Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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I.

Es war im Jahre 1536, am Morgen eines schönen Sommertages. Ein lärmender Volkshaufen, der immer dichter und dichter anwuchs, drängte sich in einer der engsten Gassen der uralten Römerstadt Augusta Vindelicorum – der stolzen Pfalz römisch-deutscher Cäsaren – der Freien Reichsstadt Augsburg.

»Brecht die Pforten auf! Schafft Leitern, Stangen herbei! Schlagt sie alle tot!«

So rief die Menge wild durcheinander.

Es war ein Samstag und Markttag. Bauern hatten den Markt mit Stroh, Heu und Korn befahren, Hirten aus dem Allgäu waren durchs Haunstetter Tor mit ihren Ochsen zur Metzig gekommen oder hielten auf dem Kitzenmarkt Geißen und Lämmer feil. Einer überrannte den andern. Alles wollte in jenes Gäßlein gelangen, wo man auf einige mit starken Eisengittern versehene Fenster eines langen Gebäudes zeigte.

Das Gäßlein, wo sich der Anlaß eines Aufruhrs, der die ganze Oberstadt in Bewegung zu bringen drohte, befand, hieß seit uralten Tagen die Kötzgasse; Ketzergasse hatte man daraus seit einiger Zeit gemacht. Über die bescheidene Häuserreihe hinweg, über den Milchberg, die Kirchgasse, den nahen Afrawald, die Zwerchgasse, den stolzen Weinmarkt und den Kitzenmarkt, Räumlichkeiten, die sich alle mit teils tobenden, teils auch nur neugierigen Menschen füllten, ragte der schlanke Turm der Kirche des heiligen Ulrich empor. Benediktiner bewohnten hier ein von den Kaisern mit glänzenden Privilegien ausgestattetes Kloster. Was man nur ringsum an Gärten, Fruchtstadeln, Brauhäusern übersah, gehörte dem reichsten unter den geistlichen Stiftern Oberschwabens. Nur ein kleines Kirchlein beim Eingang in den Ring dieses fast fürstlichen Anwesens war seit einigen Jahren dem in Augsburg nunmehr fast schon herrschenden Gottesdienst der Evangelischen anheimgefallen.

Der Aufstand nahm immer mehr an Ausdehnung zu. Alles wogte und drängte, um zu erfahren, was es in der Ketzergasse gegeben habe. Mit Stöcken und Beilen schlug man an die verschlossenen Türen des Ulrichsmünsters, durch die man allein zur Klausur des Klosters gelangen konnte.

Allmählich hieß es, daß der gewaltsame Einbruch in den Klosterfrieden Aufschluß begehrte über gewisse Hilferufe, die von den Bewohnern und Nachbarn der Ketzergasse, auch von vorübergehenden, aus jenen vergitterten kleinen Fenstern der Rückseite des Klosters gehört worden sein sollten ... Da sich Luthers Lehre mächtig in Augsburg verbreitet hatte, so waren beinahe sämtliche Klöster in Auflösung begriffen. Sogleich nach Luthers Anwesenheit auf dem Reichstag von 1519, der in dieser mächtigen Stadt Augsburg gehalten wurde, erklärten sich die Karmeliter von Sankt Anna, bei denen Luther gewohnt hatte, für seine Lehre. Da verließen die Mönche scharenweise ihre Klöster, die Nonnen entwichen. Nur die reichen Pfründnerinnen des Sankt Katharinenstiftes und vorzugsweise die Benediktiner von Sankt Ulrich hielten noch stand. Aber stündlich erwartete man in Augsburg, daß sich die reichen Ulrichsherren anschicken würden, mit ihren Schätzen, ihren wunderbaren, von Gold und Edelsteinen starrenden Reliquien der heiligen Afra und des heiligen Ulrich, vor allem mit ihren kaiserlichen Schutzbriefen und Privilegien die Stadt zu verlassen und entweder jenseits des nahe gelegenen Lechflusses in ihrem Haufe zu Wittelsbach, unter dem Schutze der am römischen Wesen unerschütterlich festhaltenden Bayernherzoge, oder an der Donau zu wohnen in der dem Erzhause Österreich gehörenden Grafschaft Burgau, wo es ihnen ebenfalls an stolzen Tempeln und behaglichen Klausen nicht gebrach. Die fieberhaft aufgeregte Einbildungskraft der Menge sah auch heute hinter den verschlossenen Klostermauern nur die gewaltsamen Behinderungen des Bekennens seiner freien Überzeugung, eingekerkerte Märtyrer des evangelischen Glaubens.

Da erscholl plötzlich ein wildes Frohlocken. Lachen und gellendes Pfeifen ging durcheinander. Die Menge drängte sich zu jener engen Gasse, die vom Weinmarkt zum Kitzenmarkt führt. Der Jubel erscholl von dort her. Es war die höchste Zeit, daß dem Volk sein Wille geschah, denn schon kam unter Trommelschlag vom Rathaus die Scharwache. Hell glänzten vor den neuen Fuggerhäusern die scharfen Speerzinken in der Sonne. Oft genug hatte der Vogt in dieser Zeit zum Sankt Ulrich entboten werden müssen, denn unausgesetzt gab es dort Lärm, sogar ohne die kirchlichen Wirren; denn an einem der Altäre der beiden vornehmsten Heiligen Augsburgs waltete die sogenannte »Freyung«. Verbrecher, Schuldner flüchteten zu den Söhnen des heiligen Benedikt und verhandelten, geschützt durch ein altes Asylrecht des Klosters, mit dem Blutbann, den die Stadt oder der Bischof oder ein kaiserlicher Richter übte.

Die Wache hielt jetzt in ihrem Sturmlauf inne. Ihr Führer Stoffel Sorge ließ sich schon am Ende des Salzstadels von Lachenden und Jubelnden erzählen, daß der Anlaß des Lärms nunmehr offen und ersichtlich zu Tage gekommen.

Zwei Benediktinermönche kamen, umringt vom wogenden Volksgewühl und eben aus dem Kloster entlassen, den Weinmarkt herab. Daß der eine Mönch ein geweihter Priester, der andere ein Laienbruder war, ersah man nicht am Ordenskleide, das bei beiden gleich weiß war mit dem schwarzen Skapulier darüber; wohl aber daraus, daß jener, der gebückt und beschämt daherschritt, lang und hager von Statur war, während der andere eine gedrungene und üppige Leibesfülle aufwies, ein äußeres Zeichen dienender Verrichtung trug. Denn an einer Holzkelle erkannte man den Bruder Koch des Klosters. Der Jubel über den in der Küche heute fehlenden Schöpfer der berühmten lukullischen Mahlzeiten der Benediktiner-Herren war nicht gering. Alles blickte aus den Fenstern voll Verwunderung auf diesen Aufzug hernieder. »Der Sankt-Ulrichskoch! Ein Wunder!« rief man.

Noch war es aber nicht allen möglich, den Zusammenhang der Begebenheit zu verstehen.

»Der andere ist der Bruder Kellermeister!« sagten die einen.

»Nein,« riefen die andern und deuteten auf die hagere Gestalt, »dann müßte er seinem eigenen Wein nicht trauen!«

»Ei, nicht jedem schlägt sein Futter an!« hieß es aus einem andern Kreise.

So spottete man von allen Seiten, und die Straßenjugend ergötzte sich an ihrem damaligen Lieblingsspektakel, die Messe nachzuplärren und Unfug zu treiben, wie sie auch nur einer Zeit angehören konnten, wo die jungen Leute mit der den Reichsstädten, zumal Augsburg, eigenen zügellosen Ausgelassenheit zuweilen zu Roß in die Sankt-UIrichskirche ritten und, während die Messe zelebriert wurde, um die Altäre schwenkten.

In einer Gruppe konnte man folgende Worte vernehmen:

»Ich halte die Wette, das reimt sich so: Koch und Kellner haben sich in den Haaren gelegen, nicht um Wittenberg oder Rom, sondern um den Küchenzettel auf nächste Woche. Denn für morgen, Trinitatis, schon nicht mehr! Dafür ist drin schon alles mit Brozzeln und Schmoren im Gang. Aber für nächste Woche hat's noch kein' Einigkeit, und auch nicht jede Speise verträgt jeden Wein und nicht jeder Wein schmeckt auf jede Speise. Fleisch z.B., das die Bendixtiner von Sankt Ulrich in aller Wege erst seit zwölf Jahren essen dürfen –«

Den Sprecher unterbrach ein allgemeiner Spottjubel. Die Benediktiner kein Fleisch essen? Die wohlgenährten Patres ohne ihr tägliches Augsburger »Brätle«? Kannte nicht auch jedes Augsburger Stadtkind das vorzüglichste aller Wunder, die sich an des heiligen Ulrich tatenreiches, selbst auf dem Schlachtfeld gegen die Hunnen geprüftes Leben knüpften? Der heilige Ritter, ehe er ein Geistlicher geworden, hatte an einem Freitag Fleisch gegessen. Ob aus Vergeßlichkeit oder infolge eines Rückfalls in die angeborene adamitische Natur wird nicht gesagt. Als ihn seine Feinde wegen Übertretung des Fastengebots verklagt hatten und eben zu seiner Überführung die Schüssel aufdecken wollten – siehe, da rettete Gott seinen Liebling, den er zum Heiligen bestimmt hatte! Beschämt mußten die Neider seines Ruhmes niederblicken. Denn Gott hatte ein Wunder vollbracht. Aus dem Rest des Brätle, der unter dem Deckel der Schüssel lag, waren Fischgräten geworden. Die Fastengesetze hatte der Heilige nicht verletzt.

Diese lehrreiche Aufklärung wurde von einem schlichten Bürger gegeben.

Als die sich ihm Anschließenden weiter gefolgt waren, blieb eine Gruppe von Männern zurück.

An den Hemdärmeln, Hausschuhen, Kappen und nachlässig zusammengehaltenen Kleidern ersah man, daß es Handwerker waren, die sich eben so, wie sie aus ihrer Werkstatt gekommen, auf die Straße begeben hatten.

In ihren Kreis trat ein Schneider mit weißem Bart, Pfefferkorn mit Namen, der vorhin gesprochen und die Erzählung des alten Bürgers veranlaßt hatte.

Zutraulich nickte er einem jungen Mann, der dem Beruf der ihn zunächst Umgebenden nicht angehörte. Um sein dunkellockiges Haar war eine der Sommerhitze entsprechende, mit feinem Pelzwerk geschmückte Tuchkappe bis tief über die Stirn gedrückt. Sein anmutiges, doch tiefernstes, von Falten der Bekümmernis durchzogenes Antlitz war nicht von der Hitze allein, auch von tiefer Erregung gerötet, über den Arm des jungen Mannes hing ein weiter Mantel. Um das enganliegende, dunkelbraune, kurze Wams, unter dessen frei herabhängenden Ärmeln ein Hemd von feinster Ulmer Leinwand sichtbar wurde, zog sich ein blanker, schwarzer Ledergürtel, der offenbar ein Wehrgehenk war, dem an der Seite zur Linken nur das Schwert fehlte. Die weit über die hellgrauen, enganliegenden Beinkleider hervorragenden Stiefel trugen Sporen, die in dem Träger entweder einen Krieger vermuten ließen, für den jedoch das wenig gebräunte Antlitz und die fast frauenhaft weißen Hände kaum zu passen schienen, vier Männer waren es, die ihn umstanden und abwechselnd zutraulich den Arm auf seine Schulter legten und seine Hand berührten. Diese Männer waren Handwerker. Sie verrieten durch vertrauliche Gebärden, daß die edle, fast ritterliche Gestalt des jungen Mannes der Sphäre des Volkes angehörte.

Der mit bunten Seidenfäden um den Hals geschmückte Schneider war, seinem vertraulichen Hinzutreten nach zu schließen, ein Genosse des engeren Kreises. Noch sprach man von dem Vorfall in der Ketzergasse. Nach mancherlei Hin- und Herraten war man darüber einig, daß, ehe nicht die Baalshäuser alle gestürmt und der Erde gleichgemacht wären, keine Ruhe in die Stadt kommen würde. Auf die Straße hinunter, auf die Fuggerhäuser wurde gedeutet, auf den Dom, wo der Bischof und sein Kapitel wohnten. Dort lägen die Hindernisse, daß es in Augsburg noch immer nicht zum vollen Sieg der guten Sache kommen könnte.

»Schaut nur!« hieß es. »Bei den Fuggern lugt alles zum Fenster heraus. Sind immer noch um den Raymund in Trauer! Was sie für verwunderte, lange Gesichter machen! Richtig! Stoffel Sorge schwenkt in die Heiliggrabgasse, nur um den hochmögenden Herren kein Ärgernis zu geben! Diese und noch einige mehr sind unsere wahren Tyrannen!«

Der junge Mann machte einige entschlossene Schritte, um so verfänglichen Reden aus der Hörweite zu kommen. Die ihm Folgenden waren unzweifelhaft sämtlich Verwandte der edlen Schneiderzunft, die in jenen Tagen mehr denn je auf den Satz stolz sein durfte und es in der Tat war, daß Kleider Leute machen. Die Gewandkunst hatte eine nie dagewesene Höhe erreicht ...

Pfefferkorn gab jetzt zu, daß die vom Kloster verstoßenen, wie die Menge durchaus für erwiesen halten wollte, ihres evangelischen Glaubens wegen hätten bedrängt, körperlich gezüchtigt werden sollen. Der Hagere, meinte man, hätte den Koch zu seiner Ansicht herübergezogen; diesen hätte man dann eingekerkert und gar mit Ruten gestrichen.

»Nun denn! Wünschen wir,« sagte Onuphrius Pfefferkorn, »daß der eine einen Platz finde, wo er fromme Christen so gut ernähren kann wie sich selbst, der andere, falls er Kellermeister ist und mehr gelernt hat, als Seeweine in Malvasier verwandeln – solche Kunststücke machen sie für die große Armenspeisung am Tage ihres Heiligen, auf die sich die Ulrichspfaffen so erstaunlich viel zugute tun – vielleicht eine Herde finde, der er Sonntags im Gottesdienst unverfälschte Heilige Schrift vorsetzt! Für uns ist es Zeit, zur Arbeit umzukehren! Schon auf Mittag geht's. Seht da, die Bettelleute schleichen sich auch bei alledem schon wieder mit zerbrochenen Töpfen um den Ulrich herum und warten auf die gestrigen Fischgräten und übernächtigen Gerstensuppen! Schaut, lachen nicht darüber die Fugger? Auf solches Gesindel stützen sie sich nun –! Aber gehen wir –!«

Jetzt gab der Meister Hans Haysermann dem stattlichen Jüngling, dem ihre Huldigung galt, die Hand wie zu einem ewigen Abschied.

Gleiches taten auch seine beiden andern Gesellen.

»Unser Herr und Heiland,« fiel der Altgesell, um ein Übermaß der Rührung zu hintertreiben, mit feierlicher Stimme ein, »er beschütze euch! Unser gnadenreicher Erlöser war zwar sonst den Schneidern nicht hold, er trug einen gewirkten Rock ohne Naht und Knöpfe – unsere löbliche Zunft hätte an ihm keinen – Zwölfer reichgemacht und in die dritte Steuerklasse gebracht. Aber er wird darum doch unsere Herzenswünsche segnen, des Mannes wegen, den sie treffen. Wir beten für euch! Reist glücklich und kommt mit einem runden Felleisen wieder heim!«

Es galt einen Abschied von dem jungen Mann, der auf Reisen ging. So, wie sie da waren, hatten sie ihrem Freunde bis an den Weinmarkt, in dessen Gegend er noch Geschäfte hatte, das Geleit gegeben.

Aber mit jener starken Erhebung der Stimme, womit wir die Macht der Rührung zu überwältigen suchen, sagte jetzt plötzlich der Meister, der in seiner äußern Geltung fast gegen den Altgesellen zurücktrat:

»Nein, nein, nein! Was sollen wir euch die Unwahrheit sagen! Staufferle, am Ziegelstadel erwarten wir euch noch! Nicht, daß wir euch aufhalten wollen – wir wissen, da verschnauft sich die »Ordinari« noch nicht – auch euern Junkern werdet ihr nicht das Herz zu schwer machen dürfen! Aber nur noch einen Wink mit der Hand geben wir euch da und dann – ade! so soll's sein. Jetzt aber eilt, damit ihr euch nicht verspätet!«

Der junge Mann wollte gegen die Absicht, ihn vor seiner Abreise noch einmal draußen vor dem Tor am Ziegelstadel, wo sich ein Wirtshaus befand, zu begrüßen, Einsprache tun. Aber die gute Absicht und der Altgesell behielten das letzte Wort.

»Laßt euch, Ottheinrich Stauff,« sagte dieser, »von dem Tränenwasser unserer Frauenherzen nicht irremachen! Wir Schneider haben ja weit mehr als andere Menschenkinder Gelegenheit, vom Bock gestoßen zu werden! Denn der Bock ist unser Wappentier, wie der Löwe das der Herzöge von Bayern und der Hirsch das des Ulrich von Württemberg. Meinet aber nicht, daß wir euch etwa den Mut benehmen wollen zu euerer gefahrvollen Reise gen Italia! Werden sich auch Mutter Praxede und Martina nicht nehmen lassen, den Ziegelstadel unter Wasser zu setzen – bei Frauen hat das Weinen immer seine Zeit wie das Aderlassen. Haben sie wo einen gerechten Anlaß zum Weinen – zum Exempel in euerm Fall um die grimmen Bären in Tirol und die schönen Mädchen in Venedig – so besinnen sie sich gleich auf hundert andere Anlässe, wo ihnen noch die Tränen im Rückstand geblieben sind von dem oder dem Unglück her und sie sich's nun aufgespart haben, sie fließen zu lassen, auf passende Zeit. Nehmt ihnen diese heutige endliche Erleichterung nicht; die Tränen könnten zurücktreten und sich an unserm Meister Haysermann oder unserm Mittagsbrot rächen. Was aber die Tiroler Bären und sonstige Abenteuer auf Reisen anlangt, so henkt bei Zeiten euer Schwert in den Gurt! Nach neun Uhr abends ist's jetzt selbst an unserm Perlach nicht mehr geheuer und die vielen Galgen auf der Landstraße machen nur, daß sich die Schelme eher daran gewöhnen. Besser aber noch, ihr tut kleine Münze in den Beutel! Manchmal kauft man sich, ich weiß es von meinem Wandern her, um ein Billiges vom letzten Stündlein los, und ihr schreibt's ohnehin euerm Prinzipal in die Verrechnung, was ich dazumal nicht konnte zwischen Beutelsbach und Bopfingen, in welcher Gegend ich in jeder Beziehung fechten gehen mußte – doch in Wahrheit, nun lebt wohl!«

Diese Scherzreden milderten die Stimmung der Trauer über die nunmehr sich rasch vollziehende vorläufige Trennung. Meister Haysermann und den Altgesellen umarmte der Scheidende, den andern schüttelte er kräftig die Hand. Mit dem bescheidenen und frommen Worte: »Gott segne euch!« war er plötzlich allein; denn das Eckhaus, wo sie standen, machte es möglich, daß ihn sofort eine kurze Schwenkung den Blicken der Freunde entzog und er nunmehr allein seinem nächsten Ziele zuschreiten konnte.

Die Rührung, die des jungen Mannes Umgebung über den Abschied empfand, wurde von ihm nicht ganz geteilt. Ihm hob sich ja die Brust vor mächtiger Erwartung und glückseliger Spannung. Auch seine Bildung stellte ihn über die Freunde. Nur die Erinnerung an die Tränen der Mutter Praxede und der holdseligen Martina, der Stieftochter des Meisters Haysermann, der in eine blühende Schneiderwerkstatt, das Besitztum einer Witwe, eingeheiratet hatte, erfüllte ihn mit Anteil. Im übrigen beschäftigte ihn zu sehr die bevorstehende große Reise selbst und die mit ihr verknüpfte Fülle der wichtigsten Aufträge – auch in diesem Augenblick in der Tat der Vorfall am Sankt Ulrich, den er gern in seinem näheren Zusammenhang erkannt hätte. Denn an Luthers Sache nahm er Anteil mit Herz und Mund. Er war der »Diener« eines Kaufmanns, der sich den Fuggern an Reichtum und Bedeutung fast zur Seite stellen durfte. Nicht in Augsburg geboren, kein Schwabe, ein Franke, war Ottheinrich Stauff erst vor sechs Jahren durch eine besondere und für sein Leben entscheidend gewordene Schickung aus der alten Bischofsstadt Bamberg an der Regnitz, wo er geboren, zur Erlernung der Kaufmannschaft nach Nürnberg und von dort nach Augsburg gekommen. Wie ihm schon in Nürnberg das Glück zuteil wurde, die Kaufmannschaft in dem weitberühmten Hause der Tucher erlernen zu dürfen, so wurde ihm, namentlich durch fortgesetzte Empfehlung edler Gönner, denen sich die eigene Empfehlung durch Fleiß und glückliche Entwicklung angeborener Geistesgaben anschloß, die Stellung in einem Hause zuteil, das gleichen Ranges mit den ersten Häusern Augsburgs, den Fuggern und den Welsern, stand, dem Geschäft der Paumgartner, die ebenfalls vor Jahren aus Nürnberg nach Augsburg gekommen waren. Unter den vielen Arbeitskräften des hochberühmten Handelshauses, das außer in Augsburg noch in Venedig, Antwerpen, Lissabon besondere Kontore hatte, im Norden bis nach England, Dänemark, Rußland, im Süden tief in die Levante hinein Geschäfte betrieb, zeichnete sich der junge Stauff in solchem Grade aus, daß er in kurzer Zeit die ersten Buchhalter, bald den Prinzipal des Hauses selbst, wie wenig sich auch dieser um die Einzelheiten des Geschäfts bekümmerte, für sich gewann – Hans Paumgartner, sein Chef, war nicht nur Handelsherr, sondern auch Doktor der Rechte, kaiserlicher Geheimer Rat und vielmögender Staatsmann. Sein vom Vater ererbtes Geschäft lag unmittelbar neben dem Fuggerschen, dessen Front auf den Weinmarkt, dem Weberhause gegenüber, hinausging, auf dem Jüdenberg, der engen, schmalen Durchgangsgasse. Nicht nur hier, sondern selbst im Wohnhause des kaiserlichen Rats, das sich auf der lichthellen, freundlich gelegenen Sankt-Annengasse befand, durfte der junge Mann die Schwelle der geheimen Gemächer seines Prinzipals betreten, seine Aufträge entgegennehmen, Berichte erstatten. Sogar bei festlichen Anlässen, als Geburtstagen des Rats oder seiner ehrwürdigen Mutter, einer geborenen Rehlinger, oder der zahlreichen Kinder des Hauses (des Rates Gattin, die nicht mehr lebte, war eine Schwester Anton Fuggers), hatte der junge Bamberger »Diener« Zutritt. Es war ein Beweis besonderen Vertrauens, dessen sich Ottheinrich Stauff würdig gezeigt, wenn man ihn für einige Zeit nach Italien schickte. Im Anschluß an den regelmäßig jeden Samstag abend von Augsburg nach Venedig abreitenden und zunächst bis Tirol von bischöflichen Reisigen begleiteten Postboten harrte des jungen Mannes auf jedem Relais der Post, die Baptista von Taxis, ein Italiener, mit kaiserlichem Privileg von Venedig bis Antwerpen angelegt hatte, ein frisches Roß. Zu fahren war dazumal selten üblich, galt auch, selbst beim weiblichen Geschlecht, für einen Beweis weichlicher Sitte; nur Greisinnen oder Kranken gestattete man die aus Ungarn gekommenen sogenannten Kutschen oder auch Sänften, die nach vorn und hinten von Saumtieren getragen wurden. Ein guter Kaufmann mußte damals vor allem ein tüchtiger Reiter sein.

Der Aufträge nach Venedig hatte Ottheinrich Stauff eine große Zahl empfangen. Mit ihnen verband sich die Aufgabe, den jüngsten der Söhne des kaiserlichen Rats nebst einem jungen Kameraden sicher auf die hohe Schule von Padua zu geleiten. Vorzugsweise hatte er dann auch noch auf der venetianischen Faktorei des Hauses Handlungsbücher zu revidieren, die, wie nur allzu ersichtlich geworden, durch einen älteren Sohn des kaiserlichen Rats, der dem dortigen Geschäft vorstand, in Unordnung geraten waren.

Zur Mehrung der Erregung, die den jungen Mann bei so wichtigen Aufgaben, abgesehen von dem wonnigen Ziel, Italien selbst, beherrschen durfte, kam in der Tat auch das Erlebnis mit den beiden Benediktinern. Obschon aus einer Bischofsstadt gebürtig, deren anfänglich dem Luthertum wohlgeneigte Gesinnung durch den gegenwärtig dort regierenden Bischof Weigand von Redwitz nachdrücklich gehemmt blieb, gehörte er doch seinerseits zu den glühendsten Anhängern einer Sache, die man damals die des Evangeliums nannte. Wenn ihm um irgend etwas seine Abreise von Augsburg leid tat, so war es das Bedauern, dem vollständigen Siege der neuen Lehre in Deutschlands vornehmster Stadt nicht beiwohnen zu können. Denn stündlich erwartete man vom Rat die endliche gewaltsame Beseitigung der Ausartungen des Kultus, der Mißverhältnisse im Priesterleben, vor allem die Aufhebung der Klöster, die Ausweisung des Bischofs und seines Kapitels, die Suspendierung jedes Geistlichen, der sich nicht auf die nunmehr sechs Jahre alte Augsburger Konfession und eine vor kurzem beschlossene Einigung der Lutherischen und Zwinglischen Lehre verpflichten wollte. Um so lebhafter hatte ihn der noch unaufgeklärte Vorfall am Sankt Ulrich in Spannung versetzt.

Unter den Postreitern des Baptista von Taxis, angesehenen, ehrbaren Stadtbürgern, war es heute Hans Pfister, den die Reihe traf, nach Venedig abzureiten. Vom Wertachbrucker Tor, wo sich die ersten Anfänge der Thurn und Taxisschen Postanstalten befanden, hatte Hans Pfister auf dem Jüdenmarkte anzeigen lassen, daß sich die Mitreisenden bis nachmittags gegen fünf Uhr bereit zu halten hätten; er würde selbst in der Sankt-Annengasse vorreiten und seine jungen Gefährten abholen; am Haunstetter Tor schlossen sich ihm dann vier bischöfliche Reiter an. – – –

Elf Uhr war es. Gegen Mittag erwartete den jungen Diener sein Prinzipal für die letzten Aufträge, schon lagen für ihn in einer ledernen Tasche, die im Kabinett des Rats zurückgeblieben war, die wichtigsten Briefe, auch Barschaften für die Bestreitung der Reisekosten. Die heutige Venediger Post vom Kontor auf dem Jüdenberg selbst, die jeden Samstag auf dem Taxisschen Amt, wie von Augsburgs gesamtem Handelsstande, abgeliefert wurde, brauchte den jungen Sendboten diesmal wenig zu kümmern.

Nach und nach zurückfallend nur in die Gedanken, die das Vorhaben einer jeden großen Reife im Gemüte umwälzt, folgte Ottheinrich Stauff dem Volkshaufen, der die beiden Mönche in die abwärts gelegenen Stadtteile begleitete. Obgleich sich die Menschen zu verlaufen angefangen hatten, so war doch noch eine große Anzahl Müßiggänger oder Aufgeregter zurückgeblieben. Ihn selbst führte sein nächster Weg von der Heiligengrabgasse abwärts zur Bäckenstraße hin, wo er noch eine Besorgung hatte.

Seinem evangelischen Sinn mußte es den größten Verdruß verursachen, zu bemerken, daß nicht weit von einer kleinen, über einen Kanal des Lech führenden Brücke in einem Häuserwinkel, wo Tische und Bänke, welke Tannen- und Birkenzweige auf ein Wirtshaus deuteten, die Begleiter der Mönche diese bewogen hatten, Platz zu nehmen und ihnen reichlich zu trinken gaben aus ringsum im Kreise umgehenden, mächtigen Kannen und Bechern. Es lag hier die beliebte Schenke »Zum Pyr« – wie man das Wahrzeichen Augsburg nennt – die auf einem korinthischen Säulenkapitäl stehende, vielfach gedeutete Frucht, die weder eine Erdbeere noch eine Weberkardel sein möchte, sondern ein Tannenzapfen, und als solcher auf die alte Römerzeit und den Dienst des Gottes Bacchus zurückdeutet.

Im Pyr waren Tische und Bänke von Landsknechten, Bürgern und Bauern besetzt. Sie tranken den Mönchen zu, die über so viel Huldigung und Freundschaft verlegen dreinschauten und binnen kurzem die Opfer des leidigen »Zutrinkens« und des von der Sitte der Zeit gebotenen Bescheidgebenmüssens zu werden drohten. Dazu sang man Spottlieder. Jeder Tag brachte deren neue. Sie hechelten die Zeitumstände durch.

Unwillig begab sich Ottheinrich in die enge Wintergasse, wo in einem Winkel, an der Antonspfründe vorüber, ein stattliches, in seinem unteren Geschoß mit vergitterten Fenstern versehenes Haus von ihm betreten wurde. Es war die Wohnung eines Mannes, an den er infolge der beim Pyr erhaltenen Eindrücke mit doppeltem Anteil hatte denken müssen. Er betrat die Wohnung Hans Honolds, der ein persönlicher Freund Luthers war. Honold, ein strenger, eigenartiger Mann, dessen Glücksgüter ebenfalls zu den hervorragenden Augsburgs gehörten, hatte Luther schon auf dem Reichstag von 1519 persönlich kennen gelernt. Seitdem stand er mit ihm in ununterbrochenem Briefwechsel. Manche Ermahnung Luthers an den Rat und die Geistlichkeit Augsburgs ging durch Honold, der mit Wolf Rehlinger, Konrad und Georg Hörwarth, Hans Welser, Marx Seitz am meisten zur Kirchenverbesserung Augsburgs beigetragen hatte. Ohne persönlichen Ehrgeiz, nur für seine Beerbung durch acht Töchter und die Absicht, eine Stiftung zu begründen, arbeitend (zu seinem Leidwesen hatte er keine Söhne), widmete sich Honold dem öffentlichen Leben seiner Vaterstadt, auch der Teilnahme an den so allgemein gewünschten Änderungen der Verfassungsform. Er verschmähte die Freundschaft selbst einiger Parteihäupter nicht, von denen der unternehmendste der Kürschnermeister Hörbrot war. Zu Ottheinrichs Prinzipal stand dagegen Honold in einem feindlichen Verhältnis, obgleich sie sich verwandtschaftlich verbunden hatten. Eine seiner Töchter, Regina, hatte vor einigen Jahren, als die Gegensätze der Vaterstadt noch nicht zu so schroffer Höhe angelangt waren wie gegenwärtig, der zweitälteste Sohn des kaiserlichen Rats, Antonius, zur Ehe genommen. Dieser stand dem Geschäft des Paumgartnerschen Hauses in Venedig vor.

Hans Honold lebte oft wochenlang außerhalb Augsburgs; er verband die Wahrung seiner Bürgerpflichten mit besonderer Liebe zum Landwesen. Bedeutende Güter gehörten ihm, eine Zeitlang auch der Guttenbergshof bei Kaufbeuren, ein kaiserliches Lehen. Gegenstand seiner Handlungsgeschäfte waren die Früchte des Feldes. In der Nähe seines Hauses erhoben sich mächtige Speicher mit weiten Böden, wo die landwirtschaftlichen Erzeugnisse gesammelt lagen, sein Schreiberwesen im stattlichen Wohnhause war an sich nur gering. Heute zumal, an einem Markttage, waren die arbeitenden Kräfte meist auf den Fruchtböden beschäftigt.

Ottheinrich klopfte an die Schreibstube, die am Aufgang einer stattlich gebauten Treppe lag, trat ein, sah den Sitz des selten anwesenden Prinzipals wiederum leer und fragte den einzigen Diener:

»Hat Herr Honold nichts für Venedig zurückgelassen? Ich wurde beschieden, vor meinem Abtritt deshalb nachzufragen.«

Der Diener schien über diese Nachfrage unterrichtet zu sein und erwiderte bestimmt und laut:

»Es gibt nichts zu melden!«

Ottheinrich sann einen Augenblick nach und fragte weiter:

»Ist Herr Honold daheim?«

»Nein, über Land!« lautete die Antwort.

»Auch die Schwestern der Frau Regina haben nichts zu melden?« wagte Ottheinrich weiter zu forschen.

»Nichts!« war die Antwort des Schreibers, der sofort, wie nach einer gegebenen Anweisung, die Augen wieder auf sein Buch richtete.

Unwillkürlich entfuhr dem jungen Mann ein Ton schmerzlichen Bedauerns. Doch schnell, als wenn sich eine solche Bezeigung seines Anteils an den Leiden einer vornehmen Familie nicht geziemte, ergriff er den eisernen Drücker der Tür und verließ die Arbeitsstube.

An der nächsten Straßenecke blickte er noch einmal zurück. Er bemerkte, daß sein Kommen im oberen Stockwerk des Hauses nicht unbeachtet geblieben war. Am Erkerfenster standen hinter Blumen die ihm von den Kirchen zum heiligen Kreuz und zu Sankt Anna, den vornehmsten, wo in Luthers Geist gepredigt wurde, wohlbekannten, noch unverheirateten Töchter Hans Honolds, und sagen mußte er sich: sie wußten, daß ich kommen würde, und hatten doch keinen Gruß, kein Geschenk für die arme Regina, die Doppeltochter so glücklicher, so reicher und so strenger Männer –! Wie seltsam, daß das Evangelium der Liebe, das uns jetzt täglich gepredigt wird, doch selten die rechten Früchte treiben will, die wahrhaft unser Auge erfreuen, wahrhaft unser Herz erquicken!

Ernste Gedanken zogen durch die Seele des Jünglings, als er aus dem engen Häusergewirr wieder in die freiere Oberstadt zurückgelangte. Er verglich im Geiste Hans Honold und seinen Prinzipal und mußte sich sagen, daß jener Ursache hatte zum Unwillen über die Verbindung mit dem letzteren. Antonius Paumgartner bereitete auch dem kaiserlichen Rat den größten Kummer durch sein verschwenderisches, der Ehre seines Vaters widersprechendes Leben. Nicht minder wußte er, daß sich Regina auf italienischem Boden wieder zum römischen Glauben zurückbegeben hatte, dem sie doch durch ihre Erziehung im Vaterhause hätte entfremdet sein sollen.

Alter Honold, sagte er zu sich, bist du streng mit deinem Kinde, daß du ihm nicht einmal ein Wort der Ermahnung zu senden hattest! Oder sollte ihm für die Ausrichtung eines solchen Auftrags nur die Person eines Paumgartnerschen Dieners unwürdig erschienen sein?

Daß sein Prinzipal nicht mit Luther und Zwingli ging – leider standen sich diese Gegensätze auch in Augsburg schroff gegenüber – sondern wie dessen Schwager, die Fugger, nur das glaubte, was Papst und Kaiser geglaubt wünschten, lastete schwer genug auf seinem Gemüte.

Wieder kam Ottheinrich am Augsburger Pyr vorüber. Immer noch erscholl der Lärm des Trinkgelages und das Absingen alter und neuer Lieder. Noch saßen die beiden Mönche umringt von den Huldigungen der Zechenden.

Seiner Sinne nicht mächtig, trat er unter die Zechenden, stellte sich mit erhobener Rechte den beiden Mönchen gegenüber und redete sie nach dem Geist, der die ganze Menschheit damals ergriffen hatte, mit den Worten an:

»Ihr verlorenen armen Seelen! Schämt ihr euch nicht, so in die Freyung euers himmlischen Vaters zu entfliehen? Wisset ihr nicht, daß die Treber den verlorenen Sohn anekelten, und daß der Rückblick auf den Unflat, darin er früher sich hatte betten müssen, seine Seele mit Grausen erfüllte? Nur auf seines Vaters liebendes Auge hatte er die Blicke gerichtet, als er sich aus seinem Schlamm erhob. Von dessen Liebe hatte er sich Vergebung erwartet –! Ist das nun Reue, Buße, Gebet –? Ist es das, was ihr den Leuten und Gott zum Wohlgefallen jetzt bekennen solltet? Wie? Entronnen dem Baalsdienst fühlt ihr nicht die innere Heimsuchung, euch sofort zu reinigen vor dem Herrn und ihm die Erstlinge euerer Wiedergeburt als kindliche Opfer des Dankes darzubringen? Wahrlich, ich sage euch, da sind ja die verblendeten, die hinter euern Mauern und Riegeln Knechte des Gesetzes zu bleiben sich verurteilt haben, ehrenwerter denn ihr, die ihr Freigelassene zu sein begehrtet in Christo Jesu und solches, wie es den Anschein nimmt, nur im Satan geworden seid!«

Das entschlossene Auftreten des jungen Mannes, die Erhebung seiner Arme bewirkten allein schon, daß sofort der Gesang verstummte, der Becher niedergestellt und Ruhe verlangt wurde.

Nun schon allgemeiner verständlich fuhr der junge Mann, während die Mönche verlegen lächelnd die Augen niederschlugen, fort:

»Ihr, die ihr jede Sünde doppelt zu zahlen habt, als Menschen und als Priester und Priesterverbundene zugleich, als schwache Kreatur und als geweihte Lehrer der Furcht Gottes und berufene Diener der Berufenen, ihr solltet den Herrn, euern Erretter, preisen mit Zungen, die nicht trunken sind vom Wein, sondern vom Geist Gottes! Während Sankt Stephanus gesteinigt wurde, predigte er noch auf der Straße. Und ihr, die ihr wie im Triumph auf Händen getragen werdet, ihr habt kein anderes »Hosianna!«, kein anderes »Gelobt sei der, der da kommt!«, als Schelmenstücke und weltliche Jubellieder?«

Schon hatte sich um den jugendlichen Sprecher ein Kreis von Männern und Frauen gebildet, die seinen Worten mit innigstem Behagen an dem Vorgang horchten. Es war ein Auftritt, wie ihn auf Straßen und Plätzen jetzt die tägliche Erfahrung brachte, selten aber, daß ein fahrender Schüler, ein Prädikant oder Wanderprediger so die Herzen ergriff, so dem Ohr und Auge zugleich eine Weide bot.

Hatten schon vorher die beiden Klosterleute durch stetes Niederblicken und Schweigen die Voraussetzungen, die sich an ihre Entlassung aus dem Kloster knüpfen durften, im Grunde nicht recht wahr machen wollen und sich den ihnen dargebrachten Huldigungen gleichsam nur mit unfreiwilliger Teilnahme hingegeben, so senkten sie vollends jetzt ihre Augen, ebenso vor Scham über die Worte, die sie zu hören bekamen, wie vielleicht aus andern Ursachen, die zu ergründen niemand gelingen mochte.

»Und ihr,« fuhr der Jüngling zu den Umstehenden gewendet fort, »ihr, die ihr diese Männer anleitet, daß sie nicht mehr zu wissen scheinen, wie sehr sie Werkzeuge in der Hand Gottes sind, kennt ihr nicht das Wort, das geschrieben steht: »Wehe denen, durch welche Ärgernis kommt!« Warum frohlockt ihr wie über einen Sieg, der hier gewonnen wäre? Ist doch hier kaum die Anfechtung gekommen, geschweige daß die Erkenntnis schon den Harnisch des Glaubens umgegürtet, das Schwert angetan und den Sieg davongetragen hätte! Sind diese Seelen gewonnen zum Verdruß dem Antichrist und dem Papst in Rom, so sollen sie es Gott bezeugen unter den Völkern, ihm lobsingen unter den Leuten, wie David Psalm 57, als er vor Saul und seiner Kriegsmacht in die dunkle Höhle entfloh.«

Erschüttert von der Macht dieser Worte ergriffen die Umstehenden des Jünglings Hand, drückten ihn an sich, verlangten seinen Namen zu wissen und blickten zu den Fenstern auf, aus denen man mit Tüchern winkte und Lobsprüche für den Jüngling, Verwünschungen für die trunksüchtigen Mönche herunterrief.

Aber wie ein kundiger Redner, doch ohne Überlegung, rein aus einem nicht zu bewältigenden rätselhaften Drang der Begeisterung, brach Ottheinrich Stauff nicht etwa jetzt seine Rede ab und begnügte sich, die Nachwirkung der mehr oder minder empfänglichen Willkür seiner Hörer zu überlassen, er sammelte vielmehr die nun einmal geweckten Empfindungen der Hörer auch in einem Entschlusse, in einer Tat, zu deren Vollzug er selbst den Anfang machte. Er ergriff die Hand des Laien-Bruders, der sich mit seiner Küchenmütze bald die Stirn, bald die Augen trocknete, dann die Hand des ihn groß und starr betrachtenden hageren Paters und redete sie in gemilderter Kraft der Stimme noch einmal mit den Worten an:

»Stehet jetzt auf und folgt mir an einen Ort, der vom ehrbaren Rat dieser Stadt denen geöffnet ist, die sich aus den Banden der Knechtschaft befreien wollen und vielleicht noch nicht wissen, wo sie für ihre sichere Landung den Anker auswerfen sollen! Bis ihr einen neuen Weg gefunden haben werdet, um dem Herrn durch euerer Hände oder eueres Geistes Arbeit zu dienen, findet ihr in dem alten Stift der heiligen Anna Zellen und Lagerstätten, die euch beherbergen können. Seid ihr etwa an Gütern des Geistes gesegnet, so könnt ihr dort den Knaben der Schule euere Kenntnisse verwerten, denn die Gehilfen des hochgefeierten Rektors Xystus Betulejus erfahren gern einen Nachlaß in ihrer angestrengten Arbeit. Seid ihr aber dessen inne, euch selbst erst noch unterrichten lassen zu müssen, so findet ihr nirgends in deutschen Landen Lehrer, die den dortigen Verwesern des Magisteriums an die Seite zu stellen wären. Und wenn ihr euere dortige Verköstigung nur durch euerer Hände Arbeit verdienen könnt, so habt ihr auch so Gelegenheit genug zum Dank für euere einstweilige Aufnahme im Stift und zum Preise Gottes. Auf alle Fälle steht euch dort eine Pforte zur Rückkehr in die Freiheit des Herrn offen, die würdiger ist als die, durch welche ihr jetzt wandelt und auf welche das Wort des Herrn paßt, daß die Pforte weit ist und der Weg breit, der zur Verdammnis führt und ihrer viele darauf wandeln, schmal aber die, so zum ewigen Leben führt!«

Nun war aller Sinnen nicht nur bildlich, sondern in Wirklichkeit nur auf eine einzige in der Tat nicht besonders breite Augsburger Straße gerichtet, die Sankt-Annengasse, wo im neuerrichteten Alumneum, nahe den alten Zellen der Karmeliter, Platz zu hoffen war für die erste Verlegenheit, solche Klosterflüchtlinge passend unterzubringen. Die einen zerstreuten sich hochbefriedigt, wenn auch schweigend vor Ergriffenheit, die andern forderten die Mönche auf, sie zu begleiten. Angesehene Bürger, Ratsverwandte, waren hinzugetreten und hatten die Worte des jungen Redners, den die einen seines Wehrgehenks wegen für einen Krieger, die andern für einen Studenten hielten, mit Befriedigung vernommen, seine Aufforderung unterstützt und die Bestimmung der Sankt-Annenschule zur einstweiligen Herberge für Klosterflüchtlinge bestätigt.

Die demütig Niederblickenden nahm man in die Mitte. An den Fuggerhäusern, dem Gasthaus zur Traube, dem Tanzhause, dem Weberzunfthause ging es vorüber zum Rindermarkt und zur Sankt-Annengasse. Immer zahlreichere Scharen schlossen sich an. Der Bruder Koch weinte. Der andere, der sich, wie Ottheinrich erfuhr, Pater Udalrich nannte, war stiller und sah scheu zur Erde.

Nun kamen wohl die inneren Stimmen, die nach so gewaltigen Regungen des Augenblicks Ottheinrich die bittersten Vorwürfe zu machen pflegten, und sagten ihm sogar: Das Hospiz, das du empfohlen hast, liegt ja dicht beim Wohnhause deines Prinzipals –! Sah er auch einem Sturm im Hause des kaiserlichen Rats, möglicherweise einer schimpflichen Entziehung des ehrenvollen Auftrages, nach Italien zu reisen, entgegen, es blieb ihm nichts übrig, als sich mit den Worten der Schrift zu ermutigen:

»Gott ist mein Hirt! Mir wird nichts mangeln!«


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