Ida Gräfin Hahn-Hahn
Faustine
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Faustine

In Norddeutschland gibt es wohl wenig lieblichere Punkte als die Brühlsche Terrasse in Dresden zur Frühlingszeit. An einem Junitage, frisch, grün und strahlend wie ein Smaragd, saßen mehrere junge Männer vor dem Baldinischen Pavillon, rauchten Zigarren, nahmen Gefrorenes oder Kaffee, musterten die Vorübergehenden und schwatzten eine Musterkarte von Unsinn durcheinander, wozu, wie sich von selbst versteht, Pferde, Theater und Frauen den Stoff lieferten.

Es war drei Uhr nachmittags und daher keine elegante Frau auf der Terrasse zu sehen. Sie speisten oder wollten speisen und fürchteten die Hitze, die Sonne, obgleich sich kühler, grüner, wehender Schatten über die Terrasse legte. Desto mehr mußte es auffallen, daß eine augenscheinlich dem höheren Stande angehörende Frau allein auf einer Bank saß, den Rücken dem Pavillon zugewandt, ungestört vom Geschwätz der Männer und vom unruhigen jauchzenden Treiben der Kinder, die mit und ohne Wärterinnen die Terrasse gleich Ameisen überdeckten. Aber es fiel keinem auf. Sie mußte also eine Erscheinung sein, die jedermann kannte und um die sich niemand kümmerte. Sie zeichnete emsig. Ein Bedienter stand wie eine Bildsäule seitwärts hinter ihr und hielt einen Sonnenschirm so, daß weder ein blendender Lichtstrahl noch ein zitternder Schatten des Laubes Auge, Hand und Papier der Gebieterin treffen konnte. Ihr großes dunkles Auge flog mit einem schnellen scharfen Aufschlag hin und her zwischen Gegend und Zeichnung, und die feine Hand, ohne Scheu vor der Luft, der größern Festigkeit wegen des Handschuhs entledigt, folgte gewandt dem Blick. Sie war ganz in ihre Arbeit vertieft.

»Lady Geraldin ist heute nach Teplitz gefahren. Das ist meine letzte Neuigkeit,« sagte ein junger Mann aus jener Gruppe.

»Ist gar keine Neuigkeit!« rief ein anderer. »Es war längst bestimmt.«

»Aber auf morgen.«

»Nein, auf heute!«

»Wahrhaftig, auf morgen!«

»Kurz und gut, sie ist fort,« sagte ein dritter, »und bald wird Dresden ganz ausgestorben sein. Man muß sich auch davonmachen. Es ist unerträglich, nichts als gemeine unbekannte Gesichter zu sehen.«

»Ich liebe gerade die fremden Gesichter, die wie Wandervögel jetzt hindurch und in die Bäder ziehen.«

»Ah, fremde Gesichter! Das ist etwas ganz anderes! Die liebe ich auch, und die kennt man sehr schnell. Ich meinte die unbekannten, unbedeutenden Persönlichkeiten, den Bodensatz der Gesellschaft, Namen, die man sich hundertmal wiederholen läßt, ohne imstande zu sein, sie zu behalten, Gestalten, die Anspruch darauf machen, gegrüßt zu werden, weil man sie in irgendeinem Salon flüchtig gesehen hat. Und von solchen wimmelt Dresden plötzlich, wie die Nacht von Gespenstern.«

»Ich bedaure jeden, der gezwungen ist den Sommer hier zuzubringen.«

»Und gestern Abend ist Graf Mengen angekommen. Der Gesandte hat nur darauf gewartet, um seine Badereise anzutreten. So bleibt er denn solo soletti! Freilich, reiten kann man überall, und auch allein ist's amüsant.«

»Beneidenswert! Und wo werden Sie hingehen?«

»Unbestimmt noch! Hie und da aufs Land, zu Freunden. Später nach Teplitz. Wenn Fürst Clary Wettrennen veranstalten wollte, wie sie doch jetzt in jedem zivilisierten Lande Europas und ziemlich an jedem Ort Mode sind, wo sich Leute der Welt zusammenfinden, so würde der dortige Aufenthalt bedeutend gewinnen. Das Gelände wäre vortrefflich. Die Wiener würden auch ihre Pferde schicken. Unbegreiflich, daß der Clary den Vorteil nicht einsieht.«

»Kennen Sie den Graf Mengen?« wurde gefragt.

»Ich sah ihn heut früh bei Feldern, seinem Universitätsfreunde, aber nur einen Augenblick. Wir wurden einander genannt. Dann ging er zu seinem Gesandten.«

»Wie sieht er aus? Hat er gute Manieren?«

»Ich denke, er muß pompös zu Pferd sitzen.«

»Aber, lieber Kentaur,« rief einer, »im Zimmer, im Salon kann man nicht zu Pferd sitzen und muß sich doch gut machen.«

Der Kentaur, der nichts Schmeichelhafteres kannte als diesen Beinamen, sagte:

»Wer gut reitet, macht sich überall und immer gut, hat Gewandtheit, Kraft, Haltung, Ungezwungenheit, – kurz alles, was ein Kavalier bedarf.«

»Auch Verstand?«

»Auch Verstand! Die Pferde sind kluge, schlaue, pfiffige, tückische Bestien, haben viel Ähnlichkeit mit den Weibern, müssen gehorchen lernen, auf den Wink, auf die geringste Bewegung. Es gehört viel Verstand dazu, ein tiefes Studium und ernste Beharrlichkeit, ihnen Gehorsam einzuimpfen.«

»Den Weibern oder den Pferden?«

»Beiden! Der Umgang mit diesen ist gleichsam die Vorschule zum Verkehr mit jenen.«

»Ich gratuliere Deiner künftigen Gemahlin, lieber Kentaur!«

»Hat noch Zeit! Bin noch nicht firm genug,« war die Antwort.

»Da kommt Feldern mit einem Fremden, wahrscheinlich Graf Mengen,« unterbrach jemand das Gespräch.

»Richtig, er ist's!« rief der Kentaur. »Ich wette, er ist ein großartiger Reiter!«

Neben dem kleinen, blonden, schmächtigen, zierlichen Feldern, der Hände hatte, weiß und zart wie ein Frauenzimmer, und ein Gesicht freundlich lachend wie ein vierzehnjähriges Mädchen, ging ein großer Mann, schlank und dunkel wie eine Tanne, von Scheitel zur Sohle ernst und fest wie aus Erz gegossen; aber die ganze Erscheinung wunderbar gelichtet, erleuchtet fast, durch seine Augen, die Lichtstreifen auf den Gegenstand zu werfen schienen, den sie anblickten; im übrigen aber vornehm gleichgültig, zerstreut selbstbewußt in Haltung und Wesen, kalt übersehend, spöttisch abwehrend in Wort und Ausdruck für die Masse, jedoch dem einzelnen nie Huldigung oder Bewunderung versagend, – so trat Graf Mario Mengen auf.

Feldern machte ihn mit all den jungen Männern bekannt. Einige empfingen ihn neugierig zudringlich; andere taten gleichgültig gegen den Fremden, den Uneingeweihten in das Geschwätz und die Liebhabereien ihres engen kleinen Kreises. Mario ließ alle schwatzen, gähnen, rauchen, setzte sich mit untergeschlagenen Armen, und blickte in die lachende Gegend hinein.

»Da zeichnet ja die Gräfin Faustine!« sagte Feldern plötzlich.

»Aber wo ist denn Andlau?« fragte einer. »Fast eine Stunde ist sie allein hier. Mich wundert, daß er das zugibt.«

»Daß er es erträgt!« rief ein andrer.

»Nun, nun,« sagte der immer begütigende Feldern, »sie sind ja beide nicht aneindergeschmiedet.«

»Glauben Sie nicht, Feldern, daß sie heimlich verheiratet sind?«

»Nein, denn sie könnten es ja wohl öffentlich sein, wenn sie wollten.«

»Wer kann's wissen! Das Ding hat gewiß seinen Haken.«

»O ganz gewiß!« rief ein dritter. »Zum Beispiel den eigenwilligen Kopf der Gräfin Faustine selbst, die, um etwas ganz Besonderes zu haben, in der Stille bestimmt tausend Martern ertrüge, – natürlich ohne sich selbst oder andern zu gestehen, daß es in der Tat Martern sind.«

»Es ist wahr. Sie hat ihre eigenen und eigentümlichen Allüren,« sagte Feldern.

»Ein Beispiel hat mich ungeheuer erstaunt,« entgegnete der andere. »Sie hat den ganzen Winter hindurch in allen großen Gesellschaften ein und dasselbe Kleid getragen.«

»In allen Gesellschaften! Sie geht doch wenig in die Welt.«

»Kann sein, aber wenn sie ging, so trug sie ihr himmelblaues Atlaskleid. Zuerst war das ganz gut; aber es ist doch wunderlich, öfter als drei bis viermal genau im nämlichen Anzuge zu erscheinen. In Italien herrscht die Sitte, daß Mütter ihre Kinder unter den besondern Schutz der Madonna stellen und sie deshalb in deren Farbe, hellblau, kleiden – ein Jahr, eine Reihe von Jahren, immer, je nachdem sie es gelobt haben. Ich fragte die Gräfin Faustine, ob sie ein solches Gelübde getan. Nein, sagte sie, aber das der Bequemlichkeit. – Ist dies natürlich bei einer Frau? Ich frage!«

Indem erhob sich Faustine, gab dem Bedienten das Zeichenbuch und nahm den Sonnenschirm. Dann stand sie ungefähr eine Minute lang am Geländer der Terrasse. Sie trug ein ganz schlichtes weißes Perkalkleid, den Hals umschließend, auf die Füße herabfallend. Kein buntes Band, keine Schleife, kein Schal störte den harmonischen Eindruck ihrer ebenmäßigen Gestalt. Ein tiefer weißer Tafthut verbarg ihr Haar, fast ihr Gesicht. Sie wandte sich langsam. Es sah aus, als bildeten die grünen Bäume ein Laubdach für andere, einen Tempel für sie. Sie ging mit dem Anstand einer Königin an den Herren vorüber, die sie freundlich grüßte, als sie Bekannte unter ihnen wahrnahm.

»Wer war die Dame?« fragte Graf Mengen lebhaft.

»Eben die Gräfin Faustine, von der wir sprachen.«

»Eine Fremde?«

»Ja; doch seit einigen Jahren hier wohnhaft.«

»Verheiratet?«

»Gewesen.« – »Vielleicht.« – »Man weiß nicht.« – »Witwe.« – »Unverheiratet!« – erscholl es von allen Seiten.

Mengen warf den Kopf herum: »Die Herren sind guter Laune.«

»Auf Ehre! Reine Wahrheit, was wir sagen!«

»Das Wahrste und Einfachste,« sprach Feldern, »ist indessen doch, wenn man sagt, daß Gräfin Faustine Obernau Witwe ist.«

»Kennst Du sie?« fragte Mengen.

»Recht gut.«

»Ist sie liebenswürdig? Kann ich sie auch kennen lernen? Nimm nicht übel, daß ich die törichtste aller Reden, eine fragende mache! Dem Fremden muß man das verzeihen.«

»Über diese Frau,« nahm ein anderer das Wort, »könnte man noch ein paar hundert Fragen tun, wenn es der Mühe lohnte, und jeder würde eine andere Antwort geben, weil ein Feld von allerlei Möglichkeiten bei solchem Verhältnis aufgetan ist. Aber eben weil ein solches Verhältnis stattfindet, kann man ja alle Fragen von Hause aus sparen.«

»Wann werden Sie dem Könige vorgestellt, Graf Mengen?« fragte einer.

»Ich denke, Sonntag, wenn er von Pillnitz herein kommt.«

»Ist der Wiener Hof von großem Rückhalt für die Gesellschaft?«

»Von gar keinem! Mit einer Cour hat die Gesellschaft, mit ein paar Kammerbällen hat der Hof seine Pflicht abgetan.«

»War das diesjährige Pferderennen glänzend, und wessen Pferd siegte?« fragte der Kentaur.

»Ich meine, es war ein Lichtensteinsches.«

»Das wissen Sie nicht einmal gewiß! Ich hoffe, Graf Mengen, daß Sie ein Liebhaber der Pferde sind.«

»O ja,« sagte Mengen gelangweilt, »nur nicht der Gespräche über sie. Sobald ich meine Pferde hier habe, will ich die Gegend weidlich durchstreifen.«

»Graf Mengen!« rief der Kentaur mit überquellendem Herzen. »Gleich vom ersten Augenblick an habe ich das in Ihnen vorausgesetzt. Ich habe eine schreckliche Freude, daß mich mein erster Blick in diesem Punkte nie trügt.«

Er packte seine Hand und schüttelte sie. Die Übrigen lachten und neckten den Kentauren mit seinem untrüglichen Urteil. Kein Demosthenes wäre imstande gewesen, dem Gespräch über Pferde eine andere Wendung zu geben.

Mengen stand auf.

»Die Tischzeit meines Ministers,« erklärte er grüßend, und ging.

»Nun, Feldern,« riefen alle durcheinander, »heraus damit! Erzählt, erzählt! Von seinen Verhältnissen, seinen Umständen, seiner Laufbahn!«

»Mein Gott,« sagte Feldern, »davon gibt es nichts Besonderes zu erzählen! Er macht die diplomatische Karriere wie jeder andere und wie er auch seine Studien machte – auf ganz gewöhnlichen Wegen, ohne besondere hohe Gönner. Und ob er Vermögen hat, weiß ich nicht. In Göttingen hatte er bald vollauf Geld und bald nichts; aber immer war er, als befehle er über Goldminen und verachte sie nur. Einmal kam ein Prinz dahin und brachte die Mode der kostbaren und eleganten Stöcke mit. Wir schafften uns alle dergleichen an. Mengens Geldbestände mochten gering sein; er hatte keinen. Da sagte er einmal bei Tisch. »Bah! Wer mag denn den Tambourmajor spielen und einen Stock mit blankem Knopf tragen!« – Es kam uns vor, als habe er uns dadurch zu Tambourmajors ernannt. Die prächtigen Stöcke verschwanden.«

»Solch ein riesiges Übergewicht kann auf der Universität jeder Raufbold haben.«

»Das war er nicht. Er schlug sich, wenn er mußte und dann tüchtig; aber nie suchte er Händel.«

»Wir wollen doch sehen, ob der Gesandtschaftssekretär das Übergewicht des Studenten hier wird geltend machen wollen und können.«

»Er scheint Lust dazu zu haben.«

»Ich glaube nicht,« sagte Feldern. »Er hat Lust aus der untergeordneten in eine unabhängige Stellung zu kommen, freie Hand zu haben. Seinen alten Minister wird er wohl etwas tyrannisieren; allein die Fanfaronaden der Burschenzeit liegen zu weit ab, um sie in die gegenwärtigen Zustände zu verflechten.«

»Wenn er sich in die Höhe bringen will, muß er eine Ministerstochter heiraten. Anders geht's heutzutage nicht.«

»Oder nicht heiraten! Das hilft bisweilen auch.«

»Rücksichten regieren die Welt,« meinte Feldern bedachtsam.

»Aber sie genieren teufelmäßig!« rief ein anderer.

»Ich habe das nie finden können,« entgegnete Feldern. »Rücksichten sind die Gleise, in denen der Wagen der Gesellschaft ruhig und sicher fährt, ohne mit andern zusammenzustoßen, zu zertrümmern und zertrümmert zu werden.«

»Aber es gibt breitspurige Wagen.«

»Nun, die halten halbe Spur und sind nach einer Seite wenigstens geschützt.«

Die Zigarren waren geraucht, die Tassen und Becher geleert, die Gespräche erschöpft. Jeder schlenderte seiner Wege; die Meisten zur Siesta.


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