Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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IX.

Selbst am Strande der Lagunen, in dem Örtchen Mestre, dem doch immer vom frischen Meereshauch bestrichenen Landungsplatz derer, die vom stolzen Sitz der Meereskönigin Venezia herüberkommen, um endlich, sicher ausschreitend, den Fuß auf Italiens Festland zu setzen, hatte sich die Tageshitze nur ertragen lassen durch den hier ringsum gebotenen Hinblick auf die Glut der Traube, die nicht immer so saftreich zu gedeihen versprach, wie in diesem Jahre des Heils 1536.

Jetzt aber stimmte doch endlich der Trunk Carpeneder, den eben der Alte aus mächtigem Steinkrug kredenzte, eher zur Temperatur des hereinbrechenden Abends, der sich erquickend kühl auf die in rosigen und violetten Lichtern schimmernde Ebene senkte.

Des Hafenwächters dargereichter Trunk galt einigen an seinem Wachtturm haltenden Reisigen.

Während diese aus dem reihherum gehenden zinnernen Becher erlabende Kühlung tranken, blickten sie ab und zu und allmählich ungeduldig werdend auf den Spiegel der Lagunen, durch den Mestre von Venedig getrennt ist. Über und über waren die Reiter bewaffnet. Das gebräunte, mit Bart reichlich umschattete Antlitz deckte eine niedrige Blechhaube. Ein vielgenieteter Blechharnisch schützte Brust und Rücken. Am Sattel ragte die Arkebuse, der reitenden Schützen mit umständlichem Radschloß versehenes Feuerrohr. Ab und zu scharrten die schweren Rosse mit ihren zottigen Hufen. Schon den dritten, vierten Becher reichte der Hafenwächter über die Nüstern der ungeduldigen Tiere hinweg.

Endlich rief dieser: »Madre di Dio! Al fine arriva!« und zeigte auf eine Gondel, die sich unter den vielen kleinen Fahrzeugen, von denen der Spiegel der Lagunen, der in seiner mehr schwarzen als blauen Färbung wie das Lebermeer der Sage geronnen und starr zu stehen scheint, einiges Leben und scheinbare Bewegung erhält, durch eine rot-weiß-grüne Flagge kenntlich machte. Rot-weiß war die Farbe des im Zerfall begriffenen Schwäbischen Bundes; grün trat Augsburgs Wappen, der »Pyr«, des Weingottes fröhliches Symbol, hinzu. Die Gondel kam vom Rialto und brachte aus dem »Deutschen Hause« die Augsburger »Ordinari«.

Wieder war heute die Reihe zur Rückkehr über die Alpen an Hans Pfister gekommen. Man sah dem alten bewährten Taxisschen Reiter aus der Ferne schon an, daß auch er die Verspätung ungern ertrug.

Hans Pfister hatte sich die Fische der blauen Adria, die Nudeln von Chioggia und den Refosco aus dem Friaul wohl bekommen lassen. Er sah gestärkt wie der Vollmond und hinlänglich gerüstet aus, um die Anstrengungen einer Reise über die Alpen auszuhalten. Drei Reiter der Republik gaben ihm das Geleit bis an die damals etwas unbestimmt gezeichnete Grenze von Venedig, von Österreich und den Bistümern Trient und Brixen. Drei Reiter des Brixener Bischofs hatten ihn auf der Höhe der »welschen Confinen« zu empfangen, wo zuweilen eisesscharfer Schneesturm schon im Oktober ins Antlitz der Passagiere blutige Hautwunden riß. Diese Reiter lösten dann in Innsbruck österreichische, zu Füssen am Lech, unfern Hohenschwangaus, fürstbischöflich augsburgische ab, welche letztere Pfisters alte Kameraden waren.

Die Ungeduld der Reiter des gegenwärtig regierenden Dogen Andreas Gritti kam von einer Aussicht auf stattliche Trinkgelder her.

Die Augsburger Ordinari hatte heute mehrere Passagiere.

Nicht nur einen jungen Kaufmann, der nach Augsburg zurück wollte, sondern noch sogar zwei Frauen, die schon lange am Altar der Annunciatenkirche von Mestre knieten und ihre Schutzheiligen um Beistand anflehten für ihre nicht leichte, nach Augsburg gerichtete Reise. An dem Treppenaufgang zur Kirche stand ein Zelter mit einem roten, vielfach gepolsterten Quersattel, der fast einem Ruhesessel glich, und ein Maulesel, dem außer einem ähnlichen Sattel noch vom Schweif bis zu den langen, keckflankierenden Ohren hinauf förmlich ein Warenmagazin aufgebürdet schien. Halb Mestre harrte neugierig auf die Rückkehr der noch am Altar im Gebet verlorenen Frauen.

Endlich sprang Hans Pfister ans Ufer und half dem jungen Mann, der ihm folgte, ein Gleiches tun. Es war Ottheinrich Stauff.

Da traten aus der Kirche der Annunciata, die Marmorstufen der Vortreppe niederschreitend, die beiden Beterinnen. Verschleiert und Almosen spendend schwankten sie an die für die bereit gehaltenen Tiere und bestiegen diese mit Hilfe kleiner Treppen, mit denen allein, da die Bekleidungen damaliger Zeit steif und unbeholfen waren, Frauen den Sattel der Rosse und Maultiere erreichen konnten, wenn nicht etwa eines Ritters Courtoisie das gebogene Knie oder wohl gar die kräftige Fläche der Hand darbot.

Schon kam der junge Kaufdiener sporenrasselnd daher und konnte der verschleierten Dame noch beim Aufsteigen behilflich sein. Zugleich suchte er die Begleiterin, ohne Zweifel die Zofe, für seine Bitte zu gewinnen, nannte sie die kluge Jungfrau Apollonia Katzmayrin aus Kaufbeuren und bat sie um des Himmels willen, den übereilten Schritt ihrer Herrin um so mehr hintertreiben zu wollen, als sie ja offenbar beide durch ihre Begleitung zu Mitschuldigen eines unverantwortlichen Beginnens gemacht würden.

»O lasset das –!« war alles, was von seiten der verschleierten Dame darauf erwidert wurde. Und Apollonia schwieg vollends und seufzte nur.

Daß es sich hier um eine Flucht handelte, ersah man vorzugsweise aus der Freude der vielleicht absichtlich in mäßig wertvolle Kleider gehüllten Padrona Apollonias und aus der Eile, womit sie zum endlichen Aufbruch drängte.

»Bei unserm gnadenreichen Erlöser!« entgegnete der junge Mann mit sanfter und von Herzen kommender Bitte, »ist denn also alles wahr, was mir Herr Pfister eben erst erzählt hat? Ehrbare Frau, ihr wolltet, ohnehin, wie ihr mir kürzlich gesagt, unbaß, diese so beschwerliche Reise über die höchsten Berge der Erde unternehmen? Wollt zu eurem Vater, dem ihr ohnehin schon so lange, ihr wißt es ja, einen tiefgehenden Kummer bereitet –«

»Kommt nur, kommt –!« Das war die Antwort der verschleierten Dame. Sie begleitete ihre Worte mit einem einzigen, dem besorgten Jüngling gegebenen Händedruck.

Da sie ihr Roß selbst lenken mußte, so hatte sie Handschuhe von starkem Leder an, die weit bis über das aus einem derbwollenen Stoff gefertigte Oberkleid gingen. Dennoch war's dem jungen Mann, als hätte er die fieberheiße Glut ihrer Hand durch die Bekleidung hindurchgefühlt.

»Ehrbare Frau,« sprach er, »als ich euch neulich gesehen, schient ihr schwer krank zu sein. Glaubt es mir, ihr ertragt die Reise kaum bis zum Brenner hinauf!«

»Ich habe zu Gott gebetet, daß er mir Kraft verleihe!« war die Antwort der jungen Frau, die ihren Schleier festhielt, von den Umstehenden nicht gesehen sein wollte und sich jetzt mit einer geschickten Bewegung des Zügels den nunmehr rasselnd vom Zollturm dahersprengenden vier Genossen anschloß.

Auch dem jungen Mann wurde in raschem Trab sein Roß vorgeführt. Und so ritt denn die heute von Hans Pfister besorgte deutsche Post, staubeingehüllt und unter dem Zuruf der Bewohner von Mestre, in die üblichen Reisegeschicke jener Zeit Gott und ihren Waffen vertrauend hinein.

Gern ließ es Apollonia geschehen, daß ihr Saumtier von dem jungen Kaufmannsdiener am Zügel gehalten wurde, so daß beide hinter den anderen zurückblieben.

Ihre Herrin vermied es auch, den Vorwürfen und der Besorgnis des jungen Mannes länger Rede zu stehen. Sie unterhielt sich mit ihrem Landsmann Hans Pfister.

Ottheinrich Stauff wußte sehr wohl, was die junge Frau, die Schwiegertochter seines Prinzipals, die Tochter Hans Honolds, zu dieser Reise bewogen hatte. Zu seinem tiefsten Kummer hatte er sich überzeugt, daß sich am zweiten Sohn des kaiserlichen Rats, wie damals an so vielen andern, die in fremden Landen ihre Bildung gewonnen hatten, die Abwendung vom einfachen und noch unverdorbenen Leben der Heimat in schreckhafter Weise rächte. Die großen Handelsplätze der Niederlande, die Städte des südlichen Frankreichs, vollends Italien konnten den jungen Gemütern neben einer gleißenden, auf die Außenseite des Lebens berechneten Bildung nur das Gift der Sittenlosigkeit darbieten. Ottheinrich hatte in Padua und Venedig ein Leben kennen gelernt, das ihm nur in Sodom und Gomorrha möglich schien.

Mit sinkender Nacht verfiel Regina Honold in tiefes Schweigen. Auf ihrem Zelter saß sie, als wollte sie mit dem Abendläuten in den Weilern und Dörfern ringsum, zuletzt mit dem stillen Walten der sternenlichten Nacht vergehen.

Ihr Gatte vernachlässigte, das hatte Ottheinrich erkannt, die Faktorei seines Hauses aufs sträflichste. Statt erworbenes Geld nach Hause zu schicken, begehrte er dessen unablässig von Augsburg. Nach seines weltumfassenden, auf alles zu gleicher Zeit ausspähenden Vaters Weisung hatte er suchen sollen, in die Geheimnisse der Glasfabriken auf der Insel Murano zu dringen; die Nürnberger Paumgartner hatten Hoffnung, die zur Erzeugung des Glases notwendige Erde in Böhmen aufzutreiben; in Pfalz-Neuburg, im Leuchtenbergischen glaubte der Rat das dazu nötige Material ebenfalls finden zu können. Er hatte ferner gehofft, sein Sohn, an dessen Ausbildung Schätze gewandt waren, würde in Venedig der seit Meister Jüdmann zu Augsburg in Verfall geratenen Glasmalerei nachspüren und bedacht sein, eine so hohe und einträgliche Kunstfertigkeit wieder nach Deutschland zurückzuverpflanzen. Solchen und ähnlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Aufträgen, die sich geschäftlich verwerten ließen, hatte er nachleben sollen. All diese Hoffnungen betrog Antonius seit einer Reihe von Jahren.

Den jungen Wüstling hatte Ottheinrich nicht daheim angetroffen, so lange er auch auf ihn wartete. Schon bei seiner Ankunft hatte man ihm im Deutschen Hause gesagt, der Sohn seines Prinzipals wäre nach Bologna verreist, einer Universität, die unter allen das Muster einer Hochschule hätte sein sollen, da sie der Heilige Vater von Rom aus selbst leitete; im Gegenteil herrschte dort ein Ton, der dem zügellosen Leben Roms selbst entsprach. Ottheinrich hatte seine Knaben in dem großen prachtvoll gebauten, nach venetianer Art etwas finstern Hause, wo Antonius Paumgartner und seine kinderlose kränkelnde Gattin wohnten, etwa acht Tage auf die Rückkehr des Herrn Antoni warten lassen wollen. Während sich seine Sorge noch ergebnislos den geheimen Aufträgen seines Prinzipals zuwandte, hatte er schon die Zustände des Kontors bedenklich gefunden, von den beiden Buchhaltern der Faktorei hatte er Mitteilungen erhalten, die ihm bald die Notwendigkeit vorschrieben, dem Vater gen Augsburg zu berichten, wie hier die Dinge standen.

Da es dann endlich, nach einem auf mehrere Wochen ausgedehnten, immer vergeblichen Harren auf Herrn Antoni und nach längst beendigtem Durchforschen der Handlungsbücher des Kontors, auch nach Erledigung der geheimen Aufträge des kaiserlichen Rats und vielfach abgelassener Korrespondenz nach Augsburg, Bamberg, Zeilitzheim immer mehr gedrängt hatte, daß beide Knaben nach Padua kamen, so hatte sich endlich Ottheinrich von Regina empfehlen wollen. Da hatte er von der herzbedrängten jungen Frau die Worte vernehmen müssen:

»Lieber und guter Landsmann! Wie gerne wollt' ich wünschen, ihr nehmet mich mit euch zurück in die Vaterstadt! Wie viel Freunde und gute Verwandte hab' ich doch daheimgelassen und dafür niemand hier zum Ersatz gefunden! Wie wart ihr heute auch so gut und habt mein' Mutter selig für uns alle noch im Grabe leben lassen! Für mich lebt sie auch noch. In langen Abendstunden ist sie oft bei mir; dort auf dem Ruhebett ist sie meine einzige Gesellschaft! Mein Vater ist gut und klug, und ich glaube wohl, daß ihn nicht bloß Augsburg, sondern viele Städte Deutschlands verehren. Aber er hat, da ihm ein Sohn fehlt, an seinen Töchtern im Grund nie eine besondere Freude gehabt. Barbara und Philippine sind noch zu versorgen. Seit drei Jahren hat er mir verboten, ihm zu schreiben, falls ich ihm nicht so schriebe – wie er wollte.«

Ottheinrich wußte, warum Hans Honold dies Verbot erlassen. Von allen seinen Töchtern wollte diese einzige Regina nicht zu Luther halten. Ob aus Eigensinn, ob aus Überzeugung, ob aus Anhänglichkeit an römisch gebliebene Freundinnen – Ottheinrich wagte nicht, sie darum zu befragen. Doch hatte sie ihrer Klage über den Vater die Worte noch folgen lassen:

»Bei meinem Vater möcht' ich auch nicht sein, sondern in einem guten Kloster, wohin mich vielleicht unser heiliger Bischof oder Anna Stadion, meine beste Freundin in Augsburg, seine Nichte, empfiehlt! Dahin muß es auch noch kommen, ob mein Herr Antoni will oder nicht. Ich weiß, meine Tage sind gezählt. Ja, sie sagen wohl, daß für mein Leiden kein Ort in der Welt so gut sei als diese Wasserstadt hier mit ihrem ewigen Duft und Nebel. Doch wollt' ich lieber in einem guten deutschen Frauenkloster, und läg's so hoch wie die Zugspitz, halb zu Eis gefrieren, wenn mein Herz nur gesund bliebe und auf dem nicht der schwere Druck lastete, der oft wie mit eisernen Krallen hineingreift! Guter Ottheinrich, ihr habt's heute bei Tisch so schön ausgeführt, auch ihr seid früh von eurer Eltern Liebe abseit gekommen und habt schon lange euch in der Welt umtummeln müssen. Was ist doch aller Glanz und Reichtum der Erde, hat eins nicht eine treue Seele gefunden, so für unsern Kummer ein offen Ohr hält und ein Auge, eine rasche Hand, wo's gilt, zuzugreifen in Gefahren! Denn ob ich mich auch anstrenge, den Ratschluß Gottes zu ertragen, zuletzt befällt selbst den Mutigsten die menschliche Ohnmacht und sie kann nicht – nicht mehr weiter – guter Ottheinrich – nicht mehr weiter –!«

Jetzt, beim Hinaufreiten auf die Vorberge der Alpen, unterm Gewölbe eines Sternenhimmels, der im Süden überm Menschenleben noch mit tieferen Geheimnissen zu ruhen scheint als bei uns, erkannte Ottheinrich, warum die junge Frau beim Gespräch damals noch etwas auf dem Herzen zu haben schien und sich so angelegentlich nach den nächstabgehenden Postreitern erkundigte.


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