine entsetzt.

»Ihr Künstlerauge stößt sich an den falschen Proportionen . . .«

»Und sollte das nicht auch die Seele tun?«

»Ja, wenn sie unverwirrt ist, wenn sie sich nicht von ihrem ersten Plan abbringen läßt, sobald sie den Grundstein dazu gelegt. Aber sagen Sie selbst, sagen Sie, die Hand auf dem Herzen: kann man zu einer Frau diese Zuversicht haben? Sind sie nicht immer schwankend, weil sie schweben; zerbrechlich, weil sie zart; lenksam, weil sie beweglich sind? Gräfin Faustine, sind Sie sicher, daß diese Kunigunde, die jetzt vor unser aller Augen einen dorischen Tempel aufführt, in dem nur ernste Götter wohnen können, in diesem strengen Stil beharren werde?«

»Nein!« rief sie fast ängstlich. »Aber schön wird er immer bleiben. Und überhaupt, wo ist denn der Mann, der so endet, wie er begonnen hat? Erfüllt er alle Erwartungen? Entspricht er allen Wünschen? Überwindet er alle Versuchungen? Reißt nie der Faden, aus dem er das Gewebe seines Lebens bildet?«

»Er reißt, allein einen andersfarbigen knüpft er nicht an.«

»So denken wenig Männer! Daß Sie zu den Ausnahmen gehören, glaube ich gern.«

»Die Frauen klagen über den Wankelmut der Männer; die Dichter singen davon; dicke Bücher sind damit vollgeschrieben; aber wer mag ergründen, ob der erste Zweifel an Treue, und somit der erste Schritt zum Wankelmut, nicht zuerst durch die erste Geliebte in die Brust des Mannes gehaucht ward?«

»Was ist Ihnen denn begegnet, daß Sie die Frauen so sehr hassen oder gering achten?« fragte Faustine mild und traurig.

»Welch eines Frevels beschuldigen Sie mich, weil ich zu äußern wage, daß sich mit der unsäglichen Anmut des Weibes selten jene Kraft paart, die unser Erbteil worden ist und die notwendig dazu gehört, nicht um eine weltgroße Leidenschaft zu fassen, wohl aber um sie festzuhalten. Mich hat nie eine Frau verletzt, vielleicht deshalb,« sagte er lächelnd, »weil ich Keiner mein ganzes Herz hingegeben; und wenn ich sage, daß sie schwach sei, so hindert mich das keineswegs, sie zu lieben, ja, die am innigsten zu lieben, deren fliegende Seele ewig eines Schutzes, einer Zuflucht, eines unwandelbaren Haltepunkts bedürfte.«

»So muß es auch sein,« sagte Faustine.

Beide schwiegen, ernst in tiefen Gedanken.

»Unbegreiflich, daß ein Mann auf der Welt außer Anastas so gesinnt ist,« sagte Faustine heimlich zu sich selbst. »Unbegreiflich!« wiederholte sie und sah Mengen tief und forschend au. Aber das letzte: »Unbegreiflich!« hatte sie, ohne es zu wollen laut ausgesprochen.

»Mir scheint es sehr natürlich,« antwortete er, und nach einer Weile, da sie schwieg, rief er: »Wollen Sie mich beurlauben, Gräfin? Ich habe nicht umhin können, der Lady Geraldin eine ihrer ewigen Schachpartien zu versprechen.«

»Tun Sie, was Sie tun müssen!« sagte Faustine boshaft.

»Nur wenn Sie mir Urlaub geben.«

»Sie sind nicht in meinem Dienst wie in dem der Lady Geraldin. Wie könnte ich Ihnen Urlaub geben?«

»Wünschen Sie wirklich, daß ich nicht zur Schachpartie gehe?«

»Warum soll ich es nicht wünschen?« fragte sie unbefangen und sah ihn groß an.

»Dann bleibe ich gewiß auf diesem Platze, an Ihrer Seite.«

»Das habe ich ja nur gewollt! Erzählen Sie mir von Ihrer jüngsten Schwester, deren Gefährtin Kunigunde nun bald sein wird.«

»Meine Schwester Marie ist achtzehn Jahre alt, ziemlich gescheit und sehr hübsch, mit blondem Haar und braunen Augen.«

»Das ist eine äußerst trockene Beschreibung,« meinte Faustine belustigt.

»Ach,« rief Mario, »was kann ich Ihnen von anderen erzählen! Immer und ewig möchte ich Sie reden hören und, wenn ich sprechen müßte, von Ihnen selbst zu Ihnen sprechen.«

»Himmel, das wäre langweilig für mich!«

»Das glaube ich nicht! Gibt es ein Wesen, für das Sie sich lebhafter interessieren als für sich selbst?«

»Schlimm genug, wenn das der Fall, – und ich kann es nicht leugnen. Denn wie soll ich Hochachtung hegen vor irgend einer Wesenheit, wenn ich nicht bei meiner eigenen anfange? Und habe ich überhaupt erst diese Achtung für menschliche Entwicklung und menschliches Streben gefaßt, wie sollte ich nicht suchen, zuerst mich selbst durchzuarbeiten? Das ist unser Ziel; das ist unsere Seligkeit. Muß der Mensch nicht stets diesen letzten Zweck alles Seins im Auge behüten?«

»Und nebenbei den unerschütterlichen Stützpunkt der ewigen Moral, daß diese Seligkeit durch kein Unrecht zu erringen ist! Wer sich mit seinem hochgetriebenen Egoismus im Weltall einsam macht, indem er alles Leben nur als den Born betrachtet, der ihm frische Nahrung zuströmt, der wird bald genug vogelfrei zwischen seinesgleichen sein, aber nicht frei, nicht geschützt in seiner Eigentümlichkeit und durch sie, weil er keinen Respekt vor der fremden hat.«

»O, ich mag nicht vogelfrei sein! Ich will ja nur das Bächlein sein, das in das große Meer des Alls zurückströmt und spurlos verschwindet. Wie gern, wenn nur mein Lauf klar und meine Welle rein gewesen!«

Marios Blick hing unverwandt an ihr; aber der Strahl ihres Auges glitt bei diesen Worten an ihm vorbei und stieg leuchtend wie eine Girandola gen Himmel. In diesem leuchtenden Strahl zerschmolz ihr Herz und wallte empor, wie das Opfer von der Altarflamme verzehrt als Weihrauch aufsteigt. Es war etwas in dieser Frau, was sie befähigt hätte, eine große Heilige zu werden: der schmachtende, unauslöschliche Durst nach dem Ewigen.

Mario dachte heimlich wie einst Klemens: »Und kann sie denn überhaupt lieben? Länger lieben als den Augenblick, wo die Sonne der Liebe ihre jungen Strahlen in die Welt hineinwirft? Fester lieben als das Lüftchen, das süß und schmeichelnd meine Stirn umweht und versäuselt? Tiefer lieben als eine Fee, die drei Minuten lang den Geliebten beseligt und ihn dann verläßt?«


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