Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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XII.

Volle Einsamkeit war es indes nicht, die Ottheinrich umgab. Die Straßen blieben belebt. Hirten standen am Wege. Sie grüßten freundlich. Volkreiche Dörfer und Weiler kamen – Stetten, Oberndorf.

Muße fand sich für den Reiter genug, der Bürden von Tatsachen zu gedenken, die er dem kaiserlichen Rat überbrachte. Wird also nun wirklich, sagte er sich, der verhängnisvolle Ankauf Hohenschwangaus zustande kommen? Wie werden sich zu solcher Erhöhung des Hauses die Familienglieder verhalten, Johannes, der Wunderliche, Antoni, der Mißratene, Johann Georg, von dessen Naturell Ottheinrich nur eine dunkle Kunde hatte, David, zurzeit durch seine Jugend noch ein unbeschriebenes Blatt – Gundula –! Bei diesem Namen zuckte es in ihm auf.

Doch rasch kehrte die Besinnung zurück. Denn zu nahe lagen die Fragen, die er sich aufwerfen mußte: Welches sind die auf des Rates Erhebung in den Reichsritterstand begründeten Pläne des ehrgeizigen Mannes? Wie wird sich seine kaiserliche Gesinnung, die um alles in der Welt mit Wien, Innsbruck und Brüssel gehen wird, mit dem Einschreiten der Regierung Tirols abfinden, wenn diese entschlossen sein sollte, die Hand auf jene demnächst an den Kaiser zurückfallenden Lehen zu legen? Kann der Rat, ein Handelsmann, ein Gelehrter, hoffen, die kaiserliche Belehnung zu erhalten, berechtigter Teilnehmer der Reichstage zu werden, neben den Kurfürsten, Landgrafen, Bischöfen und Städten des Reichs zu sitzen? Werden nicht die Fugger, wenn sie diesen Plan in Erfahrung bringen, Hindernisse zu stellen suchen? Und könnten nicht jetzt die Nachrichten über die Führung des zweiten Sohnes, über die Flucht seiner Gattin nachteilig auf die Bürgschaften wirken, die sicher der Kaiser für die würdige Fortpflanzung des Namens der Schwangauer Freiherren verlangen wird – –?

Lebhafter und lebhafter trat ihm das Bild der Königin Maria entgegen, welch ein Glanz für Augsburg! Welche Festlichkeiten, Aufzüge, Schaustellungen der Macht des Kaisers einerseits und der Kraft und – scheinbaren Ergebenheit der Stadt anderseits erwarteten ihn –!

Schon war die Sonne im Sinken begriffen, als Ottheinrich am Ufer der Wertach dahinreitend die Türme Kaufbeurens zu erblicken glaubte. Langsam seinen Weg verfolgend, im Geist die reiche Ernte der seit Monaten empfangenen Eindrücke ordnend, richtete er mit der Zeit seine Aufmerksamkeit auf eine Staubwolke, die ihm anfangs von Kaufbeuren entgegenzukommen schien. Sie schien einen Zug von Wagen und Reitern Zu verhüllen.

Näher herangekommen erkannte er eine Gesellschaft von Reisenden, die an einem Kreuzwege hielt. Beim ersten Anblick konnten sie für fahrende Komödianten gelten, wie sie schon damals in großer Zahl durch Deutschland reisten und nirgends lieber gesehen wurden als in München und Augsburg.

Als Ottheinrich den Zug erreicht hatte, fand er, daß ihm ein Unfall begegnet sein mußte. Zwischen zwei mit weißem Leinen überspannten Wagen, die sich ihm jetzt als nur zwei Karren, doch mit zwei großmächtigen Rädern, zu erkennen gaben, fand sich eine Gruppe beisammen, die an einem Vorgang beteiligt schien, den Ottheinrich nicht sogleich übersehen konnte.

Näher gekommen erkannte er, daß ihm einige der Männer durch Zeichen zu verstehen gaben, er sollte sich beeilen. Er tat es mit Vorsicht. Es kam ihm jetzt der Gedanke an jenes unheimliche Volk, das damals, mit List oder Gewalt, mit Zauber- und Teufelskünsten die Menschen berückend, zum erstenmal in Deutschland aufgetaucht war – die Zigeuner. Das Winken und Rufen der staubumhüllten Karawane fand um ein Kind statt, das tot am Wege in einem Graben lag.

Ottheinrich verstand jetzt, daß es italienische Laute waren, in denen man ihn anrief.

Als er eine auf dem Boden hockende und liebevoll mit dem Knaben beschäftigte Frauengestalt erblickte, verließ ihn die Vorstellung von Zigeunern, sollte er auf seiner abenteuerlichen Reise mit den Steinmetzen und Bildhauern von Padua, mit Vittoria Ferrabosco und ihren Brüdern und Genossen, zusammengetroffen sein –?

Noch war zur Erkundigung darüber keine Gelegenheit gegeben. Zunächst war die Sorge, die man dem Knaben widmen mußte, dringender. Fast ein Dutzend Männer und jenes junge Weib, das eher einer Deutschen glich – ihr Haar wand sich in dichten rotblonden Flechten um die Schläfe – waren mit dem Knaben beschäftigt, der den abenteuerlichsten Anblick bot. Denn so klein er war, er trug schon eine weiße Mönchskutte und darüber ein schwarzes Skapulier. Mit todblassen Mienen, verschmachtet und sprachlos lag das wunderlich gekleidete Kind in den Armen der Italienerin, von deren Schönheit, als sie sich erhob und umwandte, Ottheinrich mächtig ergriffen wurde. Er gab jedes Mißtrauen auf. Bald erfuhr er, daß die Italiener in der Tat Kunstgenossen waren. Auf ihrer Reise nach Augsburg hatten sie das Kind am Wege gefunden und sehnten sich nach einer der Landessprache kundigen Mithilfe.

»Seid ihr doch nicht,« platzte nun in der Tat Ottheinrich mit freudiger Überraschung heraus und ebenso durch den Gebrauch der welschen Sprache die Italiener erfreuend, »seid ihr doch nicht jene Künstler von Padua, die mit Signora Ferrabosco nach Deutschland gezogen sind?«

»Si! Si!« war die einstimmige, überraschte Antwort aller. Das höchstens zehn Jahre alte Kind, das nur vor Ermüdung und Schwäche bewußtlos lag, sonst aber atmete, durfte nicht minder Ottheinrichs Aufmerksamkeit erregen. Es trug das Kleid der Prämonstratenser und gehörte vielleicht dem Kloster von Steingaden an.

Allmählich fing der Knabe mit den Augen an zu zucken und die Finger zu bewegen.

Kaum fähig, der wilden Flucht der Gedanken zu folgen, die Ottheinrich durch diese lebhaften Erinnerungen an Padua und die dort empfangenen mannigfaltigen Eindrücke geweckt wurden, erfuhr er, daß das seltsam gekleidete Kind schon zum vollen Bewußtsein zurückgekehrt, dann aber, als es bereits gesprochen, in seine Starrheit wieder zurückverfallen war. Die Worte, die das Kind gesprochen, hatte von den Italienern niemand verstanden, was nicht wundernehmen konnte; sie hatten von der Sprache des Landes, in das sie reisten, nicht die geringste Kenntnis.

Die Italiener mußten den Reiter, der getrost sein Roß einem Mitglied der Gesellschaft zur Verwahrung übergab, seiner schönen Kleidung wegen für einen Edelmann halten, sie erwiesen ihm die größte Ehre, ließen ihm auch in allem, was er anordnete, freie Hand.

Ottheinrich begann zwischen die erblaßten Lippen des Kindes Wein zu träufeln, den er auf seinem Rosse selbst in Vorrat hatte.

In der Tat regte sich der Knabe.

»Wer bist du?« redete Ottheinrich ihn mit sanfter Stimme an. »Sprich, wenn du mich verstehst!«

Als Ottheinrich diese Worte einige Male liebevoll wiederholt hatte, sah ihn der Knabe mit aufgerissenen Augen an, verzog die Miene wie zum Lachen und schüttelte mit dem Kopf. Das Lachen war die Bewegung eines Krampfes.

»Du kommst aus Steingaden! Von den Prämonstratensern! Kannst vielleicht das Wort kaum aussprechen, das wir dem Papsttum verdanken! Oder woher kommst du? Sprich!«

Der Knabe blieb stumm, behielt aber die Augen offen.

Sein Rat, den Knaben in einen Wagen zu legen, ihn dort in Decken zu hüllen und nicht länger auf der, Landstraße, die schon Zeugen des Vorfalles brachte, zu verweilen, sondern langsam auf Kaufbeuren zuzufahren, wurde sofort ausgeführt.

Als man ihn in wollene Mäntel und Decken gehüllt und die Italienerin sich zu ihm gesetzt hatte, sprach er auf Ottheinrichs nochmalige Anrede, wer er sei und wohin er sich gebracht zu sehen wünschte, einige Worte, die indessen keine deutschen waren.

Eben zogen die Rosse an. Schnell bedeutete Ottheinrich die Führer anzuhalten und wiederholte die Worte, die der Knabe gesprochen, so gut er konnte. Er suchte deren mehrere hervorzulocken.

Die Worte, die er hatte behalten können, lauteten etwa wie siralom und hontholam

Kössenem! fiel der Knabe ein, als sie Ottheinrich nachgesprochen hatte.

Aber schon dies Wort verhauchte. Wieder sank er in sein Ruhelager zurück.

Kössenem? Kössenem? wiederholte sich Ottheinrich und besann sich, welche Sprache dies sein könnte.

Inzwischen ging der Zug langsam vorwärts auf Kaufbeuren zu, dessen Türme im letzten Abenddämmern kaum noch sichtbar waren.

Die Italiener hatten das Bedürfnis der Mitteilung.

Unablässig die fremden Worte wiederholend und sich besinnend, in welcher Sprache er sie unterbringen sollte, erfuhr Ottheinrich, daß die gesamte Gesellschaft durch einen Brief des weltberühmten Malers Tiziano in Venedig den Augsburger Fuggern empfohlen war. Der Principe Fugger, sagten sie, hätte aus Gefälligkeit für den großen Tiziano erklärt, daß er zu jeder Zeit Künstler, die er ihnen zusenden würde, wenn sie nicht Aufträge fänden, die ihnen genehmer wären, beschäftigen wollte.

Ein Mann in vorgerückten Jahren mit grauem, langem Barte, der neben Ottheinrich zur Linken ritt, schien der Führer der ganzen Gesellschaft zu sein. Er nannte sich selbst »den berühmten Baumeister Luzio de Spari aus Neapel«. In seinem Wesen lag die eigentümliche Strenge und bedeutsame Schweigsamkeit, die Männern eigen zu sein pflegt, die ihre Schöpfungen durch ein kraftvolles Zusammenhalten vereinter Kräfte hervorbringen müssen.

Ihm zur Rechten ritt ein etwas geckenhaft gekleideter, zuweilen den Kopf keck und spöttisch in den Nacken werfender junger Mann, der sich Architekturmaler Luigi Costa nannte.

Die beiden Brüder Ferrabosco, Pietro und Jeronimo, dann die Gebrüder Zorzo und Andrea Spaveso aus Vicenza waren Bildhauer oder Steinmetzen.

Vittoria war die einzige, die ein wenig über diese Vorstellung lächelte. Ottheinrich erkannte bald, daß sich Luigi Costa wie ihr Paladin geberdete. Er umschwärmte sie zuerst zu Fuß, jetzt zu Roß wie ein Irrwisch.

Ehe sich die Bildhauerin, die auf Reisen ging, um sich, wofür Ottheinrich nach der Tiefe seines Gemüts sogleich aus ihren Augen heraus die Bestätigung las, der Demütigung einer gescheiterten Ehehoffnung zu entziehen, wieder in ihren Wagen unter die bunten Teppiche zurückbegeben und sich der Länge nach hingestreckt hatte, war sie von allen wie eine Fürstin bedient worden. Über ihre rotblonden Zöpfe trug sie eine kleine dicht am Nacken anliegende Haube von grünem Samt; zur Erde nieder ging ein dunkelbraunes Kleid von einem leichten Wollenstoff, ebenfalls enganliegend, und am Arm, um Brust und Hüften die schlanken Formen ganz nach den äußeren Umrissen der Natur wiedergebend. Über der Achsel und unten am Saum befand sich die einzige Verzierung ihres Kleides; dort bestand sie in einem Kranz leichter Puffen, hier in einem Besatz von derselben grünen Farbe wie die zierliche Haube. Der Kopf der schlanken Gestalt war von ebenmäßiger Schönheit, das Auge tiefblau, der Mund nur klein, die Stirn beinahe unsichtbar unter den dichten Flechten, die über ihr hinweggewunden waren. Mehr vor Befangenheit und Aufregung als von Natur war ihre Gesichtsfarbe gerötet. Als sie in den Wagen stieg, sank sie erschöpft auf die Kissen und Tücher ihres Lagers und zog das in Decken gehüllte Kind dicht an sich heran, leise ihm manches Wort der Liebkosung und der Ermunterung zuflüsternd.

Gehoben von der Fülle der Offenbarungen des Schicksals, die ihm wie einem Richter über anderer Menschen Taten und Unterlassungen zuteil geworden, redete Ottheinrich die Brüder Vittorias darauf an, ob sie nicht jene Paduaer Steinmetzen wären, die vor einiger Zeit in Venedig beinahe ihr Leben verwirkt hätten, als sie dort auf der Börse einen Mann hätten erstechen wollen, den sie den Elendesten der Menschen genannt.

Totenstille folgte dieser Frage, starres Betrachten des Sprechers, gegenseitiges Anblicken der Italiener untereinander, ein Wenden des Kopfes nach Vittoria, die vom Gespräch nicht alles verstehen konnte und auch diese Frage nicht gehört hatte.

Die Brüder bestätigten hierauf, daß sie diese Steinmetzen wären, und sagten fast einstimmig:

»Es war unser Todfeind, den wir zu züchtigen suchten!«

Pietro Ferrabosco setzte hinzu:

»Wir würden ihn auch erreicht und gestraft haben, wie er verdiente, wenn nicht das Gewühl der Menschen zu groß und die Wächter des San-Marco zu zahlreich bei der Hand gewesen wären. Sie fielen uns in den Arm. Redet aber davon nicht in Gegenwart unserer Schwester!«

»Wen hattet ihr damals gesucht und gefunden?« fragte Ottheinrich mit gemäßigter Stimme.

»Wir glaubten,« antwortete der ältere Bruder, »den Grafen Traversi aus dem Friaul gesehen zu haben, der in Venedig weilte. Ganz Padua wird euch von unserer Schande erzählt haben!«

»Graf Traversi!« wiederholte Ottheinrich mit erleichtertem Herzen. Er hatte erwartet, den Namen Antonius Paumgartner zu hören.

»Der Elende wollte Güter bei Udine haben,« fügte Pietro Ferrabosco hinzu. »Aber –« schloß er mit einer bezeichnenden Geberde, »wer kann alles wissen –!«

»Seid ihr sicher, daß es ein Italiener war?« fuhr Ottheinrich, durch diesen letzten Zweifel wieder zaghafter geworden, fort.

»Ein eingeborener Italiener,« bestätigte Jeronimo, »soweit die Udineser Italiener sind!«

»Unsere Familie, Herr,« setzte Pietro hinzu, »kam vor altersher aus der Allemagna. Sie stammt von dem deutschen Meister Hans Ferrenbach, der in Bologna für San Petronio den heiligen Apostel Paulus und die Madonna geschaffen hat.«

Die Brüder hatten zwar den ausgesprochenen Typus der Italiener. Aber Vittoria schien die Art ihrer deutschen Heimat bewahrt zu haben.

Der alte Luzio de Spari erging sich in Verwünschungen des Grafen Traversi und gönnte dem Verräter alle Dolche Italiens. Näher an Ottheinrich heranreitend erzählte er mit halblauter Stimme, welch frevles Spiel ein Fremdling mit Vittoria getrieben hatte. Er sagte, der Heirat, die ihre Begleiterin zur Contessa Traversi hätte erheben sollen, hätte nur noch der Segen aus Priestermund gefehlt. Plötzlich hatte sich der liebeglühende Freier, der die junge Braut mit kostbaren Geschenken überhäuft und sicher gemacht hatte, nicht mehr sehen lassen. Anfangs hätte man an einen Unglücksfall geglaubt. Bald aber wäre Vittoria dem Gespött und Gelächter der Welt preisgegeben gewesen. Denn den Forschungen zufolge, die man in Udine nach dem Grafen Traversi anstellte, war ein solches Geschlecht dort gar nicht vorhanden. Schließlich hieß es, in Venedig wäre Graf Traversi gesehen worden. Dorthin reisten nun die Brüder, glaubten ihn auf der Börse gefunden zu haben und verloren seine Spur. Um Schimpf und Spott zu entgehen, hatte Vittoria den Rat des großen Tiziano befolgt, der sie an die Fugger, die Mediceer Deutschlands, verwies.

Ottheinrich ließ sich die Gestalt des Grafen Traversi beschreiben.

Sie traf in einer Weise auf Antonius Paumgartner zu, die ihm den Mut benahm, weiter zu forschen.

Als man die Frage an ihn richtete, woher denn ihm, der in Padua doch nur als Fremder eine kurze Zeit verweilt hätte, die Kunde dieser trüben Dinge geworden, erzählte er seine Unterhaltungen mit der Patrona des San-Marco. Alle mußten lachen, als er gar des Auftrags Erwähnung tat, den sie Vittoria für die Reise gegeben.

Als der gesamte Zug wieder in Bewegung gekommen war, hielt sich Ottheinrich in der Nähe Vittorias, die nun auch ihrerseits Zeichen des Erstaunens gab über alles, was sie soeben vernommen hatte. Sie deutete auf den Brusthemdknopf, den sie selbst trug, die eine der ihr anvertrauten Gaben. Auch nach dem Psalter, einem in ihrer Nähe liegenden, in Pergament gebundenen Buch von etwas unhandlichem Format, langte sie und hielt ihn in die Höhe. Ebenso streifte sie ihre Handschuhe von den Fingern und zeigte den goldenen Reif des Ermordeten, dessen trauriges Schicksal ihnen allen bekannt war.

Sie nahm den Knopf, der ihrem Kleide zur Befestigung diente, und übergab ihn den Brüdern, um ihn Ottheinrich zu zeigen. Die Gemme war ebenso schön der Ausführung wie dem dargestellten Bilde nach. Da sie ihm ferner noch den Psalter und den Ring zu näherem Augenschein hinreichen lassen wollte, bat er, davon abzustehen, bis sie in Kaufbeuren sein würden, das sie denn auch endlich mit Einbruch der Nacht erreichten.

Die alte turmreiche Stadt nahm die so abenteuerlich auftretenden Ankömmlinge erst nach mancherlei Ausweisen über ihr Woher und Wohin auf. Einer weitläufigeren Anmeldung beim Stadtvogt überhob sie die Bürgschaft des deutschen Begleiters.

Der Lärm des Eintritts durch die engen Gassen, des Rasselns der Wagen mit den mächtigen Rädern auf dem Pflaster, der Begleitung durch die Straßenjugend war so groß, daß Ottheinrich auf einige Worte, die der Knabe jetzt sprach, nicht achten konnte. Daß es deutsche waren, glaubte er verstanden zu haben.

Auf dem Markt, der mehr einer Straße als einem Platz ähnlich sah, vor dem Wirtshaus zur schwäbischen Sturmfahne, wurde gehalten.

Den Eingang umstanden Fuhrwerke wie eine Wagenburg. Bauern und Bürger, Weiber und Kinder begafften die phantastischen Ankömmlinge.

Mitten in den Auseinandersetzungen mit dem Wirt und dessen Knechten über die morgen fortzusetzende Reise, über die Beherbergung von Menschen, Wagen, Rossen stieß plötzlich die Italienerin zum höchsten Befremden Ottheinrichs, der gerade in diesem Augenblick mit ihr allein beschäftigt war, einen Schreckensruf aus.

Als gleichzeitig fast und zu nicht minderer Überraschung für Ottheinrich, von oben eine Stimme gerufen hatte: »Ja, Staufferle, was bringt ihr denn da aus Welschland mit?« hatte sie eben den Kopf in die Höhe gerichtet und war aufs heftigste von dem Anblick des Mannes betroffen, der diese ihr unverständlichen deutschen Worte gesprochen hatte.

Inzwischen erkannte Ottheinrich daß ihn niemand anders so vertraulich begrüßt hatte, als des kaiserlichen Rates ältester Sohn Johannes, den man in der Annengasse und auf dem Jüdenberg kurzweg »den Doktor« nannte.

Auf dem Söller stand des Rates Erstgeborener lang und hager, wie er gewachsen. Als wäre Kaufbeuren sein gewöhnlicher Aufenthaltsort, so bequem hatte er sich's gemacht im kurzen Hauswams, mit leichten Schuhen, sein gewohntes rotes Hauskäppchen auf dem Haupte über dem langwallenden schwarzen Haar.

»Ich staune, Herr Doktor,« rief Ottheinrich zum Söller hinauf, »euch in Kaufbeuren zu sehen! Ist doch alles wohl in Augsburg? Ich komme später heim, als ich versprochen habe –«

Johannes Paumgartner konnte sich hier nur, wie Ottheinrich voraussetzte, als Kaufmann in Aufträgen des väterlichen Geschäfts befinden. Der Doktortitel gehörte ihm aber von Rechts wegen. Auch er hatte die Rechte studiert und den großen Alciati gehört, als dieser noch nicht von der Signoria Venedigs nach Padua berufen war, sondern noch in Avignon lehrte.

Der Doktor hörte jetzt kaum auf Ottheinrichs Fragen. Sein Auge und Ohr gehörten nur der Italienerin. Ihren Schrecken über seinen Anblick hatte er anfangs für zufällig genommen; jetzt suchte er zu entdecken, ob dahinter Gefallsucht stecken mochte. Als Vittoria dem Haustor zuschritt, rief er ihr, ehe sie im Hause verschwand, in bezug auf den verhüllten Knaben in italienischer Sprache nach:

»Signora, war das Kind, das euch vorangetragen wurde, Gott Amor?«

Vittoria verschwand, ohne zu antworten, in der Einfahrt. Trotz ihres Lachens, das ihre Angehörigen beruhigen sollte, war sie doch durch den ohne Zweifel mißverständlichen Anlaß ihres Schreckens schmerzlich berührt.

Um das Maß der unerwarteten Überraschungen, die ihm Kaufbeuren bot, vollzumachen, fühlte sich Ottheinrich auf der Stiege plötzlich auch noch stürmisch umarmt und mit einer Fülle weinduftender Küsse bedeckt.

Sein Mitdiener Cyriax Mäusle war es, der den Doktor Johannes auf seinen Reisen zu begleiten pflegte und anfangs seiner Freude, hier so unerwartet einen Kontorgenossen und noch dazu den so lange entbehrten gesund und wohlbehalten aus Welschland heimgekommen zu finden, kaum Worte zu geben vermochte.

Dann aber folgte ein desto redseligerer Erguß seiner Freude.

»Ja aber, ist's denn möglich, Ottheinerle! Wirst doch auf meinem Stübli hausen? Hab' ein zweischläfrig Bett, für ein jung Ehepaar zu groß. Brüderle, schaust prächtig aus! Was wird Martina sagen? Ihre Mutter und die ganze Lappenstube? Bist um zwei Löcher im Gürtel feister worden! Aber, Potzschlag, wer sind denn die Talliäner, womit du kommen bist? Gelt, die Welschen, die du mitbringst, sind Komödianten, so der Bischof von Brixen für die Königin Maria hat verschreiben lassen – der Doktor hat sie drauf gleich erkannt. Hör', in Augsburg geht's allweil hoch her! Glücklicher! Du reitest morgen ein, aber wir bekommen erst den Abhub von all denen Freuden, das übersättig Tellerbrot! Müssen morgen weiter – nach Füssen!«

»Nach Füssen?« fragte Ottheinrich betroffen. Er erriet im Geiste auch den Anlaß dieser Reise. Sollte er sie mit Regina oder mit Hohenschwangau in Verbindung bringen?

In seiner Verlegenheit sagte er nur:

»Ist die Königin schon in Augsburg angekommen –?«

»Ohne Geld!« antwortete Cyriax Mäusle, fuhr aber geheimnisvoll fort: »Eins aber hat sie mitgebracht für unsern Alten oder vielmehr für den Jungen, da unsern Doktor –«

Bei dieser Mitteilung wurde der lustige Schwätzer unterbrochen. Doktor Johannes schloß von innen die Tür eines Zimmers auf, aus dem er ihm mit ruhiger Haltung, nachlässig eine brennende Kerze in der Linken haltend und mit dargereichter Rechten entgegentrat, erklärend, dicht in seiner Nähe sollte Ottheinrich wohnen.

Der älteste Sohn des kaiserlichen Rats galt für eine wunderliche und manchem sogar unheimliche Natur. Äußerlich ähnelte er der Großmutter. Er war lang und hager wie Frau Felicitas. Seine Gesichtszüge waren regelmäßiger und edler als die seines Vaters und seiner sämtlichen Brüder. Sein schwarzes, hier und da, trotz seiner Jugend, schon grauschimmerndes Haar trug er lang über die Schultern wallend und in der Regel ungeordnet. Der magere Hals war von einer kleinen weißen Spitzenkrause bedeckt, die ein Brusthemd abschloß, das einem gepufften schwarzen Samtwams untergelegt war. Die Ärmel des letzteren hingen herab, konnten aber zugeknöpft werden, wie dies eben von ihm geschah. Vom Stehen auf der Altane und vor innerer Erregung, die sich äußerlich nicht kundgeben wollte, fing ihn zu frösteln an.

»Welches schöne Weib habt ihr da entführt?« begann er und fügte in einer ihm eigentümlichen Art sich selbst unterbrechend und auf seine hängenden Ärmel deutend, die er eben einknöpfte, hinzu: »Die Hand werd' ich euch später noch einmal schütteln und dann euch auch um mehrere andere Dinge aufs Gewissen befragen.«

Ottheinrich horchte auf. Zunächst konnte er selbst nur von seiner Freude sprechen, hier dem jungen Gönner schon zu begegnen, der ihm allezeit ein besonderes Wohlwollen bewies.

»Aber daß du's doch weißt,« fiel Cyriax Mäusle ein, »der Herr Doktor sind ja –«

»Kusch!« unterbrach ihn Johannes und wies Mäusle zur Tür hinaus. »Also – wer sind die Fremdlinge?« begann er wieder. »Dies schöne Weib? Es muß mich verkannt haben! Einen Blick warf sie mir zu wie eine Schöne einem Liebhaber, wenn sie diesen zum ersten Male wiedersieht, nachdem er ein Stelldichein versäumt hatte!«

»Es sind italienische Künstler,« sagte Ottheinrich, »die in Deutschland beschäftigt sein wollen. Ich begegnete ihnen auf der Landstraße, wo sie um ein verschmachtetes Kind beschäftigt waren, das nicht zu ihnen gehörte. Dasjenige eben, das wir mitbrachten! Sie nennt sich Vittoria Ferrabosco –«

»Aber lieber, lieber Leser,« rief Cyriax durch die Türspalte, »ich bitt' dich um alles – überschlag' die Vorred' nicht! Der Doktor ist –«

Nun drückte Johannes Paumgartner die Tür mit Gewalt zu, sagte jetzt aber auch selbst, was Cyriax so zu verraten drängte.

»Ihr habt die Ehre – bückt euch aber tief, wenn ihr es hört – auch in mir einen Rat zu begrüßen, wie in meinem Vater; doch vorläufig noch keinen kaiserlichen, erst einen königlichen!«

Ottheinrich richtete sein Auge voll Staunen auf den Sprecher und wiederholte den vernommenen Titel.

»Ein königlicher Rat! Das bin ich!« wiederholte Johannes und warf sich mit erkünsteltem Stolz in die Brust. »Wollt ihr eine Gnade durch mich gewinnen, so bestellt sie euch! Nehmt den Mund so voll wie ihr wollt! Verlangt eine Provinz, eine Grafschaft! Ich werde mit geheimnisvoller Miene versichern, die Sache hätte gute Wege. Wenn sie aber nicht zum gewünschten Austrag gelangt, so hat die königliche Majestät – die von Ungarn nämlich, die Regentin der Niederlande – bereits ihrem Bruder, dem Kaiser oder dem König oder dem Andächtigen von Brixen, ihrem Kavalier, diesen bewußten Gegenstand versprochen.«

»Die Königin Maria von Ungarn –!« unterbrach Ottheinrich voll Erstaunen.

»Just dieselbe, auf die eure Mutter, Frau Argula, so viel Vertrauen setzt! Ihr habt mir davon erzählt.«

»So werdet ihr Augsburg verlassen –?«

»Um nach Brüssel zu gehen? Das weniger, Staufferle! So viel Glück wird mir nicht zuteil. Rat! Was heißt Rat! Ich sollt Rat der Königin von Ungarn in partibus sein – das Patent, das besagt, mir nimmermehr einfallen zu lassen, wirklich einen Rat, z. B. über die Schonzeit der holländischen Heringe zu geben, ist noch nicht ausgestellt – Aber ich bin Rat! Wie mein Vater Rat des Kaisers ist –! Punktum. Jetzt aber aus einem andern Ton mit dir, Landstreicher! Während sich's oben eure Vittoria Ferrabosco – oder wie? – bequem macht und den Findling hoffentlich bald zur Ruhe bringt – die erste Frage des neuen Rats an euch! Was habt ihr mit meiner Schwägerin, Regina Honold, angestellt und wo ist sie unterwegs geblieben?«

»In Füssen!« sagte Ottheinrich, nicht wenig entsetzt über den Zorn des alten Rats, den er aus den Scherzen des jungen heraus ersah.

»Wir wissen nicht nur alles,« fuhr dieser und jetzt mit gedämpfter Stimme fort, »was uns Hans Pfister im Vertrauen berichtet hat, sondern ich komme sogar im Auftrage des Vaters euch entgegen. Cyriax erfahre bei Leibe nichts von unserer eigentlichen Absicht! Er glaubt, wir reisten in Pfefferangelegenheiten. Ja, ja, ich komme euch entgegen. Nicht aber etwa soll ich euch in eurer Entführung der tollen Frau unterstützen – glaubt das ja nicht –«

»Aber wie sprecht ihr?« wallte Ottheinrich auf. »Denkt euer Vater, daß ich dem Beginnen der Unglücklichen Vorschub geleistet habe?«

»Ich soll Regina ersuchen, sofort kehrt zu machen – oder wenigstens so lange in Füssen zu bleiben, bis mein Bruder Antoni ihr nachgekommen sein wird. Dann erst soll sie mit ihm selber in Augsburg einziehen!«

»Das wird nimmermehr geschehen –« wollte Ottheinrich beginnen, aber eine Magd trug Speisen auf und er schwieg.

Während Ottheinrich den auf den Tisch gestellten Speisen zusprach, erfuhr er, daß sein Prinzipal den Postreiter Hans Pfister schon am Samstag abend, gleich nach seiner Ankunft, hatte zu sich kommen lassen und von ihm die Flucht seiner Schwiegertochter und deren an den »welschen Confinen« notwendig gewordenes Zurückbleiben in Erfahrung brachte. Sofort war Johannes, der auf die Nachricht vom Besuch der Königin Maria von den beiden Gütern Erbach und Paumgarten heimkehren mußte, von ihm beauftragt worden, Regina und Ottheinrich bis Füssen entgegenzureiten und nicht nur ihn zur unverweilten Beschleunigung seiner Rückkehr aufzufordern, sondern auch jene zu veranlassen, daß sie mit passender Gelegenheit entweder nach Venedig zurückkehrte oder so lange auf dem bischöflichen Schlosse verweilte, bis ihr Gatte von Venedig nachgekommen wäre, wozu der Vater durch einen sofort nach Venedig abgegangenen Brief, sogar ein an den Dogen gestelltes Ersuchen, zwangsweise zu verfahren, die entschiedenste Veranstaltung getroffen hatte.

»Ihr wißt,« fuhr Johannes fort, »daß sich in solchen Augenblicken mein Vater nicht widersprechen läßt. Nach seinem Willen sollte ich von Augsburg das stärkste Geleit nehmen, sogar die Nacht hindurch reiten, um euch zeitig in den Weg zu kommen. Wie ihr nun aber seht, blieb ich schon hier. Diese Ritte greifen mich an und – ich fürchte mich vor den Tränen meiner Schwägerin – ja schäme mich vor den Zeugen. Ganz Recht! Anna von Stadion – ist in Füssen –!«

Nun erzählte Ottheinrich alles, was er mit Regina erlebt hatte. Schließlich sagte er, die vom Vater getroffenen Maßregeln würden wohl verfehlt sein, weil schon ohne Zweifel Regina mit Anna von Stadion wenn nicht bereits heute, sicher aber morgen in erster Frühe unterwegs wäre.

Johannes warf einen Mantel über. Wie von Fieber ergriffen streckte er sich fröstelnd in einen Sessel, schwieg eine Weile und schlug seine großen Augen nach oben, wo inzwischen ebenfalls die Italiener mit ihrem Nachtessen beschäftigt schienen.

»Ich würde Antoni nicht verurteilen,« begann er endlich, »wollte mein Bruder nur das Leben so nehmen, wie ihm sein Blut, wär' es ihm allzu hitzig, zu nehmen vorschreibt! Aber sein Blut ist eiskalt! Schreibt ihm nichts, er aber schreibt seinem Blute vor, wie's wallen soll. Das ist einer von den närrischen Gästen an unsers Herrgotts Tafel, die sich unaufhörlich berauschen, ohne dem Freudenspender irgendetwas abgewonnen zu haben, was den Geist berauscht und diesen mit göttlichem Feuer durchglüht. Denn vom Wein sagen die Dichter, er wecke schöne Vorstellungen und schmerzstillende Träume. Und Antoni berauscht sich nicht einmal im hellen Weine. Von je war Antoni der Hans Gerngroß, fürchtete sich, für einen Sackträger gehalten zu werden, wenn er lebte wie andere zweibeinige Menschen. Zerrte und reckte an seinem Hutzelmännleinwuchs und wollte ein Goliath sein! Am meisten müssen aber die Weiber von ihm zu erzählen wissen. Er tut's nicht anders. Dazu die unverwüstliche rotwangige Gesundheit, die immer über sich selbst kugelt, immer lachen muß, auch wo andern das Weinen eher am Platze zu sein scheint, und sich seelenvergnügt über Gottes schöne Erde, als wenn die ihm durch Erbschaft zugefallen wäre, auf den behaglichen Spitzbauch schlägt! Auch die Schmeichler liebt er. Mit jedem, der seine Kunst zu trinken oder sein Glück in der Liebe bewundert, schließt er ewige Freundschaft, besiegelt sie auch sofort mit fünfhundert Zechinen, rückzahlbar auf mittags punkt zwölf Uhr nächsten Martini. Aber die Zechinen kommen an dem Tage wieder, wo die Kuh einen Batzen gilt! Ihr wundert euch solcher Reden? Ja, glaubt mir's nur, ich habe einiges zum spanischen Rat. Das dazu nötige kurzgeschorene Haar kann ich mir ja schneiden lassen. Ein neuer Samtmantel und die kurzen Hosen – – sind bei euerm Meister Haysermann bestellt. Staufferle! Eine Million verprassen dürfen und doch in einem Stübchen hocken hinter der Jakobspfründe, eure liebliche Martina im Arm – das wäre mir lieber als Grand von Spanien und manchmal – der Sohn meines Vaters zu sein!«

»Herr! Herr!« unterbrach ihn Ottheinrich mahnend und bat, so düstern Bildern nicht nachzugehen.

»Bis jetzt war ich froh,« fuhr Johannes fort, »daß wir wenigstens den Antoni in Venedig wußten! Da leben denn doch, wie überhaupt noch jenseits der Alpen, Menschen, die von ihm für klüger gehalten werden mußten, als er selbst sein will. Antoni aber wieder in Augsburg! Nun wird er Peutinger die Inschriften der alten Steine entziffern lehren, wird unsere Geschlechter- und Kaufmanns- und Zunftstube versichern, er wäre der Mann, den Augsburg nach Schmalkalden schicken müßte. Wenn ich ihm meine Ratsherrenkette schenken könnte! Wie wird er die beneiden – –! Mich friert! Die arme Regina –!«

»Euer Vater fürchtet das Aufsehen und – den Makel – des Hauses –« erwiderte Ottheinrich mit forschendem Blick. Er wollte Johannes eine Erwähnung Hohenschwangaus und der freiherrlichen Standeserhebung nahelegen. Warum fürchtete der Vater gerade jetzt das Aufsehen einer solchen Flucht?

Johannes runzelte aber nur mißmutig die Stirn, ging auf Hohenschwangau mit keiner Silbe ein und verfiel in unmutiges Brüten und Schweigen.

»Die Ratsherrnkette traget nur ihr!« begann allmählich wieder Ottheinrich mit jener freudigen Zuversicht, die ihn schon öfters hatte versichern lassen, daß einst noch Johannes für seine großen Gaben, sein umfassendes Wissen, zu reichster Bewährung Anlaß finden würde. »Erfasset es nur erst recht, welch ein Glück euch zuteil geworden!« fuhr er fort. »Rat der Königin Maria! Wär' ich an euerer Stelle, wie wollte ich ihr Rat sprechen!«

»Wie ihr zu den Pfaffen vom Sankt-Ulrich gesprochen habt!« fiel Johannes lachend ein. »Stauff, Stauff, das hab' ich mir erzählen lassen, wie ich von Erbach und Paumgarten heimkommen bin –!«

Ottheinrich blickte beschämt nieder.

»Euere guten Freunde Rupilius und Beichling versichern alle Welt, wie fett eurer Rede im Pyr allda das Bier umgeschlagen und der Wein versauert sei! Habe die Spötter gestraft! Bin selbst in den Ulrich gegangen, um die beiden Fahnenflüchtigen des gekreuzigten Lamms am Sprachgitter kennen zu lernen. Da hört' ich denn: Euer Koch – hat sich an einem eisernen Gitter seiner Küche selbst erhängt –!«

Ottheinrich sprang entsetzt auf.

»Und Pater Udalrich hat erklärt: Geht unser Konvent nach Haunstetten, so folge ich, weil die Blumen, die ich dort gepflanzt, schon lange auf mich warten. Geht er aber nach Wittelsbach, so mach' ich zum Doktor Fuchs nach Tübingen –! Ihr wisset, daß Fuchs unser größter Gärtner in deutschen Landen und ein Lutheraner ist.«

Ottheinrich nahm ihm jedes Wort von den Lippen.

»Pater Udalrich hätte mir am Sprachgitter noch mehr offenbart, wenn nicht Pater Gadolt, der Zuchtmeister im Kloster, gekommen wäre, ein pfiffiger Pfaff, der aus den Insassen Luthersche Bischöfe machen will. Soll mich wundern, wie lange Rat und Bürgermeister zögern, da ein kräftig Wörtlein mitzusprechen.«

Tiefbewegt reichte Ottheinrich seinem jungen Gönner die Hand. Den Tod des Laienbruders schrieb er sich selbst zu. Er gedachte der Worte, die ihm Johannes' Vater über die Melancholie der Köche gesprochen. Konnte dies traurige Ende nicht eine Folge seiner damaligen Mahnrede und der Kraftlosigkeit eines gebrochenen Willens, der seinem Aufruf gern hätte folgen mögen, gewesen sein –?

»Auf die Königin von Ungarn rechnet aber nicht!« fuhr Johannes fort. »Die will in Augsburg nur Geld und wieder Geld! Nimmt auch Juwelen. Auch deshalb sollte ich euch zur Rückkehr anspornen, habt sie doch sicher geborgen, die Schätze, die ihr vom Rialto mitbringt? Sie sind als Zahlung für meine Ratskette bestimmt. Aus jedem Diamanten macht sie ein Glied Landsknechte! Doch ja, ja« – unterbrach er sich – »ihr erzählt von Anna von Stadion – daß sie zur Jagd nach Eisenberg geritten sei –? Sie wird erstaunt gewesen sein, dort zu einer Trauermetten anzukommen, falls Oberschwabens Kesselgraf wieder römisch geworden –«

Ottheinrich vernahm eine Nachricht, die ihm bewies, wie sich im Leben das Urteil der Menschen zur Wirklichkeit verhält. Ganz im Widerspruch mit den von der Schwangauerin und von ihm selbst auf Schloß Eisenberg vorausgesetzten Jagdfreuden erzählte Johannes: »Kaum wurde Wilhelm von Freyberg in Salzburg erstochen – an eines Bischofs Hof um Liebeshändel –! so ist jetzt Hans Sigmund, des Pancraz Bruder, in der Provence beim Kaiser vor Hunger und Hitze am Fieber verdorben und gestorben! Schertlin hat's an den neuen Ratsschreiber Frölich geschrieben, sie haben den verschmachteten am Meere liegen lassen und da begraben unter einem einsamen Feigenbaum. So stand's im Brief. Staufferle, als ich in Avignon studierte, lernte ich diese einsam am Meer der Provence gelegenen Feigenbäume kennen. Stehen unbewegt in der brennenden Sonnenhitze. Die zackigen Zweige – Hirschgeweihen ähnlich – sehnen sich nach einem Felsen, um sich anzulehnen, und finden ihn nicht! Unterwärts wirft sich das große blauäugige Meer mit der ungestümen Zärtlichkeit eines Löwen an die Kreidefelsen des Ufers! Sie schimmern weiß wie vor Gluthitze! Kaum, daß ein Schaumtropfen hinaufspritzt, den verschmachtenden Strauch zu erquicken! Rundum kein Grashalm, kein Blümchen, kein Mooskraut – ja, in der Nähe ein paar stachlige Disteln –! So steht der Baum und trägt nur Früchte für sich selbst. Unter einen solchen einsamen Feigenbaum haben sie Hans Sigmund Freyberg gelegt und mit etwas Staub begraben. So, Stauff, so möcht' ich auch einst ruhen – unter einem einsamen Feigenbaum am südlichen Meer – oben die schöne Italienerin – die müßte kommen und zuweilen mein Grab besuchen –! Aber nur –« mit diesen Worten erhob sich der Träumer – »nachdem wir eine Spanne Zeit glücklich gewesen –! Horch, sie sind mit ihrem Imbiß fertig! Gehen wir jetzt auf Sturm und Eroberung –!«

Zu Ottheinrichs Schrecken wollte Johannes Paumgartner die Tür öffnen und sich, nachdem er sie mit drei mächtigen Schritten erreicht hatte, nach oben begeben.

»Ich bitte euch –!« rief Ottheinrich und hielt ihn zurück.

Johannes hemmte selbst seinen Schritt, soeben erklang von oben das sanfte Anschlagen der Mandoline. Sicher war die Spielerin Vittoria selbst. Einfache Passagen folgten, die vielleicht nur prüfen sollten, ob das Instrument auf der Reise nicht gelitten. Oder wollte sie den Knaben in Schlummer bringen? Wollte ihn vielleicht, da sie nicht mit ihm reden konnte, unterhalten –?

Johannes sah Gefallsucht. An die ihm von Ottheinrich erzählten Geschichten hatte er nicht glauben wollen. »Künstler? Bildhauer, Steinmetzen?« sagte er. »Und die Geschichte mit dem Grafen Traversi? Alles das wäre wahr? Hättet ihr nicht selbst den Jungen auf der Straße liegen sehen, ich würde meinen –«

Er öffnete die Tür und wollte hinauf.

»Verleumdet sie nicht!« sprach Ottheinrich und hielt ihn wieder zurück.

»Einem solchen Wesen sollte man nicht Wort gehalten haben?« entgegnete Johannes, sich vom Arm Ottheinrichs freimachend. »Den Blick kann ich nicht vergessen, den mir die schöne Kreatur bei ihrer Ankunft zuwarf! Eine Bildhauerin? Ja, es war ein Blick, wie der der Medusa, der versteinert – ein Blick, als kennte sie mein ganzes Leben von Avignon bis hierher nach Kaufbeuren! Alpen und Meere, Tage und Nächte, Lachen und Weinen lagen drin. Horch, die Weise kenn ich! Das ist die Rosenweise! Ich hörte sie oft in Avignon des Nachts, wenn die Brunnen rauschten und die Blüten der Oleander dufteten –«

»Wollt ihr forschen, wie euer Bruder Antoni –? Ihr, der ihr ein Verlobter seid –«

Auf dies strenge Wort sah Johannes den jungen Gefährten mit Entrüstung von oben bis unten an, ergriff dann aber, um sich zu bekämpfen, den vor Ottheinrich mit nur mäßigem Zuspruch stehenden Weinkrug, füllte sich einen der mächtigen Becher und stürzte ihn in einem Zuge hinunter. Heftig stellte er den Becher wieder auf den Tisch und sagte, die Geister des Zorns niederhaltend und sogar in weichem Tone:

»Vergleicht mich nicht mit Antoni! Ja, auch ich kann trinken –! Aber ich denke dabei an anderes, als an den Wein –!«

Ruhiger lauschte er, die Augen zur Decke gerichtet, dem Spiel Vittorias.

»Ich gehe nicht nach Füssen!« rief er plötzlich im Tone des Trotzes und mit dem Fuße aufstampfend.

»Um alles nicht!« suchte ihn Ottheinrich zu beruhigen. »Bedenkt meine Verantwortung vor dem Kaiserlichen Rat, die sich durch eine so gefahrvolle neue Unterlassung nur steigern würde! Tut das mir zu Liebe nicht! Reitet morgen zeitig von hier aus! Vielleicht begegnet ihr Regina und – dem Bischof schon auf halbem Wege –«

»Die Italiener wollen in Augsburg arbeiten!« fagte Johannes mit dumpfem sinnen. »Haltet sie auf! Legt Feuer an, damit sie zu tun bekommen! Oder – mein Vater hat Baupläne! Wo, wofür, warum – ich weiß es nicht. Seit Monaten hab' ich ihm nur: Behüt' euch Gott! und: Glückseligen Tag! gesagt. Aber ich hört' ihn nach Maurern und Steinmetzen fragen. Für Paumgarten und Erbach? Ihr wisset mehr von meinem Vater als ich, Stauff! Wo will er bauen lassen?«

Ottheinrichs Verschwiegenheit wurde aus die Probe gestellt. Nicht einmal der eigene Sohn, der Älteste des Hauses, kannte die Pläne des Vaters, die der ganzen Familie eine so gewaltige Umgestaltung geben sollten! Veranlassung genug für ihn, sein Geheimnis desto fester zu bewahren.

»Man kann alles verbergen, drei Dinge nicht: Die Liebe, den Ehrgeiz und – den Husten!« sagte Johannes. »Ich verstehe meinen Vater nicht. Er will Reginas Rückkehr nach Venedig oder wenigstens den Schein ihrer Aussöhnung mit meinem Bruder. Warum besteht er so streng darauf? Um des alten Honold willen? Um seinen Zank mit dem Stadtrat über die Steuer? Kommst du mit Anna von Stadion, sagte er beim Abschied, vereint zurück und stellst dich mit ihr der Königin als Hochzeiter vor, so schenke ich dir ein eigen Haus, wo du es haben willst! Sieh, sieh, da könnte ich mir ja bei Vittoria den Gott Hymen von Marmor auf die Treppe stellen lassen–!«

»Tut das!« sagte Ottheinrich, »beglückt euern Vater–!«

Ottheinrich hätte gern dem Gespräch eine auf Anna von Stadion ausweichende Wendung gegeben.

Ein Geräusch verhinderte ihn daran, schon einige Male war es ihm gewesen, als hätte jemand leise an die Tür geklopft. Die Klänge der Mandoline waren verstummt.

Ottheinrich erhob sich und öffnete.

Vor den jungen Männern stand in wunderlich phantastischer Tracht ein Kind, wie es anfangs schien, ein Mädchen. Beim Heranleuchten mit einer der beiden Kerzen, die auf dem Tische brannten, erkannte Ottheinrich in dem sich so zaghaft meldenden Besuch den Findling, den ohne Zweifel Vittoria so verkleidet hatte. Größere Tücher hatte sie wie Kleider gewunden; um den Kopf, über die blonden Locken, hatte sie ihm kleinere wie einen Turban befestigt. Aus dem Skapulier war ein Schürzchen geworden.

In reinem Deutsch und durchaus in der hier landüblichen Betonung erklärte der Knabe, daß ihn seine Dame geschickt hätte, um den Herren felicissimam noctem zu sagen.

»Felicissimam noctem!« lachte Johannes. »Das heißt soviel als: Warum kommt ihr nicht endlich zu mir herauf? Der Junge soll uns führen. Gehen wir, Stauff!«

Ottheinrich hielt ihn zurück.

Der Knabe wollte wieder gehen.

»Bleibe,« bedeutete ihn Ottheinrich, »und sage uns jetzt, wie du heißest? Wo du her bist? Wie du heute in ein Priesterkleid gekommen warst –?«

Verlegen sah der Knabe die jungen Männer an. Die ohne Zweifel erhaltene reichliche Speisung hatte ihn gekräftigt. Statt Antwort zu geben, wandte er sich wieder der Tür zu.

»Nein, nein!« fuhr Johannes auf und hielt ihn fest, »so entkommt man uns nicht! Wie heißt du –? Du schweigst? Weißt deinen Namen nicht? Willst ihn dem Mann verschweigen, der dich vom Tode errettet hat? Wer bist du, Bube –?« fuhr er heftiger werdend fort, »Wie kamst du in ein heilig Ordenskleid? Welche fremde Worte hast du auf der Landstraße gesprochen? Rede jetzt oder–!«

Johannes schüttelte den starrköpfigen, jede Antwort schuldig bleibenden Knaben so heftig, daß Ottheinrich hinzusprang, besorgt, ihn vor dem Ausbruch einer seither zurückgehaltenen Leidenschaftlichkeit des Doktors zu schützen.

»Herr –!« Das war alles, was der Knabe mit dem größten Schrecken auf die an ihn gerichteten Fragen erwiderte. Er suchte nur die Tür zu gewinnen.

Johannes ließ sich von Ottheinrich die fremdartigen Worte wiederholen, die der Knabe auf der Landstraße gesprochen hatte.

»Das ist ja ungarisch!« sagte er. »Ich habe bei den Fuggern von den Thurzos einige Brocken aufgegriffen.«

»Ungarisch?« wiederholte Ottheinrich befremdet und richtete an den Knaben die Frage: »Ist das ungarisch, wenn ich sage: Kössenem!

Der Knabe sah die jungen Männer ängstlich an und erwiderte nichts.

»Solltest du ein Pfaff werden?« fuhr Johannes fort, »Wo? Wir bringen dich nicht nach Steingaden zurück, wenn's der dortige heilige Norbert ist, der auf dich Ansprüche hat. Rede –! Oder vergaßest du schon, daß man dich freundlich verpflegt hat, dich, den Verschmachteten, von der Straße aufgenommen, wo du hättest verderben müssen, wenn die Nacht hereinbrach –! Wohin wolltest du –? Wie kommst du zu ungarischen Redensarten –? Sprich jetzt – oder wir nennen dich ein Zigeunerkind und geben dich in Buchloe an – die schöne Liesel!«

Auf dies Wort verzog sich die Miene des Knaben in den Ausdruck des äußersten Schreckens und Grauens, wieder suchte er die Tür zu gewinnen.

Ottheinrich bat Johannes, den Knaben nicht zu ängstigen. Er wußte von Augsburg her, die »schöne Liesel« in dem benachbarten Buchloe, einem Städtchen, das man berühren mußte, wenn man von hier auf Augsburg wollte, war ein Richtinstrument, das hierzulande jedes Kind kannte. »Die schöne Liesel von Buchloe küssen« hieß gehängt werden nach vorausgegangenen grausamen Martern.

»Warum entflohst du?« fragte Ottheinrich mit großer Sanftmut.

»Herr!« lautete die Antwort. »Ich hatte – drei Tage – gefastet und sprang aus dem Fenster –«

»In Steingaden?«

Der Knabe nickte.

»Wie bist du nach Steingaden gekommen?«

Der Knabe schwieg.

»Wer gab dich dorthin –? Der, der dich ungarisch gelehrt hat?«

Da hierauf wieder keine Antwort erfolgte, so sagte Johannes: »Wir müssen ihm, seh' ich, Mut machen!« und reichte ihm einen Becher Wein.

Der Knabe verschmähte den Zuspruch nicht. Er schien sogar froh, auf diese Art von Gefragtwerden und Antwortenmüssen ganz abzukommen. Da tat er denn nicht nur einen herzhaften Trunk, sondern war sogar listig genug, den Becher länger am Munde zu behalten, als er trank.

Johannes lachte über die Tücke und sagte mit Wohlgefallen:

»Ein verteufelter Bursch!«

Ottheinrich war weniger von diesem Benehmen eingenommen.

»Du wirst die Paters durch Unfolgsamkeit gereizt haben!« sagte er und nahm ihm den Becher fort. »Wer hat dich dort ins Kloster gegeben –? Bist du aus dieser Gegend?«

Der Knabe schüttelte auf alle diese Fragen den Kopf.

»Was heißt Siralom?« fuhr Johannes fort und setzte selbst hinzu: »Ich glaube, es heißt, ich bin traurig!«

Der Knabe nickte.

»Und Hontholam? Heißt es nicht: Ich bin heimatlos« – fuhr Johannes nach einigem Besinnen fort.

Wieder bejahte der Knabe.

»Traurig und heimatlos!« wiederholte Ottheinrich mit Rührung und widersetzte sich nicht, als der Knabe jetzt den günstigen Augenblick wahrnahm und mit raschem Entschluß an die Tür sprang und verschwand.

»Traurig und heimatlos!« wiederholte nun auch Johannes, leerte den Rest des Bechers und sah zum Fenster hinaus in die dunkle Nacht.

Bei alledem wäre Ottheinrich gegen die Verstocktheit des Knaben nachdrücklicher verfahren und ihm auch jetzt noch gefolgt, wenn nicht die Mandolinenklänge wieder begonnen hätten. Im diesmal beschleunigteren Rhythmus lag etwas wie Ungeduld, als verlangte Vittoria ihren Schützling zurück.

»Der Junge wird gerufen!« sagte Johannes. »Und wir mit ihm –!« setzte er nach einer Weile hinzu.

Wirklich hätte er vielleicht noch sein Vorhaben, Vittoria aufzusuchen, trotz Ottheinrichs Widerspruch, ausgeführt, wenn nicht eine Störung anfangs durch Cyriax Mäusle, dann durch die Italiener selbst und einen auf der Stiege entstandenen Wortwechsel dazwischen gekommen wäre.

Cyriax sprang mit den Worten herein:

»Hui, die Talliäner zanken sich! Da kann's etwas geben, und ich muß dabei sein –! Saget aber erst, was ist für morgen beschlossen, Herr Rat?«

Die Antwort, die dem Wirt eine Anweisung geben sollte in betreff der morgen früh für die Weiterreise in Bereitschaft zu haltenden Pferde, unterbrach der immer mehr zunehmende Lärm auf der Stiege ...

Johannes wollte hinausspringen ...

»Bleibt!« hielt ihn Cyriax zurück. »Da fließt noch Blut! Der mit dem spanischen schiefen Deckel überm Ohr ist der Liebhaber der Signora oder will es wenigstens werden! Die andern mögen's wohl nicht leiden, mißtrauen noch seinem mangelnden Einnehmen, wie dergleichen in Venedig und Rom, Augsburg und Bopfingen alle Schwäger zu sprechen so weise sind. Schon im Stall zankten sie sich. Aber nur, wenn sie wußten, daß sie allein waren. Hörten sie Fremde kommen, alsbald wurden sie die besten Freunde. Nun aber muß doch etwas dem Faß den Boden ausgeschlagen haben.«

Johannes redete die von oben Herabkommenden in ihrer Sprache an. Es waren Luzio de Spari, die Gebrüder Ferrabosco und der Architekturmaler Luigi Costa. Sie kamen trotzig und aufgeregt. Erhielt er auch keine unhöfliche Antwort, so schien man doch jedem, auch ihm, andeuten zu wollen, daß ihnen übertriebene ihrer Begleiterin dargebrachte Huldigungen, sie mochten kommen von wem sie wollten, verdrießlich waren. Sagte der ältere der Brüder: »Wir glauben, es ist dies eine christliche Herberge, so gut wie wir deren in Padua haben, aber es scheint nötig, daß einer von uns vor der Tür unserer Schwester sein Lager aufschlägt –!« so gingen diese Worte zunächst auf Luigi Costa, über dessen Selbstbeherrschung sie ohne Zweifel eine ungünstige Entdeckung gemacht hatten.

Johannes winkte Cyriax, sich den Italienern anzuschließen.

»Morgen reiten wir zeitig auf Füssen!« rief er ihm nach. »Und noch eine Kanne Wein!«

Ottheinrich wollte die Ausführung dieses Befehls hindern.

»Warum trinken wir Deutsche?« sagte Johannes, bei seinem Gebot beharrend. »Warum trinken wir mehr als alle Nationen zusammengenommen, vielleicht die Engländer ausgenommen? Weil deutscher Geist vom Himmel stammt! Weil deutscher Geist die Erde verachtet und mit den Sternen kreist, zu denen hinauf die einzige Leiter die Traube ist –! Ottheinrich, Gott hat die Welt erschaffen, deutscher Geist könnte sie, wollte er, wieder einreißen! Einst wird die Stunde kommen, wo wir auf unsern Leibern wie Titanen der alten Zeit – Horch, da singen sie in der Trinkstube! Deutsche Kehlen sind's und deutsche Fäuste, die wahr machen, was sie singen –! Die Welschen singen nur, wenn sie nach ihrem Liebchen wie Katzen im Mondschein schleichen – jeder für sich –! Beruhigt euch! Wir wollen Vittoria schlafen lassen und nur noch auf ihr Wohl trinken –! Siralom! – Hontholam –!»

Ottheinrich atmete auf, daß wenigstens Vittoria, die gebeugte Trägerin ihres Leides, jetzt vor Johannes Ruhe hatte. Im übrigen war Ottheinrich noch in die Unterredung mit dem Knaben versunken. Diese ungarischen Worte! Sollte ihm wirklich – – das Wunderbarste begegnet sein, den Doppelgänger des Grafen Jlajos gefunden zu haben, den untergeschobenen, von deutschen Mönchen erzogenen Sohn des Königs von Ungarn?

Johannes sang inzwischen:

»Liebste mein, wie möcht' ich spat
An deinem Fenster stehn –

Ottheinz – wer ein Feinsliebchen hätte im Dachkämmerlein, hinter duftenden Nelkenstöcken, ein Liebchen, das nur dem Mond oder dem Hahn auf dem Ulrich auskräht, ich wäre sein Kleinod, seines Herzensschreins Geheimstes und Liebstes, ganz ihr so eingenäht mit meinen lichten Fehlern und dunklen Tugenden, wie eure Venediger Steine da euerm Hemd oder die Kreuzessplitter im Heiltum vom Sankt-Ulrich ihrer siebenfachen Kapsul – dann kletterte ich hinauf – zu ihr und fiele ihr zu Füßen und sagte: Anna, du liebst mich und kennst mich besser als alle –! Aber da ist's weit gefehlt! Die Anna, die ich in Füssen finde, ist mein Vorreiter auf einem Ringelstechen, mein Pickelhering, die Trompete meines Ruhms. Ständig hat sie die am Mund und quält die Menschen, an mir Eigenschaften zu entdecken, die noch niemand bislang hat sehen mögen. Das Wunder der Welt, Hans Paumgartner der Jung! Und daß ich ihr Mann werden müßte, das hat sie schon lange mit den Schicksalsschwestern, mit den Geschlechter- und Kaufmannsstubenparzen, auf dem Weinmarkt, dem Heu- und Viehmarkt, in der Annen- und Kleesattlergasse fertig gebracht. Nur die Nachlässigkeit des Schneiders ist's, der ihre silbergestickte Schaube, oder des Schusters, der meine gepufften Schuhe noch nicht fertig hat, wenn wir noch nicht getraut sind. Sagte ich nicht: Gott Hymen müßte aus Vittorias Hand an unserer Schwelle stehen? O diese Augsburger Ehen, die schon in der Wiege beschlossen wurden, diese Zärtlichkeiten, die unsere Wiegenbräute schon an die Puppen zu richten lernten, die sie von den alten Gevatterinnen des Hauses angeleitet wurden, den herzlichen Kaspar Rehlinger oder den zuckersüßen Weigand Imhof zu nennen –! Auf der Herrenstube oder im Weberhause wird das glücklich Unglück beschlossen, beim Kartenspiel oder – noch schlimmer – bei einer Silvesterabrechnung, die nicht stimmen will. Hans Heinzel, du bleibst mir, dem Hans Honold, fünftausend Gulden schuldig! Dafür sei deine Tochter ein Unterpfand meinem Sohn! Pfandpflegschaft solche Ehe –! Stauff! Daher die Tränen, die von Augsburg bis Venedig und von dort wieder an den Lech rinnen! Von daher in den Kreuzgängen unserer Kirchen die blanken Grabmäler mit den goldenen Inschriften: Hier liegt in Gott der ehrbare Junggesell Hinz Kaspar Hans von zweiundzwanzig und die tugendbelobte Jungfrau Annemarie von neunzehn Jahren –! Daß ich schon aus Avignon mußte die Stadion grüßen lassen, widrigenfalls meine Latinität vom Vater schlecht gefunden wurde, und daß sie wiederum mich grüßen ließ, ohne daß ich sie anders kannte, als in ihrem gepolsterten Fallhut, den sie, um gehen zu lernen, als Kind auf dem Kopf trug, oder aus den Schmausereien der Familien oder von einer Schlittenfahrt, wo sie begehrte, durchaus von niemand anders, als von mir umgeworfen zu werden – seht, das macht mir all ihre Lustigkeit traurig, ihr Lachen leidig, ihren Witz stumpf, ihre Weisheit abständig. Betet für mich, Ottheinrich! Denn wisset, auf die Art wird eins vor der Zeit, trotz einer königlichen Ratsherrenkette und möglicherweise eines neuen eigenen Hauses, ein unter einem einsamen Feigenbaum am südlichen Meer begrabener Mann oder – er lebt nur, wenn er sich – dem Teufel verschreibt und Pakt mit ihm schließt und mit dem Reich – der Schatten –!«

Noch einmal hatte sich Johannes wild erhoben...

Aber mit den Worten: »Christus hat sich euch gegeben zur Erlösung!« unterbrach den Ausbruch des unglücklichen, mit seiner Lebensstellung so jung schon zerfallenen Gemüts Ottheinrich in feierlichem Ernst. »Hoffet auf ihn alle Zeit!« fügte er hinzu. »Er wird alles gut machen!«

Eine längere Pause trat ein. Dann sprach Johannes: »Amen!« stellte den Weinkrug und den Becher zurück und gab Ottheinrich die Hand mit einem herzlichen »Gute Nacht –«!

Ottheinrich nahm eine der Kerzen und begab sich in die für ihn bestimmte nebenan liegende Kammer.

Von einem der Stadttürme schlug es mit dröhnendem Schall zehn Uhr. Oben war es ruhig. Auch im übrigen Bereich der schwäbischen Sturmfahne wurde alles still.

Im Grunde fühlte sich Ottheinrich von alledem, was er heute an dem jungen Rat erlebte, nicht befremdet. Alle Welt in Augsburg kannte ihn von dieser unheimlichen, bald anziehenden, bald abstoßenden Seite.

Wo sind die Sprossen, mußte Ottheinrich für sich denken, auf denen Hans Paumgartner den Fuggern nachklimmen, sie vielleicht als Herr von Hohenschwangau überragen will! Werden diese Söhne die Begründer eines neuen Adelsgeschlechts, ein Ersatz für einen entlaubten morsch gewordenen Stamm werden können, der Jahrhunderte hindurch sich bewährt und geblüht hat –?! Und gedachte er dann noch Gundulas Zuneigung, so konnte er, wenn eine kindische Laune Ernst wurde, selbst zu den Störungen der Pläne des Rates gehören –! Darüber fühlte er etwas – wie eine Hand, die ihn unbarmherzig in die Tiefe schleuderte – –


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