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XXXVI.

Estelle war in das Palais zurückgekehrt, nachdem sie Raymonds Grab besucht und mit Blumen geschmückt hatte.

Sie betrachtete den Palast jetzt mit einer gewissen Neugierde, als wäre es ein fremdes Haus gewesen, in welchem sie bloß ein provisorischer Gast ist und wohin sie nicht mehr zurückkehrte, wenn sie es einmal verlassen.

Sie benützte den Nachmittag, um ihre wenigen Lieblingsgegenstände auszuwählen; das Ordnen und Sichten der übrigen Objekte überließ sie der zahlreichen Dienerschaft.

Darauf nahm sie das Diner ein, nach dessen Beendigung sie die Dienstleute anwies, sich in das Gesindezimmer zurückzuziehen, während sie in der Dämmerung die Gemächer des Erdgeschosses zu durchschreiten begann.

Zahlreiche Erinnerungen verknüpften sich mit denselben. Sie schritt langsam dahin, häufig sinnend stehenbleibend, und dabei durchlebte sie im Geiste nochmals die dreizehn Monate, die sie in diesem Hause verbracht. Sie wird dasselbe ohne Bedauern verlassen, denn sie hat daselbst viel zu schwer gelitten, als daß sie nicht bereitwillig alles vergessen sollte.

Vor Raymonds Zimmer ward sie von einem Zögern erfaßt. Sollte sie die verblaßten Eindrücke in ihrem Innern auffrischen und die Wunden ihres Herzens aufreißen? Doch die Pflicht erheischte es, Raymonds sämtliche Papiere zu vernichten, welche im Schreibtische blieben und fortan niemand mehr berühren dürfe.

Sie trat ein.

Als sie über die Schwelle schritt, ward sie von einer geheimnisvollen Empfindung erfaßt, die, jeder Bitterkeit bar, ihr Tränen in die Augen treten ließ; doch verließ sie darum die Selbstbeherrschung nicht.

Das geräumige Gemach war bereits fast ganz finster. In den auf dem Kamin stehenden Leuchtern befanden sich noch die Kerzen. Langsam, gleichsam andächtig, doch mit sicherer Hand, zündete Estelle die Kerzen an, warf ein brennendes Stück Papier in den Kamin und schritt an ihr Werk der Pietät.

Nacheinander öffnete sie die Schubfächer und warf alles, was dieselben enthielten, ins Feuer, mit Ausnahme der Schärpe des Generals und der Kriegsmedaille Raymonds, welche sie beiseite legte. Lustig flackerten Briefe und Dokumente im Kamin, alles verzehrend, was Vater und Sohn einst lieb und wert gewesen, und was kein fremdes Auge mehr erblicken durfte.

Als die letzten Funken der verbrannten Papiere zerstoben waren, richtete sich Estelle empor, trat einige Schritte zurück und betrachtete das Bild des Generals.

Eine schmerzlich-süße Ergriffenheit bemächtigte sich ihrer. Sie faltete die Hände und ihr Auge suchte in den Augen des Bildes eine Antwort auf ihre stumme Frage. Sie hatte ihren Vater nicht gekannt. Das Wort »Vater« war leerer Schall für sie, und nur Raymond hatte ihr die Anbetung begreiflich gemacht, mit welcher er an seinem Vater gehangen. Dies war alles, was sie über ihren Vater, ja, über ihren leiblichen Vater in Erfahrung gebracht hatte und in Erfahrung hatte bringen können.

»Vater,« sprach sie, »hättest du mich geliebt?«

Und es schien ihr, als erschiene in dem Blicke der auf sie gerichteten Augen des Bildes ein Ausdruck des Vorwurfes darob, daß sie hieran gar zweifeln könne. Auf diese Augen hatte Raymond seine letzten Blicke gerichtet. Was er ihnen wohl gesagt haben mochte?

Estelle erschauerte bei diesen traurigen Erinnerungen. Die Stelle, an welcher Raymonds Blut geflossen, war auch jetzt noch auf dem abgehobelten Fußboden zu sehen, da dieselbe dort etwas lichter war.

Dort kniete Estelle nieder, die Augen fortwährend auf das Bild geheftet.

»Vater!« kam es gleichsam unbewußt über ihre Lippen, »teurer Vater, ich hätte dich geliebt!«

Sie brach in Tränen aus und warf sich mit dem Angesicht zu Boden. Ihre unschuldigen jungen Jahre wurden von zahlreichen peinlichen Gedanken, von vielen Schmerzen heimgesucht. Niemals wird eine barmherzige Hand die schwere Last von ihren schwachen Schultern nehmen! Jetzt erst empfand sie in Wahrheit die Last der Schande und des Blutes.

Draußen wurden Stimmen laut, und sie erhob sich eilends.

Man pochte an die Tür.

Sie trocknete sich das tränenüberströmte Antlitz und sagte:

»Herein!«

An der Schwelle stand Frau Benois mit ihrem Sohne, den Estelle in dem Halbdunkel des Hintergrundes erkannte.

Beim Anblick der schwarzgekleideten Frau schien es Estelle mit einem Male, als wiche jene Last von ihren Schultern.

»Meine Tochter,« sagte Frau Benois, »wollen Sie mit uns kommen?«

Estelle, keines Wortes mächtig, sank in die geöffneten Arme, die sich ihr entgegenstreckten. –

*

 


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