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XVIII.

Als Benois am nächsten Morgen erwachte, machte er voll Staunen die Wahrnehmung, daß er in heiterer, fröhlicher Stimmung sei, etwas, was ihm schon lange nicht zugekommen.

Dieser ernst denkende, ernst empfindende Mann hatte seine Jugend sozusagen niemals genossen. Er war in einer Liebesneigung getäuscht worden, und das in einem Alter, da derartige Vorfälle auf gewisse Charaktere einen entscheidenden Einfluß haben, und dies hatte in ihm eine Traurigkeit zurückgelassen, die zwar frei von Bitterkeit, doch mit einer gewissen Verzagtheit untermischt war. Die große Liebe und Achtung, die er für seine Mutter empfand, verhinderten ihn, alle Frauen zu verachten, weil er einer Frau wegen gelitten; doch verspürte er keine Neigung, sich derartigen Zufällen neuerdings auszusetzen, und da die Liebe den, der sie nicht sucht, auch nicht aufzusuchen pflegt, verbrachte Benois in beinahe aszetischer Weise jene Jahre, welche die meisten Männer in Liebesabenteuern mehr oder minder untergeordneter Kategorie verschwenden.

Dies bildete seine Stärke und auch seine Schwäche. Indem er sich die Frische seiner Eindrücke und die Energie seines Willens bewahrt hatte, war er zu dem Kampf mit dem Leben zwar genügend ausgerüstet; dagegen blieben ihm viele Fallstricke verborgen und insbesondere jene, welche man sich selbst unbewußt legt, und in die gerade die besten und edelsten Menschen am leichtesten geraten.

Benois zürnte sich über die Maßen darob, daß er Estelle von Bertolles liebte. Die alte Triebfeder seines Mißtrauens, das noch fortwährend ungelöste Geheimnis, umgab Estelle mit einer betäubenden, beinahe erschreckenden Atmosphäre; er betrachtete sie für eine mit berauschenden Giftstoffen geschwängerte Luft, und eine gewisse Furcht und Aengstlichkeit bemächtigte sich seiner.

Vergebens hatte er während der an der Seite seiner Mutter verbrachten friedlichen Wochen, bei der leichten, erquickenden Lebensweise des reichen Gutsbesitzers gegen sich angekämpft: die Gewißheit, daß Raymond nur seiner Gattin wegen in den Tod gegangen, wich keinen Augenblick von ihm. Höchstens, daß er sich ein- oder zweimal die Frage vorlegte, ob die Ursache des Selbstmordes nicht in Raymond selbst zu suchen sei. Doch weshalb wäre Raymond vor irgendeinem, wie immer gearteten Geständnisse zurückgeschreckt, daß er lieber in den Tod ging?

Und wieder ließ Benois diesen Gedanken fallen.

Doch schon die nackte Tatsache allein, daß er trotz seiner unerschütterlichen Ueberzeugung zögern konnte, milderte in etwas die qualvolle Nervenspannung des armen Jungen. Und als er sah, daß Estelle ob seiner Verdächtigung nicht mehr gereizt und erzürnt sei, sondern traurig und durch seine ungerechte Meinung über sie beinahe gedemütigt war, empfand er eine neuerliche Erleichterung.

So sah er sie lieber als zürnend und entrüstet; sein Herz sagte ihm nunmehr, er möge dieser Frau, die von einem so schweren Schlage heimgesucht worden, Nachsicht, ja sogar Verzeihung angedeihen lassen. Daß Estelle einen Fehler oder eine Unvorsichtigkeit begangen, konnte er auch jetzt noch glauben; daß sie sich aber eines ernsten Vergehens schuldig gemacht, vermochte er jetzt nicht mehr vorauszusetzen.

Die traurigen Kinderjahre, die isolierte Lebensweise dieser Frau konnten ihr in der Tat als genügende Entschuldigung dienen. Und war sie nicht von einer grausamen Strafe ereilt worden, selbst wenn sie sich eines großen Vergehens schuldig gemacht? Sie verdient wirklich einige Nachsicht.

Derartige unklare, verworrene Gedanken raubten ihm den Schlaf.

Doch des Morgens erwachte er beruhigter. Er kleidete sich ungewöhnlich langsam an, frühstückte und verließ das Haus. Er fand, daß die Luft angenehm, die Passanten liebenswürdig und Paris eine herrliche Stadt sei – lauter Dinge, die darauf hindeuteten, daß sich eine große Veränderung in ihm vollzogen.

Auf die Weisung Estellens wurde er in das Erdgeschoß geführt, als er im Palais Bertolles anlangte. Das weitläufige Gebäude bot einen traurigen Anblick in seiner Pracht. Die gebohnten Dielen des Fußbodens schimmerten gleich Spiegeln, und die anläßlich des Hochzeitsfestes erneuerten Malereien und Vergoldungen funkelten inmitten der ringsumher herrschenden Einsamkeit und Verlassenheit.

Benois war schmerzlich bewegt, als er diese Flucht von Zimmern wiedersah, in welchen geräuschvolles, lebhaftes Treiben geherrscht, als er zum letzten Male in denselben geweilt.

In seiner unüberlegten Hast ging er bis zu dem Salon, in welchem er die letzte freundschaftliche Unterredung mit Raymond gepflogen, und von dort wandte er sich zurück, um die Stelle zu suchen, wo sein Auge an Estelle haften geblieben, während sie mit ihren Freundinnen geplaudert.

Und dort, wo er sie damals in ihrem weißen Brautkleid gesehen, sah er sie jetzt, in schwarze Trauer gehüllt, auf sich zuschreiten. Mag sein, daß Estelle seither gewachsen war; ihre Gestalt war noch schlanker und geschmeidiger geworden, als sie es damals gewesen. Ihr Gang war fester, entschiedener geworden, und man merkte es ihr an, daß die Last des Lebens, welche sich auf diese jungen Schultern gesenkt, von Einfluß auf ihr ganzes Wesen gewesen, sie aber nicht gebrochen hatte.

Als hätte Benois gefühlt, daß er etwas Unpassendes getan, schritt er ihr eilig entgegen.

»Verzeihen Sie mir,« sprach er, »doch konnte ich es mir nicht versagen, bis hierher zu kommen, wo ich meinen Freund Raymond zuletzt gesehen habe.«

Estelle blickte ihn fest an. Ihre Augen trafen sich und jedes drang in die Tiefe der Seele des anderen. Und nun überkam Benois das Empfinden, daß er Estelle fortan nicht des geringsten Fehls mehr anklagen könne.

Ihn erfaßte ein Gefühl der Scham und Reue. Schweigend schlug er den Blick nieder und folgte langsam und gehorsam der jungen Frau, die ihn aus der Vorhalle in den Salon führte.

»Meine Tante ist krank,« sagte Estelle, indem sie sich niedersetzte und ihm einen Stuhl anbot: »sie liegt zu Bett und bittet Sie um Verzeihung. Uebrigens glaube ich, daß sie Ihnen gestern auseinandersetzte, was sie bedrückt. Meiner Ansicht nach gibt es keine Heilung für sie; doch wenn es möglich wäre, ihre Ruhe auf irgendeine Weise zu befördern, so muß der Versuch um jeden Preis gemacht werden. Ja, doch nur aus diesem Grunde.«

»Nur aus diesem Grunde?« fragte Benois, den diese Resignation, deren schmerzliche Würde er deutlich herausfühlte, tief bewegte. »Und in Ihrem Interesse, Madame?«

Estelle hob den Kopf stolz empor.

»Ich,« sprach sie mit sanfter Selbstverleugnung, »ich erwarte nichts, erhoffe nichts. Weshalb soll ich mich mit Dingen beschäftigen, die ich ohnehin nicht zu ändern vermag? Meine Tante liebt und ehrt mich, und das genügt mir.«

Benois fühlte sich verletzt; doch empfand er darob bloß Schmerz, keinen Unmut. Hätte er keine hundertmal härtere Strafe verdient?

»Gnädige Frau –« begann er leisen Tones.

Er hielt inne.

Wie sollte er die Verzeihung dieser Frau erbitten, die er so schmählich beleidigt? Und wäre es keine neuerliche Beleidigung, wenn er sie um Verzeihung bitten würde?

Da aber Estelle noch immer auf die Fortsetzung seiner Worte wartete, mußte er notgedrungen fortfahren.

»Gnädige Frau,« begann er neuerdings, doch kostete es ihm eine Anstrengung, »ich begreife und bewundere Ihre Hingebung für Frau von Montelar; doch sind Sie nicht für sie, sondern auch für sich zu kämpfen verpflichtet.«

»O, was mich betrifft,« erwiderte Estelle mit einer Bewegung, die ihren Dank ausdrücken sollte, »so würde ich, sofern der Schlag, meine Tante zu verlieren, mich nicht verschonen sollte, mich sehr wenig um die Menschen kümmern.«

»Wir leben aber mit diesen Menschen.«

Estelle schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich würde mich in ein entlegenes Dorf zurückziehen,« sprach sie, »und dort bemüht sein, mich nützlich zu machen. Ich würde den Namen ablegen, der mir so schweren Kummer gebracht, und unter meinem Mädchennamen ruhig weiterleben – Fräulein Brunaire. Und dann hieße es: eine alte Jungfer!«

Sie brach mit einem kurzen, traurigen Lachen ab. Benois war tief bewegt.

»Und jene, die Sie lieben?« fragte er, obschon er sich bewußt war, daß es ein Unsinn sei, was er sagte. Doch vermochte er sich nicht zurückzuhalten.

»Solche Menschen gibt es nicht!« erwiderte Estelle. »Die Freundinnen, die ich als Mädchen gehabt, haben sich von mir losgesagt, als mich mein Unglück heimsuchte. Und könnte ich mir für Geld nicht zumindest ebenso gute freundschaftliche Verbindungen verschaffen?«

Benois schwieg einen Augenblick, darüber nachdenkend, wie er seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen vermöchte.

Estelle aber beobachtete ihn inzwischen mit geheimer Befriedigung. Es bereitete ihr Freude, ihren einstigen Feind so verwirrt zu sehen.

»Für Ihre Jahre sind Sie sehr ernüchtert,« sagte Benois endlich.

»Anlaß, es zu werden, bot sich mir zur Genüge,« erwiderte Estelle ein wenig trocken. »Ich wollte also sagen, daß ich es mit großem Dank anerkennen würde, wenn Sie für die Beruhigung meiner Tante etwas tun könnten. Ja, ich dachte mir sogar, – doch werden Sie keine zu schlechte Meinung über mich haben, wenn ich es Ihnen sage?«

Bis in das Herz fühlte der junge Mann den Blick der Frau dringen, welcher deutlich besagte: »Hatten Sie denn keine zu schlechte Meinung schon über mich, ohne einen Grund dazu zu haben? Kann dieselbe noch schlechter werden?«

Und sein Blick antwortete: »Schmettern Sie mich nicht zu Boden; ich bitte Sie!«

»Ich dachte mir, daß, wenn Sie mir beizustehen geneigt wären, wir eine kleine Verschwörung anzetteln könnten, um meiner Tante wenigstens einen Schein von Freude zu bereiten. Sie ist sehr krank, und ich fürchte, daß ihre Tage gezählt sind. Unsere Trauer und ihr Gesundheitszustand werden sie während des größten Teiles des Winters ans Haus fesseln, und Sie werden ihren Verkehr mit der Außenwelt vermitteln. Könnten Sie ihr nun nicht sagen, daß die Leute bereits eine bessere Meinung über mich haben oder ganz einfach nur, daß man nicht mehr über mich spricht? Letzteres wird sicherlich auch der Fall sein. Die Welt beschäftigt sich nicht lange mit einem Gegenstande; nur außergewöhnliche Umstände konnten es verursacht haben, daß ich während so langer Zeit ihr Spielzeug bildete. Wären Sie nun nicht geneigt, mir in diesem wahrhaft barmherzigen Werke behilflich zu sein? Die gute Frau hat das Unglück, welches sie niedergeschmettert, wahrhaftig nicht verdient.«

»Sie ebensowenig, Madame,« sagte Benois und stand auf.

Estelle schlug den Blick nieder, um die Herrlichkeit dieser Aeußerung ungeschmälert genießen zu können, und beide verharrten schweigend.

»Ich?« fragte dann Estelle befangenen Tones. »Darum kümmere ich mich nicht; ich sagte es ja schon.«

»Doch kümmert sich jeder darum, der Sie achtet,« entgegnete Benois und verneigte sich.

Auch Estelle war aufgestanden. Es schien ihr, als schnürte etwas ihre Kehle zusammen und gestattete ihr nicht, laut zu sprechen.

»Sie glauben also nicht mehr,« sprach sie so leise, daß sich Benois näher zu ihr neigen mußte, um ihre Worte vernehmen zu können, »daß ich die Ursache war, – daß meinethalben –«

Er verneigte sich so tief, daß er fast das Knie beugte.

»Gnädige Frau,« erwiderte er dann in demselben erstickenden Tone, »verzeihen Sie mir, daß ich so erbärmlich denken konnte. Doch, ich liebte meinen Freund mehr als mich selbst.«

Ohne zu bedenken, was sie tat, streckte ihm Estelle hastig beide Hände hin. Benois ergriff und drückte dieselben sehr warm. Als sich ihre Finger trennten, blickten sie einander lächelnd an. Estellens Augen entquollen heiße Tränen, während Benois die Augen halb schloß, um die seinigen zurückzudrängen.

Estelle tat einen tiefen Atemzug.

»Oh, Herr Benois,« sagte sie, »ich danke Ihnen! Nun werde ich das Leben leichter ertragen können!«

Freundschaftlich plauderten sie noch einige Minuten miteinander; doch was sie einander sagten, war weit entfernt davon, was sie in Wirklichkeit dachten.

Bald darauf verabschiedete sich Benois.

»Soll ich morgen wiederkommen?« fragte er. »Bedarf Frau von Montelar meiner?«

»Nein,« erwiderte Estelle. »Jetzt können wir Sie Ihrer Mutter nicht berauben, die Ihre Abwesenheit sicherlich auch schon empfindet. Im Winter werden wir einander wiedersehen.«

Sie schieden in der Vorhalle voneinander, die in ihrer Pracht so kalt erschien; doch die beiden jungen Leute empfanden Wärme in ihrem Innern.


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