Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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XXXIV.

Hat ein Mädchen die nächste Bestimmung des Weibes, die Ehe, verfehlt, so findet es, wenn die Stunde dieser Erkenntnis geschlagen hat und es fühlt, daß sein Harren und warten ins Leere hinaus nur immer neue Beschämungen bringt, die zuletzt sogar den Stolz wecken – so findet es das Glück des Lebens im emsigen Erfüllen seiner nächsten Pflichtgebote.

Martina, die Kammerzofe der Königin Maria, lebte seit Jahren den schwersten und angreifendsten Aufgaben.

Eine so von den Welthändeln umhergetriebene Frau, wie Königin Maria, die sich nach einer glücklichen Vergangenheit nie wieder den Träumereien der Phantasie überließ, ihren ganzen Beruf nur noch im ernsten Spiel mit den Menschen und Verhältnissen sah, gönnte sich als Erholung keine Genüsse der Weichlichkeit. Die Jagd härtete ihren Körper ab, der sich die größten Anstrengungen zumuten mußte. Sie kam fast nicht vom Pferde. Unablässig war sie auf Reisen. Jeden Augenblick, wo sie sich glaubte einmal der Ruhe ergeben zu dürfen, konnte sie gewärtig sein, von einer Nachricht aufgeschreckt, an den Rhein, nach Augsburg, Österreich oder Italien gerufen zu werden. In solchen Fällen mußte ihr Hofgesinde ebenso schnell zum Aufbruch bereit sein wie sie selbst.

Die strenge und ernste Haltung Martinas, die ganz von dem sonst in jener Zeit üblichen Leichtsinn, der an den Höfen waltete, abwich, hatten ihren Grund eben in dieser Schwierigkeit der Stellung eines weiblichen Wesens zu einem solchen Hofe. Martina war von Sittenlosigkeit umgeben und wollte solchem Beispiel nicht folgen, sie hatte den jungen Mieter im elterlichen Hause, Ottheinrich Stauff, wahrhaft geliebt. Sie hatte ihn geliebt mit der reinen Liebe eines kindlichen Herzens, das in der Liebe nur eine einzige Blüte sieht, die nur einmal und gleichsam nur aus einer einzig vorhandenen Knospe hervorbricht. Sie war ganz jenes einfache Bürgermädchen, das, wie Johannes Paumgartner zu Ottheinrich gesagt hatte, hinter ihrem Blumentopf nur einen Vertrauten hat, den stummen Hahn auf dem Kirchturm, dem sie von ihrem Arbeitsfenster aus plaudert und den Gegenstand ihrer still vor sich hingesummten Lieder nennt. Daß es üppige Gärten gibt, wo mächtige Rosensträucher mit einem nie zu lichtenden Wald von Blüten – Neigungen, die nur genießen, nur erkannt und erobert sein wollen – prangen, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Dann aber sah sie, wie Ottheinrich immer befangener wurde, immer gefesselter von dem Bilde der Tochter seines Prinzipals. Und als er dann die Werbung der Königin um den Eintritt in ihren Dienst durch eine offene Erklärung hätte hindern sollen ... ach! Sie hatte wohl darauf gewartet – und er es nicht getan hatte, da, mit dieser einen Täuschung, verblühten alle ihre Hoffnungen.

Eines Abends, es war in der Rosenzeit, machte Martina in dem prachtvoll angelegten Garten des neuen Schlosses Marienburg einen Erholungsgang. Es war bei ihrer hohen Frau Gesellschaft. Die Diener hatten vollauf zu tun. Die Dienerinnen konnten sich einige Augenblicke der Ruhe gönnen. Diese suchte Martina am liebsten in demjenigen Teil des mit Springbrunnen, Wasserbassins, Grotten, Tempeln gezierten Gartens, der dem ursprünglichen Charakter dieser Gegend, der freien Waldwildnis, am treusten geblieben war. Der Jagd zuliebe hatte die Königin für ihr Schloß eine Gegend gewählt, die ringsum Wildbann gestattete.

Der Garten war von einer Mauer umgeben, auch von Wachtposten behütet, die stundenweise von der Schloßwache abgelöst wurden. Da der Boden nicht immer eben dahinlief, sondern abwechselnd sich senkte und hob, so konnte man von den jeweiligen Erhöhungen aus über die Mauer hinwegsehen und die Landstraße verfolgen, die sich rings um den Schloßgarten zog.

Die Sonne war untergegangen. Sie hatte den westlichen Himmel in glühendes Abendrot getaucht, während sich der Horizont tiefblau nach der andern Richtung hin wölbte wie mit magischer Verklärung. Hier und da konnte ein scharfes Auge schon ein schimmerndes Sternbild entdecken.

Martina war nicht allein. Einige alte Dienerinnen begleiteten sie. Wäre sie allein gewesen, sie hätte nicht gewußt, was sie tun sollte, als sie vom Wege herüber von einem Mann gegrüßt wurde, der sich auf einer Anhöhe an einen Baumstamm gelehnt hatte, armverschränkt zum königlichen Schlosse sah und plötzlich ihr zunickte. Sie hätte mehr getan, als nur mit leichter Neigung des Kopfes dem Gruße erwidern. Denn jener Mann starrte sie unverwandt an, nahm zuletzt seinen Hut ab und ließ die volle Beleuchtung des Abendrotes auf seine freundlich lächelnden Gesichtszüge fallen. Ohne ihre Begleitung hätte sie ihn angeredet. Er hatte sie behandelt wie ein alter Bekannter.

Während neben ihr die alten Frauen plauderten, fühlte sie, daß es um ihr Herz immer wärmer und wärmer wurde. Ihr Pulsschlag beschleunigte, ihr Atem verkürzte sich. Um nur atmen zu können, mußte sie sich erheben und einige Schritte auf- und niedergehen. Auch da kam sie sich wie gelähmt vor. Die Fragen ihrer Begleiterinnen hörte sie schon nicht mehr. Der fremde Mann, der einen langen Bart trug, zwar in eine bürgerliche Tracht gekleidet war, doch ein Schwert an der Seite hatte, entfernte sich inzwischen. Eine reitende Wache machte die Runde, näherte sich soeben und verscheuchte ihn.

Das ist Ottheinrich Stauff –! hatten zu Martina alle ihre stockenden Pulse gesprochen. Er ist's nicht so, wie du ihn gekannt hast, wie er in deinem Gedächtnis, in deinen Träumen lebt – aber ich erkenne ihn nach den Schilderungen meiner Mutter –! So bedeckt jetzt ein Bart sein Kinn, so ist sein Haar auf die Art der Spanier am Scheitel und im Nacken gekürzt – so ruhig steht er, dem Schiffer am Steuer gleich, unter den Adligen, die ihm auf Hohenschwangau so schmeicheln und huldigen –! Wie kommt er hierher – Oder haben sich meine Augen getäuscht–? So dachte sie, als der Fremde gegangen war.

Der Fremde war ruhig den Hügel hinabgeschritten und allmählich in dem durch Baumgruppen unterbrochenen Wiesengrunde verschwunden.

Phantasiebildern nachzuleben hatte Martina schon lange verlernt. Wenn sie auch gewollt und dem Zuge des Herzens, der zuweilen träumerisch auf kurze selige Augenblicke selbst die gewissenhafteste Entsagung beirrt, gefolgt wäre, sie hätte es in der Überfülle der auf ihr lastenden Pflichten nicht vermocht. Immer mußte ihr Auge auf die Sonne gerichtet stehen, von der hier allein der Dienende Belebung, den Schein empfing, daß er mehr als nur ein totes mechanisches Gebilde war. Aber auch noch niemals war ihr zu Mute gewesen, wie soeben. Selbst bei den beiden Reichstagen in Augsburg nicht, vor drei Jahren und beim vorigen nicht, wo sie so oft in die Nähe der Annengasse gekommen war oder das Zimmer wiedergesehen hatte, das Zeuge ihres Glückes gewesen, des Glückes, mit kindlichem Liebeseifer dem Herberger den Morgenimbiß oder abends den gewürzten Schlaftrunk bringen zu können. Wie ein Wetterstrahl hatte sie dieser Gruß, dieser lang prüfende, gleichsam um Versöhnung bittende Blick getroffen. Selbst die beim Heimgehen wieder angetroffene Unruhe im Schloß brachte sie nicht zur Besinnung. Sie ging wie im Traume, hörte, was befohlen wurde, vollzog es, alles aber wie abwesend. Der alte Haushofmeister der Königin, Jan Weeninx, mußte ihr, was sonst niemals vorgekommen, heute zweimal sagen, daß die Königin an ihren langschleppigen grauen Reitkleidern, nach denen sie für morgen begehrte, etwas geändert wünschte.

Am folgenden Morgen ging es nach Brüssel. Kanzler Viglius war die Nacht im Schloß geblieben, Haller von Hallerstein, der noch immer die Finanzen der Königin, ihr schwierigstes Departement, leitete, hatte mit einigen Räten bis in die Nacht gerechnet. Reitende Boten waren noch spät abends von Brüssel gekommen. Daß es wieder Krieg geben würde, stand schon so gut wie fest.

In Brüssel beachtete Martina kaum, wie die Königin aufs lebhafteste von neuen Unternehmungen, die in der Regel auch ihre Dienerschaft aufs nächste berühren mußten, ergriffen schien. Wohl hörte sie, es sollte Zurüstungen zu einem Einfall nach Frankreich geben. Vom Kaiser waren Briefe gekommen. Die Königin ritt mit ihren Räten, zunächst ohne weibliche Begleitung, auf einige Tage nach Antwerpen, wo ein Strafgericht vollzogen werden sollte. Die zornigen Briefe des Kaisers, die aus Augsburg gekommen waren, galten gewissen Kaufleuten von Antwerpen. Martina erschrak über die Kunde. Wenn Ottheinrich Stauff dabei beteiligt war – er sich das neue, weltberühmt gewordene Schloß Marienburg nur auf Anlaß einer mit den Briefen des Kaisers zusammenhängenden Sendung ansehen wollte –? Daran dachte sie nicht, daß der so stolz gewordene Mann noch um ihretwillen allein die Marienburg aufsuchen könnte.

König Heinrich von Frankreich brauchte zur Erfüllung seiner Versprechungen an die Protestanten in Deutschland Geld. In Antwerpen saß ein großer »Finanzer« Kaspar Tuzzi, der heimlich alle Kaufmannschaft der Stadt aufbot, daß sie ihm, was sie nur an Kapitalien vorrätig hätte, zu einem Darlehen geben sollte, das Frankreich mit dreißig Prozent zu verzinsen versprach. Ja sogar die Faktoren der Welser, der eigene Tochtermann des Bartholomäus Welser, Hieronymus Seiler, hatte sich zu dieser Operation hergegeben, die für Haller von Hallerstein fühlbar wurde, als er auf der Börse in Antwerpen zu einem kaiserlichen Darlehen nur viertausend Gulden hatte auftreiben können. »Da schlage das Wetter drein –!« rief die Königin und untersuchte die »Praktiken« dieser »gottvergessenen Wucherer«. In damals üblicher Weise ließ sie die Posten, die eines Börsentages von Antwerpen ausgingen, sämtlich niederwerfen und ihre Briefe untersuchen. Da fand sich denn die Bescherung. Hieronymus Seiler, Kaspar Tuzzi und Alexis Grimel waren die Unterhändler einer französischen Anleihe. Ihre Häuser wurden durchsucht, und man fand Vierhunderttausend Kronen, die für den König von Frankreich bestimmt waren. Dieses Geld floß nun in die Kriegskasse des Kaisers.

Als es eines schönen Morgens hieß, die Dienerinnen sollten der Königin in einem Wagen bis Mecheln entgegenfahren und alles gewohnte Gerät der Königin mitbringen, da sie vielleicht in Mecheln bleiben würde, und dieser Wagen nun die Landstraße hinabrollte, da wurde Martina zum zweiten Male die Vision jenes Abends der Marienburg zuteil. Aus dem Fenster des gewaltigen, der Arche Noah gleichkommenden, von acht Maultieren gezogenen langen Kastens blickend sah sie (es war noch in der Vorstadt Brook, am Ufer der Senne, in einer Allee von breitkronigen Nußbäumen) zwei Reiter mit einer Koppel Rosse, deren fünf bis sechs aneinandergebunden waren. Der eine der Reiter war derselbe Mann, der sie im Garten der Marienburg so freundlich gegrüßt und so lange betrachtet hatte, wieder zog er seinen Hut und schien nicht einmal erstaunt, sie in dem Wagen zu finden. Sein Gruß erfolgte so ruhig und sicher, als hätte er sie in dem Wagen erwartet. Auch sein Gefährte, der an Jahren jünger schien, grüßte. Die Huldigung beider Männer konnte allerdings dem königlichen Wappen des Wagens und den reisigen Begleitern gelten. Um den letzteren Platz zu lassen, hatten sie sich mit ihren Rossen unter die Nußbäume zurückgezogen. Nach einer Weile traf Martina noch einmal des Reiters freundliches Nicken und Grüßen, als er mit seinem Gefährten an dem langsamer fahrenden Wagen vorbeijagte.

Martina saß wie erstarrt. Ihr hatte der stumme Gruß des älteren der Reiter, dessen mit dem vollen Bart und dem kurzgeschorenen Haar, geklungen wie ein Grüß dich Gott, Martina –! Kennst du mich denn nicht mehr –? Ich bin ja nur um deinetwillen hier –!

Er ist es! sagte sie sich, was aber will er hier? Mitten in der Bahn einer Fürstin, die ihn noch keineswegs vergessen hat –! Immer noch spricht sie von ihm, so oft sie nur die Paumgartnerschen – unbezahlt gebliebenen – Edelsteine anlegt –! So oft die Freiherren von Hohenschwangau in Augsburg ihre Besuche machten, ist von ihm die Rede gewesen. Hier sogar, in Brüssel, von wo sich der junge David den kaiserlichen Ratstitel holte und wie ein Krösus auftrat, der alle Welt mit Geschenken überraschte – spotteten noch einmal die Spanier über den Vorfall im Fuggerhause. Hatten ihn die Paumgartner gesandt –? Was sollte es dann mit den Rossen –? Ihre Rosse kaufen die Deutschen in Mecklenburg und Holstein, nicht in den Niederlanden –!

In Mecheln saß Landgraf Philipp von Hessen gefangen. Von Oudenarde, einer kleinen Stadt, die dem Kaiser zu nahe an der französischen Grenze zu liegen schien, hatte man ihn hierher gebracht. Martina hatte für diesen Fürsten keine Vorliebe. Königin Maria pflegte niemals zu unterlassen, nur das Schwärzeste von ihm zu erzählen. Sie nannte ihn einen Türken, der zwei Frauen zugleich geehelicht hätte, einen Missetäter, für den der Strick noch eine Gnade wäre; sie pries dagegen den gefangenen Kurfürsten, den niemand zu bewachen brauchte; ein ehrlicher Fürst hielte sein gegebenes Wort. Mit dem Landgrafen verglichen, nannte sie den Kurfürsten einen Heiligen. Voll Mitleid hatte Martina auch selbst öfters den gefangenen Johann Friedrich in Brüssel beobachtet. Von dort vertrieb ihn die Ankunft des kaiserlichen Prinzen Don Philipp. Er mußte ein einfaches Bürgerhaus beziehen, wohin er sich, trotz der ihm gemachten feierlichen Zusage einer fürstlichen Beherbergung, geduldig ausquartieren ließ. Zufällig war es eines Doktors Haus, in das er zog. Da stellten sich manche krank, nur um in jenem Hause den Kurfürsten zu sehen. Wie beklagte Martina, daß sie sich ihnen nicht anschließen durfte –! Er folgte geduldig dem Kaiser nach Gent. Martina blickte dort nicht auf die Ritterspiele, sie sah nur, wie mit ihr viele Tausende, auf ein einziges kleines Fensterchen in dem schönsten Rathause von der Welt, von wo der gefangene deutsche Fürst dem Schauspiel zuschaute.

In dieser rauschenden, großartigen, flandrischen Welt ein Wesen wiederzusehen, mit dem Martina in Augsburg zusammengelebt, dem sie jahrelang die innerste Sehnsucht des Herzens geschenkt hatte – es milderte ihre Aufregung, verscheuchte jeden Groll und ließ in ihr Herz jene Ruhe wieder einziehen, die lediglich schon längst die Grundstimmung ihres Wesens geworden war. Bald hatte sie nur noch das Bedürfnis, zu wissen, ob der Fremde wirklich Ottheinrich Stauff war, ob er ihrer bedürfte, sie ihm vielleicht einen Rat erteilen, irgendworin helfen könnte. Daß sie ihm jetzt mit Ruhe entgegentreten könnte, war sie sich bewußt. Ein herzlicher Händedruck war alles, was ihm noch die Besonnenheit eines Mädchens von dreißig Jahren als Ausdruck ihres Anteils aufbewahrt hatte.

Nachdem man Vilvorden erreicht hatte, eine uralte Stadt mit düstern Gefängnistürmen, deren enge Kammern dem Landgrafen zuweilen in drohende Aussicht gestellt wurden, wenn seine Freunde in Deutschland oder die Franzosen Miene machten, für ihn lebhafter als der Kaiser gestatten wollte, aufzutreten, gelangte man nach Mecheln. Noch war die Königin nicht angekommen. Aber gegen Abend erschien sie, triumphierend über den gelungenen Streich in Antwerpen, über den sie sogleich dem Bruder in heiterster Laune schrieb. Geld war nun vorläufig genug vorhanden. Man hatte die vierhunderttausend Kronen als ein Zwangsanlehen zurückbehalten und verzinste sie zur Strafe bei weitem billiger als es sonst hätte geschehen müssen. Von den dreißig Prozent der Franzosen war gar keine Rede. Die Augsburger Faktoren wurden nach einiger Zeit wieder entlassen. Tuzzi aber mußte seinen »Wucher« und »Landesverrat« mit längerer Haft büßen.

In Mecheln herrschte von je ein reges Leben, war doch auch damals schon die Stadt der Knotenpunkt aller Wege vom Rhein oder von Frankreich zum Meere hin. Der rege Verkehr in den Gasthäusern konnte an sich nicht auffallen. Dennoch ging es seit einiger Zeit in den Wirtshäusern »Zur Rose«, »Zum goldenen Adler«, »Zum roten Löwen«, lebhafter her, als man sonst gewohnt war. Die Frankfurter Messe war schon längst vorüber und dennoch hieß es, daß viele reiche Kaufleute im Anzuge wären und durch untergelegte Posten ihre Reise von oder nach Antwerpen zu beschleunigen wünschten. Die Königin lachte, als man ihr hierüber die Meldung machte, und sagte, manchen wird wohl die Angst von dannen getrieben haben –! Sie genehmigte jedoch alles, was zur Verdoppelung der Vorsicht über den fürstlichen Gefangenen angeraten wurde.

Der Landgraf hatte sein Gefängnis im »Noort-Haus«, einem alten Gebäude, das dicht in der Nähe eines innern Stadttors lag, das des Nachts geschlossen wurde. Es führte in eine Vorstadt, die ihre Sicherung wiederum nach außen durch Schleusen erhielt, die in dem sich rings um die Stadt ziehenden Dylefluß angebracht waren. Hinter vergitterten Fenstern hauste der nun schon seit vier Jahren gefangene Fürst, dessen wohlgenährte Leibesbeschaffenheit ein derartiges Einsitzenmüssen, das Entbehren des Reitens und Jagens qualvoll genug empfand. Ein neben dem »Noort-Haus« gelegener, auf die »Befferstraße« und den »Viehmarkt« hinausgehender Garten diente ihm zur Erholung. Man hatte ihm Diener, Pagen, Köche, sogar einen Narren gelassen, dessen sich die Fürsten selbst noch jener Zeit nicht ganz entschlagen konnten. Alles das mit einem gewissen Schein von Großmut, die der Kaiser an seinem Feinde ausüben wollte. Die Aufsicht führte eine Schar Spanier, die von einem Hauptmann befehligt wurde, der sich seiner hohen Verantwortung für den Gefangenen bewußt war.

Wieder einmal hatte die Königin einen ihrer gewohnten kleinen Ausflüge gemacht, als eines Morgens in erster Frühe das Hofgesinde, das sie zurückgelassen hatte, durch Trommellärm und Schießen erschreckt wurde. Die Sturmglocke wurde gezogen. Alles schrie und lief durcheinander. Die einen wollten wissen, Wilhelm von Hessen, der Sohn des Landgrafen, wäre vom Rhein mit dreißigtausend Mann gekommen. Die andern riefen, der Landgraf wäre bereits befreit, auf der Flucht aber erschossen worden. Zunächst wurden von den Spaniern, die im Sturmschritt anrückten, alle Straßen gesperrt. Aus den Fenstern des königlichen Schlosses sah Martina dem wachsenden Tumult mit klopfendem Herzen zu.

Das Wahre an der Sachlage konnte nicht lange verborgen bleiben. Der Landgraf hatte in der Tat entfliehen wollen. Die Vorbereitungen dafür waren in einer Weise getroffen, die man kopflos nennen müßte, wenn sich die Kopflosigkeit nicht großartig gezeigt hätte. Da hätte sie leicht ein Gelingen bringen können. Tollkühnheit gewinnt oft eher den Sieg als die kluge Berechnung. Zugleich hatte man auf die dem Landgrafen günstige Gesinnung der Bewohner Mechelns gerechnet. Der leutselige Fürst hatte ebenfalls, wie der gefangene Kurfürst, die Gewohnheit, von seinem Fenster aus Almosen auszuwerfen, Musiker aufspielen zu lassen, jedem Possenreißer, Bärenführer, Kameeltreiber, wilden Männern, die ihre Kraftkünste zeigten, Gehör zu geben, ja sich mit jedermann auf der Straße gemütlich zu unterhalten.

Das Hin- und Herreiten von Boten aus Hessen, von Abgesandten seiner Familie oder des Regentschaftsrats oder jenes Kommissars, der Hessen im Namen des Kaisers regierte, konnte kaum vermieden werden. Lebhaft ging es um den Turm des Fürsten immer her. Da konnte eine Entweichung, vielleicht in erster Morgenfrühe, wenn die Bauern zu Markte kamen, eher Förderung als Hindernisse finden. Man hatte den Spaniern heimlich die Möglichkeit genommen, die Flüchtigen auf Rossen zu verfolgen. In den Ställen hatte man ihnen das Riemenzeug durchschnitten und somit ein schnelles Satteln der Pferde unmöglich gemacht. Sogar die in damaliger Zeit umständliche Prozedur des Feueranschlagens war durch heimliches Fortschaffen der dazu nötigen Hilfsmittel gestört worden, so daß die Scharfschützen gehindert waren, schnell ihre Lunten anzuzünden. Das dem »Noort-Haus« nahegelegene innere Stadttor sollte, so war der Plan, in dem Augenblick schnell verrammelt werden, wo es aufgeschlossen wurde. Auf dem Wege von Mecheln bis zum Rhein, mehr als fünfzig Stunden Weges, war mit Rossen und, wo es Flüsse zu überschreiten gab, mit Nachen Relais gelegt.

Die Verschworenen benahmen sich aber nach deutscher Weise ohne alle Übereinstimmung. Des Landgrafen Narr wurde der Verräter des ganzen Anschlags. Nicht, daß der Elende das Vorhaben seines Herrn um einen Judaslohn verriet, er verriet es durch Schwatzhaftigkeit, die zu den Privilegien seines Standes gehörte. Des Landgrafen Narr wollte sich, wenn es ihm mit fortzukommen gelang, seine Reisebagage erleichtern. Da fing er im Wirtshaus »Zur Rose« an, seine Kleider zu verkaufen. Und zu gleicher Zeit hatte er Angst, er würde doch nicht mitkommen, würde zurückbleiben müssen und dann übel ankommen; darüber dann weinerlich und feige geworden, verriet er sich und die ganze Sache. Als vier mutige Deutsche, die zu dem in Antwerpen angezettelten großen Komplott gehörten, dennoch nachts in den Garten gestiegen waren, um dem Landgrafen, der schon des Morgens in der Dämmerung, so lautete die Verabredung, spazieren – rennen wollte (er hatte vorgegeben, die Wirkung einer eingenommenen Arznei zwänge ihn zu so frühzeitiger und schneller Bewegung), über die Mauer hinwegzuhelfen, da trat ihnen der spanische Hauptmann sofort mit zwanzig Bewaffneten entgegen. Es kam zum Kampf. Zwei der wackeren Deutschen verloren ihr Leben. Erst nur verwundet wurden sie schon vorm Fenster des Landgrafen aufgehängt. Die beiden andern entkamen. Das nahe Tor erleichterte ihnen die Flucht.

Die Seele des Anschlags war Anton von Wersebe, ein achtzehnjähriger Page des Landgrafen. Der andere Führer war ein Kaufmannsdiener von Antwerpen, Kurt Breidenstein. Auch von Kassel kamen einige treue Diener des Fürsten. Der Anschlag mißlang. Maria kam wie eine Furie von ihrem Ausritt heim, Folterknechte, Henker bereits in ihrem Gefolge.

Martina geriet in äußerste Aufregung. Gab man doch von einigen Flüchtlingen Schilderungen, die auf Ottheinrich paßten –! Jemand sollte, hieß es, beim Verrammeln des Tores geholfen, dann die Rosse draußen an der Schleuse gehalten, diese den Flüchtlingen rasch vorgeführt haben, selbst aber um das letzte Pferd, das auch ihn noch hätte retten können, durch einen andern gekommen sein, der sich statt seiner aufschwang. Dieser Zug des Edelmuts sah Ottheinrich ähnlich. Und noch am folgenden Tage hörte das Schießen, Alarmieren, Trommeln und Sturmläuten nicht auf. Die Runden der Spanier durchstreiften die Gärten, sogar den Garten, der hinter dem königlichen Schlosse lag. Hieß es doch, daß zugleich auch auf die Königin ein Mordanfall im Werke gewesen wäre.

Schlaflos verging Martina die erste Nacht. Die in den Berichten erwähnten zahlreichen Pferde konnten nur zu jener Koppel gehört haben, mit der sie Ottheinrich für ganz gewiß gesehen zu haben glaubte. Der kecke Breidenstein war der Beschreibung nach jener andere, der sie auf dem Wege von Brüssel gegrüßt hatte, wie die Kaufleute von Antwerpen dem Kaiser feindselig waren, das hatte ja der letzte Handel der französischen Anleihe bewiesen, wo sich sogar ein Agent des Bartholomäus Welser als nicht zuverlässig hatte verraten können –! Daß die Paumgartner schon ganz aus der Handelswelt ausgeschieden waren, konnte sich Martina nicht vorstellen. Im Geist sah sie Ottheinrich umherirrend, ihre Hilfe suchend, verzweifelnd.

Es war Abenddämmerung. Die Stadt war etwas ruhiger geworden. Das stürmische Läuten der Glocken hatte aufgehört.

Sie hatte den unruhigen Palast verlassen und war in den Garten gegangen, den der Dylefluß mit einer Terrasse begrenzte, der ein Zufluchtsort war, den auch die Königin liebte.

Als sich Martina der Terrasse, die von zwei Reihen ineinanderverwachsener Ahornbäume wie ein einziger großer Laubengang bedacht und angenehm beschattet war, genähert hatte, bemerkte sie abwärts an einigen Stufen, die zum Ufer des Flusses hinunterführten, Spanier mit hochaufragenden Waffen.

Anfangs glaubte sie, es wäre nur eine der gewöhnlichen Wachen, die das Schloß und den Garten der Sicherheit wegen zu umkreisen pflegten.

Bald aber sah sie, daß die Spanier mit einem besonderen Anschlag beschäftigt schienen. Sie hatten sich dicht am Ufer und am Fuße der Terrasse durchs Schilf geschlichen, hoben drohend ihre Spieße in die Höhe und ließen sogar eine Lunte aufflammen, als sollte es bei einem unter ihnen befindlichen Scharfschützen zum Schusse kommen. Es waren ihrer fünf bis sechs.

Zu gleicher Zeit streifte ihr Ohr ein Geräusch. Sie trat an den Rand der Terrasse und sah im Schilf einen Mann, der langsam einen Nachen fortruderte –

»Gott im Himmel –!« Dies Wort erstarb auf ihren Lippen. Der Atem versagte ihr.

In zerrissener Kleidung, den Hut ins Gesicht gedrückt, einen Mantel zu seinen von Kot besudelten Füßen, mühte sich dieselbe Gestalt, die sie seither für Ottheinrich Stauff gehalten hatte, durch das hindernde Schilf hindurch das andere Ende der Terrasse zu erreichen, wo ebenfalls, dort aber mit zwei schönen Bildsäulen geschmückt, eine Treppe zur Terrasse hinaufführte. Der Kahn war bunt bemalt und gehörte zum Inventar des Schlosses.

Schon kamen die Spanier von der andern Seite den Baumgang heraufgeeilt.

»Was ist – ?« rief Martina und stellte sich wie von einer Eingebung ergriffen den Herbeistürmenden, ihren Spießen und der Hakenbüchse entgegen.

Die Spanier schrieen wild durcheinander, vollkommen verstand sie, daß sie einen der Flüchtlinge entdeckt zu haben glaubten. In jenem Kahn hätte er sich versteckt gehalten.

Martina kehrte dem Kahn den Rücken. Sie hörte nur sein Dahinrauschen im hohen Schilfe, hörte nur das Anklingen des Ruderhakens am eisernen Gitter der Terrasse.

Dabei schritt sie selbst rückwärts, um den Andrang der Spanier zu hemmen. Sie wußte nicht, was sie tat. Nur immer rief sie auf spanisch:

»Das ist das Haus der Königin –! Ein Asyl –! Was wollt ihr hier – ?«

Und wie sie bis zur andern Stiege und an die Bildsäulen gekommen war und der Fremde einen Fuß aus dem Nachen gesetzt hatte, den andern auf den Boden des kleinen Fahrzeugs stemmte, dabei das Ruder mit den Eisenzinken entschlossen vorhielt, um sich zu verteidigen, da gab ihr der Gott der irdischen und der ewigen Liebe den Mut und die Selbstverleugnung ein, daß sie, die sie nimmermehr, wenn ihr Ottheinrich je im Leben wieder begegnet wäre, geduldet hätte, daß zwischen ihnen auch nur das leiseste Wort von Liebe von seiner oder von ihrer Lippe gekommen wäre, alles zusammenraffte, was sie von den am häufigsten vernommenen und an ihr Ohr gedrungenen spanischen Worten wußte, Worte der Liebe und der Huldigung, und ausrief:

»Ihr solltet euch schämen –! Denn wissen müßt ihr, das ist mein Geliebter! Was stört ihr ein Stelldichein, zu dem ich ihn bestellt habe –! Er wartete hier im Kahn auf mich –! Geht von dannen und achtet eine Dienerin der Königin, eine Deutsche, die einen deutschen Landsmann liebt und ihn hier erwartete –!«

Zu dem Fremden aber, der – von zweitägigem Hunger, von Schreck und Entsetzen halb leblos und totenbleich dastand und seine letzte Lebenskraft gesammelt hatte, um in Übereinstimmung mit ihrem Zeugnis gleichsam wie ein Lebensmutiger und unbefangen aufzutreten, sagte sie:

»Ottheinrich Stauff! Mein Geliebter! Tritt näher! wie lange hast du mich heute warten lassen –!«

»Mein Geliebter! Wie lange hast du mich warten lassen –!« So sprach die Braut im Hohenliede –

Ottheinrich fühlte, daß es eine unsichtbare Hand war, die ihn jetzt aufrechthielt. Denn an sich war er elend bis zum Niedersinken. Er stand wie ein verwitterter Baum, den ausgehöhlten, marklosen Weidenstämmen ähnlich, die am jenseitigen Ufer des trüben Dyleflusses mit Fruchtstadeln und Holzschobern zugleich die Aussicht verkümmerten. Alle Zweige des Muts und der Kraft waren ihm gekappt. Kaum konnte er sich noch auf sein Ruder stützen. Er hatte ausgestreckt auf dem Boden des Nachens zwei Tage und Nächte gelegen, nichts gegessen und getrunken. Das Fieber schüttelte ihn. Der Hunger kann uns den Menschenstolz nehmen, er läßt uns schaudernd fühlen, daß wir zunächst den Tieren angehören.

Die Spanier fluchten und lärmten zwar noch immer, hielten aber doch mit ihrem Angriff zurück. Der Führer sagte, der in so verdächtiger Lage Gefundene, vollends ein Deutscher, müßte ihnen folgen. Er deutete auf den Garten und die hintere Front des Schlosses, wo sich im mittleren Portal die Hauptwache befand.

Einige seiner Untergebenen sprangen hinzu und wollten den wahrlich nicht nach einem Stelldichein mit einer Hofzofe Aussehenden mit Gewalt führen. Die Kleider Ottheinrichs waren beschmutzt, die weiße Wäsche zerknittert, das Haar zerzaust, die Stiefel trugen die Spuren des Watens im Morast. Es mußte der äußersten Anstrengung bedurft haben, bis der Flüchtling des am diesseitigen Ufer festgeketteten Nachens habhaft werden konnte. Die Nägel an seinen Händen bluteten. Martina ließ in der Durchführung des falschen Scheins, den sie sich gegeben hatte, nicht nach. Sie ergriff die blutende Hand des Freundes, zwang sich zum Lachen und dann wieder zu scheinbarer Entrüstung über die Störung der geheimen Wege, die alle Liebe geht. In einzelnen abgerissenen spanischen Worten, die sie hervorstieß, lag den Spaniern vollkommen verständlich der Sinn:

»Schämt euch, die Ehre eines Weibes so bloßzustellen! Aber ich sehe es, ihr, der ihr hier befehlen wollt, seid kein Hidalgo –! Lacht nicht! Die Königin liebt freilich nicht, daß uns Männer besuchen. Aber die Nacht bedeckt auch wohl bei euch Dinge, die ihr nicht jedermann verraten sehen möchtet. Aber komm jetzt, Geliebter, ich will mich der Königin zu Füßen werfen und offen bekennen, daß du mein Landsmann bist, der nur um mich von Antwerpen gekommen, wohin dich deine Handelsgeschäfte führten –! Ich will bekennen, daß du schon vor unserer Ankunft von Brüssel heimlich hier auf mich wartetest und nicht minder, wie wir alle, ja mit noch größerem Unwillen, diesen Spuk unserer Landsleute, die Entführung des ketzerischen Landgrafen, beklagst –! Komm getrost! Diese rohen Schergen wollen nun einmal die Ehre einer Frau beschimpft sehen – mag es also geschehen –!«

Ottheinrich fühlte sich von Martinas Hand ergriffen. Sie führte ihn von dannen. Aus ihren zusammenhanglos ausgestoßenen, halb spanischen, halb deutschen Worten hatte er entnommen, welches Opfer sie ihm brachte. Er würde geglaubt haben, dies Opfer verschmähen zu müssen, wenn es nicht so wie von Gott gesendet, so wie von allen Leiden der Seele, von Reue und nagendem Gewissen befreiend geklungen hätte. Was ihm nie würde möglich geworden sein, über seine Lippen zu bringen, eine Erinnerung an die alte Liebe, die Martina für ihn und er doch wohl auch für sie gefühlt hatte, das gab der zwischen Leben und Tod entscheidende furchtbare Augenblick wie von selbst, wie ein natürliches Ergebnis der ersten Wiederannäherung. Ja, Martina kannte so sehr den Charakter und die Denkweise der Spanier und was sie in ihrer südlichen Glut von liebenden Frauen zu sehen gewohnt sind, daß sie den Arm um den Unglücklichen, der vielleicht den Weg des Todes schritt, geschlungen hielt und sogar auf seine Wangen und seine zerrissenen Hände mit zitternden Lippen Küsse über Küsse drückte.

Die Wildheit der Spanier fing an sich zu legen. Bei dem Fluchtversuch des Landgrafen waren ihrer mehrere erstochen, andere stark verwundet worden. Ihre Rache hatte anfangs jedem Deutschen gelten sollen. Der gemessensten Befehle hatte es bedurft, daß sie nicht auf der Stelle jeden Verdächtigen, den sie ergriffen, totschlugen. Doch begnügten sie sich jetzt, das Paar in ihre Mitte zu nehmen, den Gefangenen durch die Hecken und auf die Schloßwache zu führen.

Schon hatte das laute Rufen und Schreien beim ersten Angriff und der darauffolgende lebhafte Wortwechsel Aufmerksamkeit erregt. Frauen und Männer, wachthabende Trabanten der Königin kamen dem in der Nähe der Königin doppelt unziemlichen Aufzuge befremdet entgegen. Wurde die Königin an ihre Fenster gerufen oder mit dem Vorgefallenen bekannt gemacht, so konnte noch, wenn sie den Verhafteten zu sehen wünschte, die neue Gefahr eintreten, daß die Erinnerung an den vor Jahren stattgehabten Auftritt im Fuggerhause zu Augsburg vor ihre Seele trat. Fanatiker gab es genug in ihrer Umgebung, die jenem Auftritt beigewohnt und ihn noch jetzt nicht dem kühnen Kaufmannsdiener vergeben hatten. Ein Jüngling, der damals schon so vermessen auftrat, konnte sich wohl auch noch im reiferen Alter haben bereit finden lassen, die Befreiung des Landgrafen mitfördern zu helfen.

Wirklich hatte der alte Weeninx sogleich die Königin auf den Tumult aufmerksam gemacht, der an ihr Ohr nicht gedrungen war, da nur ihre Schlafzimmer nach dem Garten hinauslagen.

Die Mitteilung, daß Martina Schenck von Augsburg, die Hüterin und Pflegerin ihrer Kleider, die Sprödeste und Tugendhafteste von allen ihren Dienerinnen, auf der Terrasse an der trüben schilfbedeckten Dyle im Abenddunkel ein Stelldichein gesucht hätte, erregte zwar ebenfalls das laute Lachen der Königin, aber die Nebenumstände, die man entdeckte, das Verweilen des Amoroso in einem Kahn, wo man ihn aufgefunden, schienen ihr so seltsam, daß sie sich nach dem Delinquenten selbst umsehen wollte. Zunächst beschied sie Martina vor ihr Angesicht.

Diese warf sich, als sie eingetreten war, auf die Knie und beteuerte unter Tränen, die sie nicht zu erheucheln brauchte, daß sie schon auf dem Schloß Marienburg, dann in Brüssel und nunmehr hier in Mecheln heimlich von einem alten Freunde besucht worden wäre, den sie von ihren jüngeren Jahren und von Augsburg her liebgehalten hätte. Es wäre ein Kaufmann von Augsburg, jetzt in Antwerpen und einem großen Hause zugehörig. Beide hätten sie sich dahin verabredet, daß ihr Freund im Abenddunkel an der Terrasse erscheinen sollte. Da hätte er sogar das Waten im Flusse, der des Nachts, der Nähe des Meeres wegen, ebbte, nicht gescheut und sich in jenem Kahn so lange verbergen wollen, bis sie sich auf der Terrasse eingefunden. Auf diese Art wäre das Stelldichein zweimal geglückt, heute jedoch gescheitert, da der Nachen losgegangen wäre und den Harrenden durch sein Weitergleiten bis zur nächsten Schleuse verraten hätte.

Die Aussage der Spanier und einiger Räte, daß das Äußere des Fremdlings auf einen Einwohner des Gasthofs »Zur Rose« paßte, der mit den Anstiftern des Fluchtversuchs, namentlich mit Kurt Breidenstein, in Verbindung gestanden, geriet mit diesem in offenbarer Angst, Schamröte und stotternd vorgetragenem Bekenntnis in Widerspruch und verdächtigte und entkräftete ihr ganzes Zeugnis.

»Welchem Augsburger Kaufmann dient er – ?« fragte die Königin.

»Den Paumgartnern!« hieß es aus dem Kreise der Umgebung der Königin. Ottheinrich hatte in der »Rose« von seiner ehemaligen Beziehung kein Hehl gemacht.

Da hielt sich nun auch Martina, obschon sie anfangs über dies neue Moment einer Gefahr heftig erschrak, nicht länger zurück, sondern gestand:

»Ja, Majestät! Er dient den treuesten und aufrichtigsten Freunden des Kaisers –! Er ist die rechte Hand der Freiherren von Hohenschwangau –«

»Ich will ihn sehen –« entgegnete die Königin, die, als sie Martinas Stocken bemerkte, von einer Erinnerung ergriffen wurde, und fuhr fort: »Wir haben jetzt an den treusten und aufrichtigsten Freunden des Kaisers seltsame Dinge, und nicht bloß in Antwerpen, erlebt. In Antwerpen hat der eigene Eidam des vom Kaiser mit Gnaden überhäuften Bartholomäus Welser den Franzosen zum Kriege gegen uns Geld geliehen –!«

Dennoch lag noch in ihren Worten einige Milde. Sie hatte in der Tat Mitleid mit Martina, Mitleid mit dem Spott, der jetzt reichlich die tugendhafte »Begeyne« traf.

Martina stand weinend und wie von Scham vernichtet mit abgewandtem Antlitz.

Der Gefangene hatte einige Muße gehabt, sich äußerlich zu säubern. Schon im Garten hatte Martina, ihn mit zärtlichen Gebärden neckend, Früchte gebrochen und ihm Beeren, die an den Sträuchern reiften, Kirschen, die sie mit den Händen greifen konnte, in den Mund gesteckt. Dadurch hatten die Spanier noch immer mehr die Vorstellung von einer Verliebtheit fassen können, deren Glück sie durch ein Mißverständnis gestört hätten.

Der Gefangene wurde der Königin vorgeführt. Auch er beugte sogleich sein Knie.

Nach seinem Glauben war die Lüge »der Leute Verderben«. Und dennoch galt es hier, die Aussagen zu bestätigen, die Martinas heldenmütige Aufopferung nun einmal gemacht hatte. Aus allem, was sie schon seit dem ersten Schreckensaugenblick auf der Terrasse, unter den Mordgewehren der Spanier, gesprochen hatte, war ihm verständlich geblieben, was sie von ihm bestätigt wünschen mußte. Er verfehlte nicht, es zu tun. Dabei stellte sich Martina noch immer so verliebt, daß sich schon einige der Hofherren auf die Lippen bissen, um ihr Lachen zu verbergen.

Der Klang der Stimme Ottheinrichs wurde der Königin immer bekannter.

»Euer Prinzipal,« sagte sie forschend, »ist gestorben–«

»Zum Leidwesen aller derer, die ihn verehrten –« antwortete Ottheinrich.

»Was hattet ihr in Antwerpen zu suchen –?«

»Die Erbschaft der Söhne machte in der alten Faktorei des Hauses Erhebungen notwendig –«

»Wie lange seid ihr im Dienst des Freiherrn von Hohenschwangau –?«

»Seit meinen Jünglingsjahren! Ich zähle über sechsunddreißig–«

»Wart ihr nicht vor Jahren der Überbringer von Edelsteinen an mich –?«

Ottheinrich schwieg und blickte nieder.

»Nun kenne ich euch –!« sprach die Königin, und mit größerer Strenge, als sie bisher gezeigt hatte, fuhr sie fort: »Ich erinnere mich, daß ihr damals des Dienstes verwiesen, ja aus der Stadt verbannt wurdet –! Auch noch einem andern Frevel solltet ihr Vorschub geleistet haben, der in meinem Beisein auf dem Tanzhause verübt wurde –! Italiener machten einen Mordanfall auf einen der Söhne eures Freiherrn –! Wie könnt ihr sagen, daß ihr noch den Paumgartnern dient –?«

»Weil sie meine Unschuld erkannten, riefen sie mich wieder zurück –«

»Es ist des Freiherrn treuester Diener –« fiel Martina ein. »Er hatte die Gewalt über alle seine Schlösser und regierte sein ganzes Haus –«

Das mutige Zeugnis stockte, Martina mochte Gundulas gedenken. Die Hofherren lachten jetzt des plötzlich gehemmten Eifers.

Ottheinrich schwieg.

»Und ihr kanntet euch?« wandte sich die Königin wieder zu Martina –

»Ich wohnte im Hause der Eltern Martinas –« bezeugte Ottheinrich.

Die Königin wandte sich halb zu ihrer Umgebung, halb zu dem beschämten Paar mit den Worten:

»Bei unserer Mutter Gottes von Brügge! Das ist ein langer Brautstand gewesen –! Euch war Martina treuer, als vielleicht ihr eurer Braut! Darum erwartet auch nicht, daß ich euch erlaube, sie zu heiraten. Haben hier auch zu Mecheln die Priester gar nicht, wie ihr sie begehren würdet. Noch immer bin ich, wie ihr wohl in Brüssel und Mecheln vernommen haben werdet, weitab von euren Ketzereien, die nur die heilige Sache der Religion mißbrauchen, um im deutschen Reich des Kaisers Ansehen zu kürzen. Nach Antwerpen, wo es freilich der falschen Pfaffen und Franzosenfreunde genug gibt, gebe ich sie euch am wenigsten mit –! Gehet also getrost in euern Gewahrsam, den ich euch verordne, bis ihr euch von jedem Verdacht an des Landgrafen Meuterei gerechtfertigt habt! Haha –! daß auch die Jungfrau gar so wild um euch aufloderte –! Ei, ei, wo bleibt denn die Weisheit unserer Jahre –!«

Mit halb höhnischem, halb nicht allzu böse gemeintem Spott wurde Martina entlassen, Ottheinrich den Spaniern übergeben, die ihn auf einen Turm des Stadthauses, den sogenannten »Beyard«, führten.

Das Übermaß der geistigen und leiblichen Anstrengung gab Ottheinrich wie Martina wider Erwarten eine stärkende, allem Leid und allen Freuden der Erde entrückte Nacht.

Erst mit dem folgenden Morgen kam über Martina das ganze Gefühl der beschämenden Lage, in die sie geraten war. Männer und Frauen, unter denen sie bisher ihr Haupt stolz hatte erheben können, behandelten sie mit Spott. Der alte Weeninx sah sie gar nicht mehr an. Die Mägde bis zu den untersten Kehrfrauen kicherten hinter ihr her. Die Königin ließ sich von einer Französin bedienen, die mit Martina die Geschäfte des ihrer Obhut anvertrauten Faches teilte. Sie ertrug ihr Los, nur erwartend, daß die Aufopferung ihrer Ehre die Gefahr für den einst so innig Geliebten mildern und gänzlich abwenden sollte.

Den einst Geliebten –! Sie fühlte, daß es ihr wirklich an Kraft des Widerstandes gefehlt haben würde, wenn sie Ottheinrich hätte beim Wort nehmen und das Bekenntnis ihrer Liebe wahrmachen wollen. Wie aber konnte sie daran noch denken –!

Sie schickte Speisen, sogar geschriebene Zettel in den Turm, wobei sie den Schein beibehielt, den sie sich nun einmal gegeben hatte. Sie stellte sich wie betört von Leidenschaft, und die Hoffnung verließ sie nicht, daß Ottheinrich in seinen Verhören ihr Bekenntnis unterstützen und von ihrem Verhalten den möglichsten Vorteil ziehen würde.

In der Tat vernahm sie allmählich, daß der Annahme, den Fremdling hätte nur dieser aus alter Zeit wieder aufgenommene Roman in Mecheln gefesselt, Glauben geschenkt wurde. Der Gefangene, so hieß es, spräche seine Hingebung und Liebe ebenfalls in einer Weise aus, die sogar für seinen Verstand Gefahr befürchten ließe. Denn er säße trübsinnig in seinem Kerker, hielte stundenlang den Kopf mit beiden Händen und vergösse Tränen, so daß man ihn aufrichten und um sein Schicksal beruhigen müßte. Den jungen Pagen Anton von Wersebe hatte man auf die Folter gelegt und von ihm Bekenntnisse erzwungen, die er zuletzt freiwillig gab. Über Ottheinrich Stauff konnte von allen Gefangenen glücklicherweise nur wenig bekannt werden, da seine Ankunft in Antwerpen und die Bekanntschaft mit dem wohlgeborgen nach Deutschland entkommenen Kurt Breidenstein, die er bald nach seinem dortigen Eintreffen gemacht hatte, eine bereits so gut wie fertige, von Kassel aus geleitete Unternehmung vorgefunden hatte.

Wochen vergingen. Das bitterste Lebensweh war über Martina gekommen. Dieser Hof, wo sie bisher von allen so geachtet gelebt hatte, wo sie sich hätte behaupten können, wenn sie gleich anfangs bei ihrem ersten Erscheinen, als sie noch in Jugendblüte strahlte, den Gefahren der Verführung erlegen wäre, verurteilte sie jetzt, seitdem sich an ihr das Unglaubliche, das nie für möglich Gehaltene offenbart hatte. Noch war sie eine stattliche Erscheinung. Noch konnte ihr Auge leuchten. Ihre Haut war gebräunt, aber faltenlos. Die edelgeformten Gesichtszüge nahmen in Augenblicken der Erregung immer noch den Glanz der ersten Jugend an. Sie hätte noch jetzt ihre Lage verbessern können, wenn sie die nunmehr, nach dem auf der Terrasse vorgefallenen, ermutigte Bewerbung der Mitdiener und manches ihrer Vorgesetzten angenommen hätte. Aus alledem sah sie, daß ihre Würde hier verspielt, ihre Stellung untergraben war.

Obschon Martina seit der Gefangennahme des verdächtigen Liebhabers aus dem nächsten Leibdienst der Königin verwiesen war, drängte sie sich doch eines Tages zu ihr, warf sich ihr zu Füßen und bat um die Befreiung und das Leben Ottheinrichs.

Die Königin würdigte sie keines Blickes und wandte sich von ihr ab.

Am Morgen sagte ihr der alte Weeninx, sie sollte ihre Sachen packen und sich rüsten, nach Deutschland zurückzureisen. Die Königin, fügte er hinzu, machte ihr noch ein Geschenk von hundert Kronen, wollte aber sonst nichts mehr von ihr wissen. Nur etwas, das die Königin noch angeordnet hätte, sollte sie später erfahren. In drei Stunden müßte sie sich reisefertig am Lütticher Tor einfinden, wo sie ein Wagen erwarte, der sie bis Lüttich führen sollte. Von da ab müßte sie für ihr Fortkommen selbst sorgen.

Der alte Diener, der Vertraute der Königin, hatte bei Ausrichtung seiner Befehle eine einzige Sekunde lang seltsam gelächelt. Es war nicht ganz das Lächeln der Schadenfreude, das Lächeln des Spottes über die tugendhafte, jetzt entlarvte »Begeyne« gewesen. Es hatte im Lächeln des Alten ein Ausdruck von List gelegen.

»Was will mir die Königin noch – schenken –?« rief Martina, nicht wissend, ob sie dem Schmerz, den ihr die ungnädige Entlassung verursachte, nachgeben oder ob sie sich durch die Hoffnung auf die Gewährung ihrer so flehentlich vorgetragenen Bitte aufrichten sollte. Dann wieder schauderte sie's bei dem Gedanken an den oft so grausamen Humor dieser Großen –! Was konnte ihr nicht noch am Lütticher Tor als Erinnerung an Mecheln und ihren treuen fünfzehnjährigen Dienst geboten werden?

Mit Furcht und Zagen mußte Martina von dem bisherigen Kreise ihres ehrenvollen langjährigen Wirkens scheiden. Sie mußte den Unglücklichen, dem sie sich geopfert hatte, einem zweifelhaften Schicksal überlassen.

Wenn sie, an Weeninx' Lächeln denkend, an die Unmöglichkeit, daß die hohe Frau fünfzehn Jahre des treuesten Dienstes so lieblos mißachten sollte, sich der süßen Vorstellung hingab, daß vielleicht doch Ottheinrich befreit war, vielleicht mit ihr vereint die Rückreise in die deutsche Heimat antreten sollte, so überfiel sie nicht minder eine Herzensangst. Wie hätte das erst werden sollen –? fragte sie sich. Er, der die Gunst der vornehmsten Frauen gefunden hat, er wird über das Märchen, das ich den Häschern aufband, lachen. Ich, eine Verblühte – die ihn ja hassen wollte, ihn wie einen Toten betrachten, mit dem allein das Grab versöhne –!

Die drei Stunden waren um. Träger kamen, um ihr Gepäck ans Lütticher Tor zu tragen. Weeninx befolgte die Befehle seiner Herrin mit pedantischer Pünktlichkeit.

Am Lütticher Tor harrte ihrer der unförmliche Wagen, der einem aufgetürmten Sarge glich, und eine Geleitschaft von drei Reisigen, die den Befehl hatte, bis an die Schelde, also noch morgen den ganzen Tag, sie und das Gefährt nicht aus den Augen zu lassen.

Als sie, ihrer Tränen nicht länger mächtig, schnell im Wagen ihren Sitz einnehmen wollte, fand sie einen Begleiter, der sein Antlitz abwendete und sofort zur Seite rückte. Ihr Fuß zögerte beim Einsteigen. Wie gelähmt stand sie, die Hand mit den Riemen umwindend, mit denen man sich in den Wagen hineinheben mußte. Ihr Begleiter war Ottheinrich Stauff.

Als sie wie gebannt auf dem Tritt draußen stehen blieb, konnte er sich nicht erheben. Sein Gefühl beherrschte ihn zu mächtig. Er vermochte dem Wiedersehen nicht jenen Ausdruck zu geben, den die Umgebung voraussetzte.

Martina verstand, was ihm diesen Schein von Kälte, von teilnahmsloser Zurückhaltung gab. Um für die Zuschauer die befremdliche Wirkung zu verhindern, faßte sie sich schnell, vergewisserte sich der Unterbringung ihres Gepäcks, schwang sich in den Wagen und trieb den Fuhrmann und die Reiter zur Eile an.

Bis sie das Weichbild der Stadt verlassen hatten, saßen beide Reisende stumm nebeneinander.

Dann begann Ottheinrich mit der ihm eigenen, würdevollen Ruhe:

»Sollten wir nicht, liebe Freundin, zuvörderst mit Dank und Gebet zu Gott der Königin gedenken –? Die vielen Grausamkeiten, womit ihr Bruder, der Kaiser, auch schon ihr Gewissen belastete, hat sie durch eine Handlung des Edelmuts einmal unterbrechen wollen –! Für mich war es eine Gnade, für euch ist es leider – eine Strafe. Denn die hohe Frau hat nicht wissen können, daß sie über euch bitteres Leid verhängte. Oder muß es euch nicht ein solches sein, mich wiederzusehen –? In fünfzehn Jahren habt ihr zwar mein Andenken nicht vergessen und habt mir, vielleicht nur um eurer Eltern und um Augsburgs willen, das edelste Opfer gebracht – aber ich weiß wohl, wie schwer es euch geworden sein muß, nachdem ihr in Augsburg, so oft ihr dort gewesen, meiner kaum mit einem Worte gedacht habt –!«

Martina schwieg, sie empfand nur erst die Stimme Ottheinrichs und gewöhnte sich, diese zu ertragen. Allmählich bekämpfte sie ihr Zittern, um nicht den Inhalt seiner Worte zu überhören. Ottheinrichs Stimme hatte sich geändert, sie war voller, klangreicher, fester geworden.

»Ihr habt mich vom Tode errettet,« fuhr Ottheinrich fort, »und mir ein Leben wiedergeschenkt, das nahe daran war, seinen Wert für mich zu verlieren. Ich sinne vergebens darüber nach, womit ich euch danken soll. Schätze habe ich nicht. Dort in dem kleinen Bündel liegt mein ganzer Reichtum –! Die Spanier machen Beute auf den Schlachtfeldern und in den Gefängnissen. Auch die Gerichtskosten hab' ich bezahlen müssen. So kann ich nur Gott bitten, daß der bei euch mein Einsteher werde und das Vorgeschossene durch seine Gnade für mich auslegt. Möge es euch auf Erden wohl ergehen –!«

»Warum habt ihr das Leben nicht mehr lieb –?« fragte Martina endlich nach einer Weile, indessen sie eine Wallung des Unwillens niedergekämpft hatte, die sie über die Voraussetzung ergriff, als dürfte sie für ihre Selbstaufopferung ein äußeres Zeichen der Erkenntlichkeit beanspruchen.

Ottheinrich wandte sich ihr jetzt mit vollerem Antlitz zu und richtete aus seinen blassen, die Spuren der Gefängniszeit tragenden Zügen einen Schmerzensblick auf sie.

»Einen kurzen Augenblick des Schreckens,« sprach er, »hatte ich es wieder liebgewonnen oder soll ich richtiger sagen für den Vorgeschmack der Seligkeit selbst gehalten–! Das war, als mich die Todeswaffen der Spanier bedrohten, ihr aber zu mir sagtet: »Mein Geliebter! Tritt näher! Wie lange habt ihr mich warten lassen –!« O wie lange – wie lange, ja, habe ich doch das getan –! Aber ich glaubte schon im Grabe zu ruhen. Für euch – schon vor jenen beiden Schreckensnächten in dem schützenden Nachen. Warum ich solches geglaubt habe, wollet ihr auch das wissen? Ist es nicht genug, wenn ich bekenne, daß ich eures Zeugnisses, eurer Rettung längst unwürdig geworden zu sein glaubte –?«

Auf dies Wort konnte Martina nichts anderes tun, als lächelnd die Hand ausstrecken und dem von Reue und Schmerz gefolterten Freunde überlassen, ob er sie ergreifen, an sein Herz drücken wollte oder nicht.

Er ergriff sie stürmisch, dann, sich besinnend, legte er sie mit Ruhe auf seinen Schoß. Aber er hielt sie darum doch so fest, als sollten ihr die Schläge seines Herzens fühlbar werden.

Sie zog die Hand nicht zurück.

»Vergebt,« sprach sie, »was ich da in meiner Angst um euch getan habe! Ich bin von Todesqualen und Foltern die vielen Jahre hindurch hier so umgeben gewesen – ich habe die Königin schon so viel gräßliche Todesurteile unterzeichnen sehen – ich konnte mir nicht denken, daß Gott auch euch so schreckliches beschieden haben sollte –!«

»Meinet ihr nicht, daß das, was ihr tatet, auch Gottes Wille war –?«

»Gewiß meine ich das! Er hat es ja gesegnet –«

»Durch euer Unglück, eure Schmach gesegnet –?« rief Ottheinrich mit Schmerz.

»Wir ermangeln jedes anderen Ruhms, als dessen, den wir vor Gott haben sollten –«

»Die glänzendste Stellung habt ihr um mich verloren –! Den Ruf eurer Ehrbarkeit und Tugend vernichtet –!«

Martina unterdrückte den Seufzer, der sich ihrer Brust entwand, und sagte nur schnell:

»Lasset euch doch lediglich euer eigen Leid kümmern –!«

»Martina!« rief Ottheinrich aus und rückte ihr jetzt näher. Der rasselnde Wagen, der schwere Huftritt der Reiter auf den zuweilen gepflasterten Wegen zwang ihn, seine Stimme noch mehr zu erheben. »Kennst du das Wort des Apostels Paulus an die Römer vom wilden Ölbaum, auf den man wider die Natur die Keime des guten pfropft –?«

»Ob auch einige von den Zweigen abgebrochen werden müssen,« fiel Martina ein, die bei Königin Maria die Bibel ungehindert lesen durfte, »so sind sie doch heilig, da die Wurzel heilig war –«

»O kannst du mir auf diese Art fünfzehn Jahre des Irrens vergeben –?«

»Und die neuen Zweige des guten Ölbaums sollen sich nicht rühmen,« fuhr Martina fort, »daß sie an die Stelle der abgebrochenen gekommen –«

»Du strahlst selbst,« rief Ottheinrich überglücklich, »wie die Blätter der jungen Zweige des Ölbaums –! Ich habe sie in Welschland gesehen, wie sie glänzen können im goldnen Sonnenlicht –! O, Martina – auch ich bin alt –! Sieh, mein Haupt, mein Bart trägt schon den ersten Schnee des Winters. Du aber – nein, du bist die ewige Jugend –! Dein Herz, dein Geist ist der ewige Frühling –!«

Er hatte sie an sich gezogen und drückte jetzt mutig seine Lippen auf ihr Antlitz, das sich vor seligem Schrecken gleichsam wie vom Blut entleerte und darüber die schöne, dem Marmor gleiche Färbung des Todes empfing. Da wurde es das Bild der ersten Jugend wieder, das in seinen Armen lag – die Augen vor namenlosem Schmerz oder – vor namenlosem Glück geschlossen –

Aus Ottheinrichs Munde folgte eine überströmende, fortreißende und versöhnende Schilderung seines bisherigen Lebens, das aufrichtigste Bekenntnis der ehemaligen Doppelempfindung in seiner noch unreifen, mutlosen, zagenden Jünglingsbrust. Er verschwieg nichts, was ihn beirren konnte, nichts von den Lockungen, die ihm den Frieden der Seele raubten bei allem vorübergehenden Glück, das ihm sein Fall und der Stand der Sünde, wie er seinen Zustand der innersten Zerrissenheit nannte, gewährte. Wie er sich dann aber erhoben, sich losgerissen hatte, diese Schilderung gab er in einer Sprache, die in des Menschen Innerstes, in das Heiligtum der Seele, das nur Gott kennt, blicken läßt. Martina war versöhnt, wiedergewonnen, noch ehe Ottheinrich in seinem Bericht bis an das Wunder gekommen war, das sich zwischen ihnen vollzogen hatte. Denn ein Wunder mußte es wahrlich sein, was ihnen geschehen war –! »Nie,« sprach er, »hätt ich gewagt, wenn wir uns je wieder begegnet wären, eine Saite des alten Liedes, das zwischen uns verklungen war, zu berühren. Ich verließ Augsburg, ich wollte den Landgrafen befreien. In Antwerpen fand ich, daß dafür Gott schon andere Herzen erweckt hatte. Breidenstein enthüllte sich mir und gab mir, als er die Rollen austeilte, eine solche, die nicht mehr das Äußerste einzusetzen brauchte. Hatte ich früher den Gedanken gehabt, deine Hilfe zu suchen, Martina, so hätte ich dich jetzt entbehren können. Aber es drängte mich doch, dich zu sehen –! So begrüßte ich dich auf Schloß Marienburg, so auf der Landstraße vor Vilvorden. Nun – laß uns das Wort wahrmachen, das Gott auf deine Lippe gelegt hat, als du mich vor dem Grimm der Spanier rettetest! Du bekanntest dich als meine harrende Braut! Ja, laß uns ins Vaterland, für die Zeit hienieden und für die Ewigkeit dort, so zurückkehren, als wenn du in Wahrheit es gewesen wärest, und werde mein Weib –!«

Martinas Schweigen war Gewährung.

Ottheinrich bekannte zwar, daß er ohne Mittel sei. Doch hoffte er Freunde zu finden.

Da verwies Martina lächelnd auf ihre eigene Hilfe, ihre Habe, die sie mit sich führte, ihr Vermögen, das noch hochverzinst in Nürnberg stand.

»Und wohin gehen wir nun –?« fragte sie.

»Zunächst in die erste Kirche, wo sich ein Diener des Evangeliums finden wird, der uns im Namen des dreieinigen Gottes zusammengibt –! Oder – bedarfst du dafür noch des Meßopfers –«

Martina schüttelte das Haupt.

»Dann –?« fuhr Ottheinrich beglückt zu fragen fort.

»Überall hin, wohin du willst – nur nicht wieder nach Augsburg –!« antwortete Martina und fuhr mit den Worten der Schrift fort: »Wer Vater und Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert –!«

»O, ich hör' es, du hast dir den Tempel Gottes, den gereinigten, in deinem Herzen erbaut, deinen geläuterten Glauben für dich bewahrt –! Ich Überglücklicher –! Und nun höre meinen Plan –! »Meine Schwachheit soll meine Kraft sein«, wie Paulus sagt. Ich will Prediger des göttlichen Worts werden. Ziehen wir nach Sachsen –! Bald werden im oberen Deutschland die Stürme des Krieges beginnen. In Sachsen werden wir gesichert und ruhig sein, wir haben die Wahl zwischen Wittenberg, Leipzig und Jena, der neugegründeten Zufluchtstätte der reinen Lehre–«

Ottheinrich schilderte, wie oft er schon dem Predigtamt nahe gestanden hätte. Sein ganzes Denken und Fühlen, sagte er, wäre jetzt dahin gerichtet, daß er eigentlich nach alter Weise in ein Kloster gehen müßte, in eine einsame Zelle, wohin nichts von der Welt, als nur noch das Säuseln eines Lindenbaumes vorm Fenster und das Zwitschern eines Vogels dränge. »Ein beschauliches Leben, ein tief aus der Wurzel des Ölbaums heraustreibendes« – sagte er – »wenn diese wirklich heilig geblieben, ein Lebenssaft, der in die alten und in die neugewonnenen, neu auf jene alten geimpften Zweige dringt, will sich dem ganzen Menschen mitteilen, ihn läutern, ihn erneuern. Wie könnte ich das besser als geradezu im Dienste des Herrn –! Was ich so an mir selbst vollbringen will, wird dann auch ein Vorbild für andere sein.«

»Deine Klosterzelle,« sprach Martina, »das soll draußen die Welt sein –! Dein Brevier, nun denn, mit Gott, das heilig Evangelium –! Aber der Baum mit dem Vögelchen drauf das ist dein Haus und dein Weib –!«

Ihre Hände hielten sie verschlungen und sahen sich staunend und glücklich zugleich in die Augen.

Sie mußten die ganze Nacht hindurch fahren. Die Reisige wollten es so. Hinter Lüttich nahmen sie Abschied von ihnen.

Für den Wagen, der ebenfalls zurückging, wurde ein neues Gefährt bis nach Köln gemietet.

Schon in Herbestal, dicht an der deutschen Grenze, fanden sie einen Pfarrer, der nach neuem Brauch ganz einfach im Namen des dreieinigen Gottes die Hände der Liebenden zusammenlegte.


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