Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV.

Der Erste, den Ottheinrich erkannte, nachdem er sich endlich von dem furchtbaren Schlage, der ihn getroffen, zusammengenommen, war der alte Schneehuhn.

Dieser ließ, als ihn die jungen Männer anriefen, ob er wohl den noch erkennte, den sie eben mitbrächten, beinahe den Weinkrug aus seiner Hand fallen, den er soeben, frisch gefüllt, aus dem Keller schleppte.

Der Zweite war Sigmund Rothhut.

Der Dritte Baltzer Trotz, der somit aus dem Dienst der alten Schwangauer Herrn in den der neuen getreten war.

Alle erkannten Ottheinrich sofort und begrüßten ihn mit frohem Erstaunen.

Die Junker zogen ihn in den Speisesaal, der zu ebener Erde in den Hof hinausging, just wie in der Annengasse zu Augsburg. Da war alles beisammen, was dem neuen Reichsstand zur glänzendsten Hebung seines Namens nur dienen konnte.

Sigmund Rothhut, sogar Schneehuhn unterstützten den Zuspruch und die Ermutigung, die dem zaghaften alten Bekannten durch die beiden jungen Söhne des Hauses zuteil wurde. Die Tränen standen Ottheinrich in den Augen. Soviel Anhänglichkeit an ihn hatte er sich nicht für möglich gedacht. Mit wehmütiger Freude erfüllt es uns, wenn wir zuweilen doch sehen, daß unser Leben nicht umsonst gewesen, unser Wollen verstanden, unser Wert erkannt worden ist. Das Übrige tat die Beschämung über den Wahn, daß er je anders an Gundula hatte denken können, als an ein Wesen, das einst in der Welt infolge seines Reichtums so dastehen würde, wie sie jetzt stand, als die Nachfolgerin einer Markgräfin von Baden –! Über diese Erkenntnis seiner Lebensunreife fühlte er sich beschämt und vernichtet. Kunigunde war vor kurzem die Gattin des Tiroler Landeshauptmanns Leonhard von Völs geworden ...

Als sich die Tür geöffnet hatte, traten eine schmale Schneckenstiege herab der Reihe nach die Tischgenossen – voran der Rat, der ehrwürdige Bischof von Augsburg, der behäbige Dompropst Marquard von Stein. Ottheinrich erkannte alle – auch einige unter den Rittern und Ratsherren, Prälaten und kanonischen Doktoren.

»Vater – sieh, wen wir dir mitgebracht haben!« rief David.

»Ottheinrich Stauff! Wie von der Straße aufgegriffen –! Kennst du ihn noch?« fiel Hansjörg ein.

Der Rat, noch wohlbeleibter als sonst geworden, kurzatmig, dicken Halses, in schwarzer, spanischer Tracht, mit goldenen Ketten und Schaustücken überladen, sah Ottheinrich eine Weile groß an. Dann reichte er ihm mit seinem feinen, nur zu leicht ins Spöttische übergehenden Lächeln die Hand und sprach:

»Aufgegriffen wie von der Straße? Also wie im Evangelium! Der Hausherr entsendet seine Boten und ladet sich Gäste ein, wo sie sich finden! Willkommen denn und – wie ihr seht – ich spreche sofort, wie ihr's ja liebt, aus dem Worte Gottes –! Ja, ja, eben kommen wir vom Rathaus, wo wieder einmal die schwarzen Herren den Reichsfürsten berichteten, was sie seither über unsern sündigen Adam ins Reine gebracht –! Setzt euch nun aber und alles andere, was wir zu besprechen haben, denk' ich, findet seine gelegene Stunde –!« Damit wies er ihm ruhig einen Platz an und fügte nur noch hinzu: Rechte, David, brauch' ich euch nicht vorzustellen –! Doch eurem Gegenüber, dem Herrn Ritter von Knöringen, sagt' ich gern, wer ihr seid –! So seid ihr nur wohl ein Kaufherr worden oder ein Prädikant oder wie nenne ich euch –?«

»Des fürstbischöflich würzburgischen Marschalls, Wilhelm von Grumbach, Schreiber bin ich –«

Der Rat riß die Augen auf.

»Herr Sekretari!« sagte er erstaunt. »Ei, das ist ja Neue Zeitung. Ein Politikus also –! Nun um so mehr nehmt Platz unter uns wie gesagt, wann erst das Mühlrädlein in der Zungen Oberwasser hat – ich meine aus dem Weinkrug da – dann erzählt!«

Das Tischgespräch war lebhaft und spiegelte die Bedeutung eines solchen Reichstags wider. Die höchsten Interessen der damaligen Menschheit, die Lebensfragen des Jahrhunderts standen auf dem Spiele. Jedermann wußte, daß der Riß der Kirche nur deshalb mit Gewalt geheilt werden sollte, um andere schroffe Gegensätze – noch schroffer aufzureißen. Mit Frankreich hatte der Friede ausgespielt. Die Türken hatten schon Osen, in diesem Augenblick ganz Ungarn genommen –! Es mußte ein furchtbarer Augenblick, von welchem eben gesprochen wurde, gewesen sein, als Soliman der Witwe des Zapolya den Befehl hatte zukommen lassen, ihm ihr kaum einjähriges Söhnlein ins Lager zu schicken. Nicht unmöglich, daß ihn die Mutter von den Janitscharen gespießt wieder zurückerhalten hätte. Einer furchtbaren Szene der Verzweiflung, Stunden des schmerzlichsten Harrens folgten, so erzählte man am Tisch, zuletzt eine jubelnde Freude. Die Wärterin, mit dem Kinde ganz allein ins Lager gelassen, berichtete, der Sultan hätte das Kind geliebkost, es auf den Arm genommen und mit Rührung in dem sehnsüchtig erwarteten Sprossen seinen alten toten Freund Zapolya betrachtet, den Ersatz für den toten Bastard von Ungarn, König Ludwigs Sohn, den Ersatz für Österreich, das sich schon seiner ungestörten Erbberechtigung hatte zu erfreuen anfangen wollen.

Bedeutsam waren die Blicke, die bei diesen ungarischen Mitteilungen der Rat auf seinen unverhofften Gast Ottheinrich Stauff richtete –! Hatte er also doch noch nicht vergessen, worin ihm dieser Treue alles gedient hatte.

Die Parteilichkeit des Rats für die Interessen des Hauses Habsburg hatte noch zugenommen. Doch überraschte es Ottheinrich, den kaiserlichen Rat über die Religionsspaltung minder schroff als sonst urteilen, ja sogar den Landgrafen von Hessen über alle anderen Fürsten Deutschlands rühmen zu hören.

An des Rats Lobeserhebung über Philipp von Hessen schloß sich die Mitteilung, daß Sebastian Schertlin von seinem Gut in Schwaben, Burtenbach, erwartet würde.

Die anwesenden Augsburger erstaunten darüber.

»Der Landgraf hat ihn herbegehrt!« berichtete der Rat mit einem Lächeln, das die Augsburger immer noch stutziger machte. Doch beachtete er ihr Kopfschütteln nicht, sondern strich seinen alten Kameraden aus dem Türkenkrieg von 1532 über die Maßen heraus, zog sogar Sigmund Rothhut ins Gespräch und verriet von allem das Gegenteil, was man, nach seiner Stellung zum Kaiser, in betreff Schertlins von ihm zu hören erwarten durfte. Einer oder der andere am Tisch mochte wohl in die Versprechungen eingeweiht sein, die der Rat vor fünf Jahren seinem Freunde Haller von Hallerstein in betreff Schertlins gemacht hatte, Versprechungen, die sich nunmehr zu erfüllen schienen. Der Landgraf zahlte seit Jahren Schertlin eine Pension. Auch er wollte wohl Schertlin auf dem Reichstag, doch nur als seinen »Soldritter« sprechen, der trotz der Aussöhnung mit dem Kaiser, die Philipps und des Kaisers Räte betrieben, heimlich rüsten helfen sollte. Aber der Freiherr von Hohenschwangau schien die Karten anders gemischt zu haben. Der Kaiser wollte Schertlin sowohl von Augsburg wie von Hessen losbekommen, um ihn schließlich gegen Frankreich aufzustellen. Schertlin kam mit einer Doppelrolle auf den Reichstag. Weder der Landgraf noch die Protestanten überhaupt wollten mit Frankreich einen Reichskrieg. Schertlin verwirkte seine Stellung auf protestantischem Boden, wenn ihn der Freiherr von Hohenschwangau zur Annahme einer Oberbefehlshaberstelle gegen Frankreich bewog. Der kaiserliche Rat rechnete auf Schertlins übelberufene Geldgier.

Die Schwangauer Junker sprachen in alles, was aufs Tapet kam, weidlich hinein. Die Fülle des angenehmen Donaustaufer Weins, den sie tranken, entschuldigte, daß, wie ihr Vater gelegentlich bemerkte, »jetzt auch schon die Hühner, ehe sie Eier gelegt, gackerten!«

Der Beschäftigungen und Zerstreuungen brachte der Reichstag so viele, daß die Nachmittagszeit für jeden der Tischgäste hinlänglich in Anspruch genommen war. Die einen gingen zur Fortsetzung der Disputationen, die andern zu Sonderkonventen, die von Gleichgesinnten gehalten wurden, wieder andere zu den vielen Schaustellungen, die jetzt, wo die kaiserliche Trauer vorüber war, nicht länger ferngehalten werden konnten.

Auch die Junker hatten mit Hessel von Grumbach und dessen Gesellschaftern Verabredungen getroffen und schieden vom Vater und dem würzburgischen Sekretarius mit der wiederholten Bitte, sich ihnen dauernd anzuschließen. Ottheinrich sollte dies bereits hier tun und dann auch noch nach Hohenschwangau kommen. Als der Vater zu diesem Vorschlag schwieg, sagten sie, er sollte sich wenigstens zum täglichen Gast ihres Tisches machen. Wenn nahebei der Rat die adlige Sitte in einem immer offenen Gemüt und weitherzigen Handeln erblickte, so hatte er sich seine beiden jüngsten Söhne nach seinem Ideal erzogen. Von dem im engeren Kreise geführten Tischgespräch her wußte Ottheinrich, daß Antoni ein für allemal auf eine Rente verwiesen war und wieder in Venedig lebte, Johannes, seiner Kränklichkeit halber auf jede Teilnahme an der veränderten Lebensstellung der Seinigen verzichtet hatte und demnach die ganze Hoffnung des Erblühens und Fortgrünens der neuerworbenen Adelsschaft auf die beiden jüngsten Sprossen des alten Paumgartnerstammes gesetzt war.

Ottheinrich mußte den Rat die kleine Schneckenstiege, die aus dem Eßsaal in den obern Stock führte, hinaufbegleiten und in einem geräumigen Gemach, das durch die mitgebrachten Bequemlichkeiten ein besonders wohnliches Ansehen erhalten hatten, ihm gegenüber Platz nehmen.

»Dazu wäre ich sogleich bereit,« begann er, an die Wünsche seiner Söhne anknüpfend, »daß ihr uns ins Allgäu folgen solltet! Ich bedarf in meinem neuen kleinen Reich mehr als einen Sekretarius, einen Vizekanzler, wie ihr mir ein solcher wohl werden könntet. Kanzler bin ich selbst. Ihr solltet uns regieren sehen –! Nur traurig, daß Johannes ein Licht ist, das bald zu erlöschen droht –«

»Nur die edeln Blumen reißt der Sturmwind nieder, Unkraut wuchert fort!« antwortete Ottheinrich im Widerspruch mit manchem herben Wort, das sonst wohl der Rat auch über seinen ältesten Sohn ihm gegenüber hatte fallen lassen.

Das war dann aber ganz seines Meisters Weise, vom Vergangenen zu sprechen, als wär' es so, wie gewesen, durchaus nicht vorhanden. Kein Wort der Entschuldigung für die harte Behandlung, die er dem treuen Diener hatte widerfahren lassen, nichts vom Vergangenen überhaupt kam über seine Lippen. Die alte Freundlichkeit, als wäre zwischen ihnen nie etwas Störendes vorgefallen, dasselbe Stochern in den Zähnen mit dem goldenen Stocher, der ihm quer über seinen goldenen Ketten auf der Brust lag, dasselbe Trommeln auf den Tisch mit seinen prächtig beringten Fingern ... Er schien nur nachzugrübeln: Wohin könntest du diesen gutwilligen Menschen wieder stellen? In welchem Schubfach deiner weitverzweigten Tätigkeit ihn zweckdienlich unterbringen –?

Ottheinrich wurde von ihm nach seinem bisherigen Schicksal befragt.

Er erzählte aufrichtig und unterließ nicht, dem Schmerz, ja der Entrüstung Ausdruck zu geben, die ihm damals die Behandlung verursacht hätte, die er so unerwarteterweise nach seinem Vergehen im Fuggerhause erfahren.

»Das war alles besser so für euch! Glaubt mir's nur –!«

Das war die ganze vom Rat darauf gegebene Antwort. Und so oft im Verlauf seiner Erzählung Ottheinrich die Gelegenheit wahrnahm, an irgend eines der ungelöst gebliebenen und so eng mit seinen Verdiensten, die er sich um den Rat erworben, zusammenhängenden Verhältnisse zu erinnern, lächelte jener nur, schaltete ein: »Das versteht ihr nicht!« und drängte darauf, die Lebenslaufbahn des jetzt so männlich Gereiften zu erfahren, die ihn lebhaft zu fesseln schien.

Noch ehe Ottheinrich zu Ende gekommen war, hatte er Veranlassung gefunden, die für ihn so überraschende Anwesenheit Vittorias in Regensburg zu erwähnen.

»Ja,« sagte der Rat, »da könntet ihr euch sogleich ein Verdienst um uns erwerben und feurige Kohlen auf mein Haupt sammeln! Also rede ich, weil ihr mich nahezu als einen Undankbaren im Herzen getragen habt. Tut mir leid um euer jung, jäh Urteil. Wie sich diese Dame mit meinem Hause verkettet hatte, das wisset ihr ja selbst. Ihre Brüder hab' ich vom schimpflichen Tod errettet. Mußte sie doch auch, nach der Entdeckung, Johannes sei des Grafen Traversi Bruder, ein Grauen vor ihm empfinden, so sehr sie ihn mag geliebt haben, wie denn auch er sie ja gern gemocht. Da aber trennten sie sich. Die Welschen zogen gen München, wo sie Oswald von Eck längere Zeit unterhalten hat. In München traf ich sie dann noch später selbst, als sie eben nach Italien heimreisen wollten. Gewohnt, wie ich bin, den Anlaß, Menschen kennen zu lernen und sie mir zu verbinden, nicht daher zu entnehmen, daß sie mir sogleich ein: Hosianna! entgegengerufen haben müssen, eher darin, daß ich mit dem Kopf an sie anrannte, suchte ich sie auf und vermochte sie bald, mir nach einigen Mustern, die mir Messer Luzio di Spari vorlegte, ein neues Schloß zu bauen. Das solltet ihr nun sehen –! Die Brüder Ferrabosco und der alte Luzio dachten über die Art, Menschen kennen zu lernen, die uns nützen, ebenso wie ich. Dankbarkeit verpflichtete sie mir ohnehin schon. Und so bauen sie mir denn mein Schloß und, nochmals, ich wünschte, ihr sähet, was sie zustande bringen. Euer Rimpar, das ihr von Würzburg her so rühmt, mag ihm nahekommen. An Schönheit übertreffen wir es gewiß. Wahr ist's, solch ein Bau frißt ein unsäglich Geld, aber zum Glück haben wir die Steine und den Gips selbst zur Hand. Das Gesumme auf dem Schwanenstein solltet ihr nun sehen und mit anhören –! Luzio di Spari läßt nur Italiener arbeiten. Italiener sind die besten Maurer, was auch die Deutschen sagen mögen. Steinmetzen sind die Deutschen bessere, zumal die Füssener. Der jüngste Ferrabosco, Jeronimo, blieb bei der Schwester, die nicht mitgehen mochte. Oswald von Eck ließ sie hieher geleiten, wo sie seit drei Jahren arbeitet. Die Zeit ihrer Jugend ist hin. Also möchte ich denn wohl, da wir ohnedies jetzt in meinem Bau an die feinere Arbeit gekommen sind und manch Blumenkränzlein, so von Steinen nachgebildet Erker und Türen schmücken soll, zu winden haben, daß sie den alten Groll mit meinem Hause fahren lasse, der Possen meines, wie ihr wisset, von uns für immer aufgegebenen Antoni vergeßlich werde und mit ihrem Bruder zu ihren Landsleuten käme, deren dringendstes Bitten ich ihr persönlich überbracht habe. Als sie mir da, ob aller dieser Dinge, nur erst mit naßgewordenen Augen Antwort gab, konnte ich ihr wohl sagen: »Lasset eure Tränen getrost auch um meinen Sohn Johannes fließen! Bald wird er nun zum letztenmal die Sonne haben untergehen sehen vom hohen Söller unserer verfallenen Burg, die er mit seinem Weibe im Sommer bewohnt, so rauh und kalt es dort auch sein kann! Hat er euch je im Leben gehuldigt, nun so erkennet darin eines Eheweibes – ich meine meiner Schwiegerin – gut Herz, daß auch sie ihm gönnt, noch vor seiner letzten Stunde wieder einmal mit euch zu sprechen, welsche Lieder aus eurem Mund zu hören, den Klang eurer Laute, die ihm keiner recht zu Dank spielen kann, soviel Spielleute wir ihm auch von der Landstraße heraufrufen, um ihm Freude und Erinnerung an seine Jahre von Avignon zu bereiten –!« Fast hab' ich die Bildhauerin bereit gefunden, mit uns zu gehen. Doch wenn sie lieber dem Eck zu Gefallen hier bleiben möchte –«

»Unmöglich –!« unterbrach Ottheinrich den Rat.

»Nun gut, so könntet auch ihr um ihre Zustimmung werben,« fuhr letzterer fort. »Muß man nun doch einmal sterben, so kenn' ich keinen schöneren Tod, als so zu sterben, wie ein Lied zu Ende geht –! Da rühmt man wohl den Tod in der Schlacht, der jählings dahinraffe, oder den Tod, der wohl einst auch mir beschieden sein dürfte – von einer zerspringenden Ader –«

»Herr –!« unterbrach Ottheinrich mit abwehrender Gebärde.

»Dennoch meine ich,« fuhr der Rat seufzend fort, indem er einen flüchtigen Blick über die kurze gedrungene Gestalt seines wohlbeleibten Körpers streifen ließ – »dennoch meine ich, es sei am schönsten, mit dem Ave sterben, wenn die Sonne untergeht, oder, wie meine Mutter selig immer sagte, nach einem eben gemachten Testament. Treten da noch einmal die alten lieben Gestalten, die uns im Leben treu und wert gewesen, an unser Lager, haben wir da noch einmal beisammen, was wir hier auf Erden unser genannt, so stirbt man, wie die Natur es gewollt hat – die Frucht ist reif, sinkt zur Erde, braucht von keines Hand mehr geschüttelt zu werden. Und vollends schön ist's – das gönn' ich meinem armen Hans, ob er mir schon vielen Kummer bereitet hat, freilich dafür auch von mir nicht immer die sanfteste Hand erfuhr – wenn eins, nehmen wir's kaufmännisch, vor seinem Ende noch seine Außenstände berichtigen kann und mit gutem Gewissen einen Strich durch seine bislang unerledigten Posten macht. Verbindet euere Bitten mit den meinigen, auf daß die Jungfrau ihren Groll fahren lasse und an meinem Hausbau sich beteilige – ihr wisset schon, was ich darunter, außer den Simsen und Karniesen, verstehe – –!«

Der Rat wurde durch einen Diener, der ihn abrief, verhindert, im Gespräch fortzufahren.

Ottheinrich drückte ihm tiefbewegt, ja schon beinahe wieder fürs Leben gewonnen, die Hand und ging von dannen. Hatte er je geglaubt, sich in dem Gedanken verzehren zu müssen, daß sich sein wahrer Lebensberuf nur in der Nähe dieses so fesselnd, so für jeden Widerspruch entwaffnend wirkenden Mannes hätte entfalten können, jetzt ergriff ihn die Vorstellung mit erneuter Macht. Wie hatte der Gewaltige verstanden, die innersten Saiten seines Herzens zu berühren –! Er verglich ihn mit Grumbach. So hoch er den Marschall schätzte, sein unheimlicher, kaltverständiger Grübelsinn konnte ihn auf die Länge so, wie der Rat, nicht fesseln – trotz aller bittern und wehmütigen Gedanken, die sich an des letzteren Wiedersehen knüpften, von Gundula hatte er nicht eine Silbe gesprochen.

Noch in tiefster Erregung kam Ottheinrich an die Bauhütte des Rathauses.

Er fand sie nun nicht mehr so unbelebt wie zur Mittagszeit. Auch hier zeigten sich die Spuren des Reichstags. Als er die Tür geöffnet hatte, fand er von der Helle des aus den hochgelegenen Fenstern fallenden Oberlichts nicht nur die Marmor- und Sandsteinblöcke und einige Arbeiter, die an ihnen beschäftigt waren, magisch beleuchtet, sondern auch einige Herren, die sich in welscher Sprache mit den Arbeitern unterhielten, Ritter, Doktoren, Priester. Hinter einer Wand von grüngefärbter Leinwand arbeitete, Kleider und Antlitz mit weißem Staub überzogen, Vittoria, in einiger Entfernung ihr Bruder Jeronimo.

Eben sprach ein italienischer Abbate mit Bewunderung von ihrer Arbeit. Vittoria meißelte, auf einem Schemel stehend, an einer fast vollendeten Bildsäule der Göttin Themis.

Als sie einen flüchtigen Blick auf den dem Tabernakel, auf dem sie stand, näher tretenden Besucher der Bauhütte geworfen hatte, ließ sie, sogleich von Ottheinrichs freundlichem: Salute Signora! gefesselt, den Schlägel, den sie in der Hand hielt, sinken. Sie erkannte den alten Reisegefährten sofort.

»Miracolo!« rief sie aus. »Seid ihr es denn wirklich oder gleicht ihr nur so einem jungen Freunde von uns –? Jeronimo! Jeronimo!«

Von einer Fortsetzung ihrer Arbeiten konnte fürs erste keine Rede sein. Vittoria zog Ottheinrich zu sich herauf auf ihr Tabernakel, Jeronimo half. Unbefangen küßte sie den so unverhofft Wiedergefundenen und drückte ihn auf den Schemel nieder, auf dem sie selbst, eben mit der Binde am Auge der Themis beschäftigt, hochaufgerichtet gestanden hatte.

Allerdings zeigte Vittorias Äußere, daß sie über die Mitte der zwanziger Jahre hinausgerückt war. Durch die Notwendigkeit, immer stehen zu müssen, schien sich ihre Gestalt gereckt zu haben. Sie hatte mehr Fülle, kräftigere Schultern und Muskeln bekommen. Dem Glanz ihrer Haut mußte der immer um sie her wirbelnde Staub schaden. Ihre Stimme gebrauchte sie in tieferer Lage als sonst. In der Einfachheit, Bescheidenheit und Tüchtigkeit ihres Wesens hatte sich nichts geändert.

Hier in Regensburg lebte sie seit drei Jahren. Anfangs hatte sie für den ehrwürdigen, noch unvollendeten Dom gearbeitet, dann für eine Ausschmückung der innern Räume des Rathauses.

Auch auf sie schien des kaiserlichen Rats geistige Kraft einen Eindruck gemacht zu haben, der sich ihr schon vor fünf Jahren in Augsburg als unwiderstehlich bewiesen hatte. Ihre Erzählung bestätigte es, daß sie, als sie das Leben ihrer Brüder und Luigi Costas, der in Hohenschwangau mitarbeitete, gerettet sah, sofort nach München gegangen war, obschon sie vorauswußte, daß sie dort den Bewerbungen des Ritters von Eck ausgesetzt sein würde. Aber Johannes hatte ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sie war durch das Andenken an ihn sogar mit seinem Bruder Antoni versöhnt. Die Gelegenheit, auf lange Jahre einen Verdienst zu gewinnen, hatte sie ihren Gefährten gern gegönnt, wenn sie sich auch noch nicht entschließen mochte, ihnen zu folgen. Um Antonis willen nicht, der damals noch nicht in solchem Grade verschollen war wie seither. Und wenn auch jetzt ihr Entschluß nicht reif war, den Aufforderungen ihrer Gefährten und des Rats zu folgen und nach Hohenschwangau zu ziehen, so lag die Schuld weniger an ihrer Arbeit, die hier so gut wie vollendet war, als an der Sorge, eine Unbequemlichkeit für Anna, des Rats Schwiegertochter, zu werden. Ottheinrich versicherte, daß sie solche Besorgnis nicht zu hegen brauchte. Daß sie in Johannes einen Sterbenden finden würde, wußte Vittoria ohnehin und gab ihrem Gefühl darüber den innigsten Ausdruck.

Zuweilen hatte Jeronimo die Erzählungen seiner Schwester mit Lächeln unterbrochen und ihr mit bedeutsamer Miene zugeblinkt, als wollte er sagen, sie sollte ihm Gelegenheit geben, noch eine fernere für den freundlichen Hörer überraschende Mitteilung zu machen. Nachdem sie ihm anfangs darauf mit einem ähnlichen Lächeln und kopfschüttelnd erwidert hatte, sagte sie endlich selbst:

»Nun, so hört es, was meinem Bruder länger keine Ruhe läßt –! Es scheint also beschlossen, daß dieser große Reichstag alle Gräber öffne. Und fast fürchte ich mich, ans Tageslicht zu treten. Immer muß ich denken, Gestalten zu begegnen, von denen ich geglaubt hatte, daß sie längst bei den Toten. Wisset denn, wen ihr hier noch antreffen werdet, falls ihr ihn nicht schon gesehen habt –«

»Unser Teufelchen –« fiel Jeronimo ein, der sich an Ottheinrichs Spannung weidete – »unser ungarisches Eichkätzchen! Den undankbaren –«

»Moritz Hausner –?« unterbrach Ottheinrich mit Erstaunen.

»Nennt ihn mit seinem wahren Namen nicht so laut!« fiel Vittoria ein. »Denn wohl entsinne ich mich, daß es von ihm in Augsburg geheißen, er hätte, um entfliehen zu können, sein Gefängnis in Brand gesteckt. Nun sollen hier so viel Männer aus Augsburg anwesend sein, daß es ihm leicht, wenn man ihn entdeckte, ans Leben gehen könnte.«

»Habt ihr ihn selbst gesprochen –?«

»Einmal – soweit es möglich gewesen mit unserm geringen Allemannisch, das wir verstehen –« antwortete Jeronimo.

»Und in welcher Lage lebt er –?«

Vittoria sah auf ihren Bruder mit stummfragendem schalkhaften Blick und sprach, als auch dieser lachte:

»Wenn es eure Geschäfte erlauben und ihr wollt in unserer schlechten Herberge heute abend vorlieb nehmen mit einem Imbiß, wie ihn eine alte Frau, bei der wir wohnen, nach hiesiger Sitte zubereitet, so wollen wir, wenn ihr somit einige Kraft gewonnen haben dürftet, Wunderliches zu sehen, euch irgendwohin mit uns nehmen –! Da sollt ihr dann erfahren, was aus dem Knaben, der nun wohl schon siebzehn Jahre, wenn nicht mehr zählen mag, geworden ist –!«

Sollte sich's jetzt um eine Überraschung und um etwas handeln, das verschwiegen bleiben sollte – den Augsburgern, auch dem kaiserlichen Rat gegenüber war Vorsicht jedenfalls am Platz – so hätte ohnehin die weitere Besprechung dieser für Ottheinrich in so hohem Grade spannenden Mitteilung abgebrochen werden müssen; denn wieder war Besuch gekommen, Italiener, Deutsche, die in Italien gewesen, Franzosen, die hier einsprachen, um einmal eine andere Luft zu atmen, als sie draußen bei den nicht endenden Trinkgelagen und Schmausereien wehte.

In Regensburg war jetzt das Donauufer vom Kranentor bis zum Wein- und Mauttor mit Schaubuden besetzt. Da standen auf Tonnen die buntgekleideten Heerpauker, die zu ihrem einförmigen Getrommel Grimassen schnitten oder Reden hielten, sogar Prophezeiungen aussprachen, sich dabei freilich hütend, nicht wie einst der Pauker von Niklashausen zu Würzburg, um ihrer Zuchtpredigten willen, verbrannt zu werden. Fünfzehnhundert betrug die Zahl der eingeschriebenen »fahrenden Frauen«, die dem Rat für die Dauer des Reichstags eine Abgabe zahlen mußten. Zu Gastereien lud man sich die Dirnen in die Herbergen. Musikanten spielten bis in die Nacht; nur in der nächsten Umgebung des kaiserlichen Quartiers, unter den Bäumen der »Haid«, mußte alles still sein. Die Klöster hatten offene Schrangen und hielten um Geld Wein, Kuchen, weißes Brot feil. In ihren Refektorien wurden große Bankette veranstaltet. Von Haus zu Haus zogen Spruchsprecher, Sänger, Fabulierer, welsche und französische Lutenisten. Bären ließ man nach der Trommel tanzen, Hunde sich zerfleischen; Stiere wurden aufeinandergehetzt; letzteres den Spaniern zu Gefallen; Würfel, Glücksräder waren alle zehn Schritte andere im Gange; Feuerschlucker fehlten nicht, Freifechter, wilde Männer, Zwerge und Riesen, Mißgeburten von Menschen und Tieren, Zahnbrecher, Ärzte mit Harlekinen, die ihre Kuren anpriesen, Theriakskrämer, Kesselflicker und Bleilöter. Außerhalb der Reichsstadt, unmittelbar an den Wällen, fehlten die Zigeuner nicht; endlich in den Wäldern die während des Reichstags an den Stadttoren abgewiesenen »gartenden« Landsknechte, von allen das gefährlichste Räubervolk.

Ottheinrich schied von den Freunden mit dem Versprechen, sich am Abend bei ihnen einzufinden und sich von ihnen dorthin geleiten zu lassen, wo ihm die versprochene Wiederbegegnung, ohne Aufsehen zu erregen, zuteil werden sollte.


 << zurück weiter >>