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XXII.

Frau von Montelar verließ das Haus nicht mehr. Die rauhe Luft war ihrem krankhaft empfindlichen Organismus schädlich, und die Aerzte rieten, man möge sie im Hause mit möglichst frischer, reiner Luft umgeben und sie nicht der winterlichen Kälte aussetzen.

So lebte die kränkelnde Frau in einer künstlichen Atmosphäre; doch nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in der Phantasie, denn ihre Nichte verstand es, mit größter Sorgfalt und liebender Aufmerksamkeit eine auserlesene kleine Schar alter Bekannten um sie zu versammeln, und dies glich beinahe der »Gesellschaft«.

Frau von Montelar, die von Tag zu Tag schwächer wurde, verlangte auch gar nichts weiter, um eines Tages still und ohne jede Erschütterung für immer zu entschlummern.

Die Besucher, die einst die Creme der Pariser Gesellschaft gebildet, bezeugten gegen Estelle weder Kälte noch Freundlichkeit. Man nahm sie hin als einen ergänzenden Teil des Hauses. Sie störte ihre Unterhaltung oder Whistpartie in nichts; den Tee, die prächtige Schokolade konnte man sehr gut aus ihren schönen, feinen Händen entgegennehmen, und zum Dank brauchte man mit einem freundlichen Lächeln nicht zu geizen. Einige Herren, die trotz ihrer Jahre noch nicht aller Eitelkeit entsagt hatten, würden ihr auch gerne den Hof gemacht haben, wenn jene düstere Legende derartigen Bestrebungen nicht hindernd in den Weg getreten wäre.

Estelle wußte sehr gut, daß keiner dieser liebenswürdigen Herren, keine dieser freundlichen Damen ein sympathisches oder auch nur teilnehmendes Wort für sie haben werde, sobald sie ihre Tante verloren haben würde; sie wußte, daß diese ein wenig genäschige und sehr egoistische Freundeschar gleich einer Schar gefräßiger Sperlinge an dem Tage zerstieben werde, da der Tisch nicht mehr gedeckt sein werde. Doch vermied sie es, ihrer Tante hiervon etwas zu sagen; ja, wo sich nur Gelegenheit dazu bot, lobpreiste sie vor ihr die Liebenswürdigkeit und Geistreichheit ihrer Gäste, um sie bis zu Ende in einer angenehmen Täuschung zu erhalten.

»Du wirst nicht ganz allein bleiben,« sagte die alte Frau einmal zu ihr. »Ich hinterlasse dir meine guten Freunde, die dir neue Freunde zuführen werden, bevor sie davonziehen. Nicht ein jeder ist so boshaft, wie die nichtswürdigen Ränkeschmiede zu Saint-Aubin. Sieh einmal unseren Freund Benois. Hast du nicht einen wirklichen Gönner und Beschützer in ihm gefunden?«

»Sogar seine Mutter ist uns wohlgesinnt,« warf Estelle ein, um die Zuversicht ihrer Tante zu erhöhen.

»Seine Mutter? Hat er denn auch eine Mutter? Ach ja, die wackere Frau, die sich mit ihren Weingärten befaßt, – nun erinnere ich mich schon. Er gehört gerade keinem vornehmen Geschlecht an, dieser unser junger Freund; dafür aber ist er trefflich erzogen. Ja, in der Militärschule zu Saint-Cyr erhalten die jungen Leute Schliff! Raymond schätzte ihn auch sehr hoch. Womit beschäftigt er sich denn jetzt? Ich glaube mit Chemie; wie? Einmal nannte er mir eine ganze Menge chemischer Bestandteile. Doch das bleibt sich gleich. Was haben wir heute zu Mittag?«

Estelle beantwortete alle Fragen, die ihre Tante an sie richtete; doch ihre Gedanken weilten anderwärts. Die Art und Weise, in welcher die alte Frau von Benois sprach, verletzte ein Gefühl in Estelle, von dessen Vorhandensein sie bis jetzt selbst keine Ahnung gehabt. Der ein wenig geringschätzende, gönnerische Ton, in welchem Frau von Montelar von dem Weingartenbesitzer und dessen Mutter sprach, verletzte Estelle ebenso, als hätte es sich um ihre Person gehandelt.

Bisher hatte sie in Benois nur den Mann gesehen, der früher ihr Gegner gewesen, jetzt aber ihr Verbündeter und Raymonds Freund war; jetzt erst ward sie sich bewußt, daß dieser Mann auch eine gesellschaftliche Stellung, eine Beschäftigung, freundschaftliche Verbindungen und Verwandte besitze, an die sie bisher noch gar nicht gedacht.

Der Name Benois – ein Zweifel war gar nicht zulässig – klang sehr bürgerlich, und die Chemie ist eine sehr moderne Wissenschaft; doch welche Einbuße erleidet denn ein Mensch an seinem persönlichen Wert, wenn er sich nützlich zu machen sucht?

Estelle hatte niemals aristokratische Vorurteile besessen. Ihre Mutter hatte als Tochter eines sehr vornehmen Geschlechts einen Bürgerlichen geheiratet. Baronin Polrey kannte außer den gesellschaftlichen Regeln nichts und kümmerte sich auch um nichts.

Estelle beobachtete im Kloster, daß die Mädchen aus den verschiedensten Ständen und Klassen gleicherweise Freundinnen und Belohnungen erhielten, und hatte sich dementsprechend eine besondere gesellschaftliche Auffassung zurechtgezimmert. Und als Frau von Montelar den jungen Mann auf eine niedrigere Stufe stellte, betrachtete sie dies für eine fürchterliche Ungerechtigkeit, gegen die sie sich in ihrem Innern auch auflehnte.

Ihr gutes Herz und ihre Klugheit sagten ihr sofort, daß ja die alte Frau das, was sie gesagt, nicht aus Uebelwollen gesagt habe. Ihrer Liebe tat dies demnach keinen Abbruch; dagegen empfand sie gute Lust in sich, das Opfer für diese Demütigung zu entschädigen, von welchem dasselbe keine Kenntnis hatte, und die Achtung, die sie für Benois empfand, wurde nur noch größer.

Frau von Montelar hatte den jungen Mann eingeladen, sich des Abends bei ihr einzufinden, so oft es ihm belieben würde. Er fand sich denn auch eines Sonntags ein, war aber unter den anwesenden Gästen so vollkommen fremd, daß er sich nicht wohl fühlte. Estelle setzte sich neben ihn und plauderte mit ihm. Plötzlich gewahrte er, daß aller Augen auf sie beide gerichtet waren, und flammende Röte übergoß sein männliches Antlitz. Sollte er durch irgendeine Unvorsichtigkeit das Geheimnis verraten haben, welches er sich selbst kaum zu gestehen wagte? Hatten diese kalten und vielleicht feindselig gesinnten Leute wahrgenommen, mit welcher leidenschaftlichen Liebe er an der Witwe Bertolles' hing?

Benois befand sich in einer unbeschreiblichen Verwirrung. Seitdem er sich mit der Witwe und mit sich selbst ausgesöhnt hatte, besonders aber seitdem er vollkommen vertraulich mit ihr gesprochen, hatte er sich nicht mehr sonderlich um seine Gewissensskrupel gekümmert. Ihn überkam eine gewisse moralische Lässigkeit; er beschwichtigte die quälenden Gedanken, die peinliche Ungeduld, und lebte von einem Tag auf den anderen, ruhig von jedem Morgen entgegennehmend, was der Tag mit sich brachte.

Jede Leidenschaft, gleichwie jeder Sturm enthält ruhigere Momente, in welchen es den Anschein gewinnt, als wäre das Ungewitter vorübergezogen. Was vorhin noch geschmerzt, beunruhigt jetzt nicht mehr; die qualvollsten Gedanken, die peinlichsten Gewissensbisse beruhigen sich, und man meint, all dies sei gar niemals wahr gewesen. So lebte Benois einige Monate, bis ihn die neugierigen Blicke einiger alter Frauen wieder in die größte und schmerzlichste Verwirrung stürzten.

Die Hauptsache war, daß er diese sinnlose, wahnsinnige Liebe vor jedermann geheimhalte.

Seine von ihrer Liebe verblendete Mutter mochte immerhin von einer Heirat sprechen, und er hatte eine solche damals auch für ganz natürlich befunden; doch hier im Palais Bertolles erschien ihm Estelle in einem ganz anderen Lichte.

Eine instinktive Furcht hatte ihn schon wiederholt von dieser Liebe zurückgeschreckt und ihm zugeflüstert, daß ihm die Witwe Raymonds heilig sein müsse. Denn ist es denn kein Sakrilegium, die Gattin des Freundes zu lieben, kaum daß sie Witwe geworden? Was würde Estelle sagen, wenn sie wüßte, daß er sie fast vom ersten Tage an liebe? Daß er sie liebte, selbst da er sie für schuldig hielt? Würde sie sich darob nicht auflehnen? Später schon – das ist etwas ganz anderes. Aber auch da ist es unabweisbar nötig, daß er, wie es ihm seine Mutter im vorhinein gesagt, eine Frau heimführe, die von jeglichem Verdachte gereinigt dasteht.

Benois, der jetzt mit sich streng ins Gericht ging, machte die Entdeckung, daß seine Voreingenommenheit gegen Estelle gar nicht dem Zusammenwirken der Umstände und auch nicht seiner Freundschaft für den Kameraden entsprungen, sondern eine Art der Eifersucht, etwas wie Zorn, Aerger war, dem die unbewußte, uneingestandene Liebe zugrunde lag.

»Ich habe sie immer geliebt,« sagte er sich. »Wäre Raymond am Leben geblieben, so hätte ich ihn der Liebe seiner Gattin wegen gehaßt. Doch Estelle liebte ihn nicht.«

Welcher Glanz erfüllte jetzt das Dunkel, in welchem der junge Mann bisher umhergetappt! Raymond selbst hatte ihm gesagt, daß ihn Estelle nicht liebe, und das Geschick hatte es gefügt, daß sie Witwe wurde, noch bevor sie zur Frau geworden, reinen Herzens, ohne Erinnerungen, unschuldig verdächtigt und befugt, unbehindert den Mann, der ihre Liebe zu erringen vermag, zum Gatten zu erwählen.

Estelles Bild in seiner unbefleckten Reinheit erschien ihm gleich dem Bilde der heiligen Jungfrau den in der Wüste wohnenden Heiligen. Bis in die Tiefe seiner Seele bewegt, hätte er die Hände vor diesem bezaubernden Antlitz falten mögen, um dessen Verzeihung für so viele Irrungen und Beleidigungen zu erflehen, von welchen sie nicht einmal eine Ahnung haben konnte.

Dann verschwand die Erscheinung, und nackt, unverhüllt sah Benois die Wahrheit vor sich: er betete eine reiche Frau an, die zu den aristokratischen Kreisen gehörte und ihn offenbar gar nicht beachtet; eine Frau, auf die die Welt mit Fingern zeigt und die seine Mutter niemals in ihr Haus aufnehmen würde, so lange die Wahrheit unaufgeklärt bliebe. Und wieder fühlte er die Last des Lebens gleich einem bleiernen Sargdeckel auf seine Schulter niedersinken.

Da schlich sich ein ganz neuer Gedanke in seine Seele. Bisher hatte er in Raymond stets nur ein Opfer erblickt. Jetzt fragte er sich, ob der Unglückliche nicht eher ein Schuldiger war? Indem er so plötzlich von der Bühne des Lebens verschwand, entzog er sich einer ganzen Menge von Pflichten, deren erste und hauptsächlichste darin bestand, seiner Gattin eine ihrer würdige Stellung zu schaffen. Nur der Wahnsinn bot eine stichhaltige Entschuldigung: doch Raymond war nicht wahnsinnig. In seiner letzten Unterredung war er ja vollkommen Herr seiner Worte und Gedanken gewesen.

Ein tiefer, dumpfer Groll begann sich in Benois zu regen. Sein Freund hatte sich gegen die Freundschaft, gegen die Liebe, selbst gegen die Ehre vergangen und versündigt, als er starb, ohne ein Wort zurückzulassen, welches eine Erklärung für seinen Tod hätte sein können. Ja, Raymond hatte feige gehandelt, feige –

Benois griff, als er allein in seinem Zimmer war, wo er in fieberhafter Erregung auf und ab schritt, sich mit beiden Händen an den Kopf und bat den verstorbenen Freund um Verzeihung.

»Ich bin ein Elender!« murmelte er. »Doch verzeihe mir, denn ich bin zu sehr gepeinigt. Ich verunglimpfe dein Andenken, weil ich deine Witwe liebe!«


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