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XXXIII.

»Herrn Raymond von Bertolles, Paris.

Mein Herr!

Aus den Zeitungen habe ich erfahren, daß Sie zu heiraten gedenken. Sie können Fräulein Estelle nicht zu Ihrer Gattin machen. Ich war vierzehn Jahre lang die Kammerdienerin der Frau Brunaire, der Mutter des Fräuleins Estelle, und weiß alles, was geschehen, vom Anfange, da Ihr Vater, der General Bertolles, meiner armen Herrin den Hof zu machen begann.

Als der General starb, sagte Frau Brunaire, daß ihr Gatte ihn getötet habe.

Sie sehen also, mein Herr, daß Sie Fräulein Estelle nicht heiraten können, da dieselbe infolge des Vergehens von deren Mutter Ihre Schwester ist.

Ich teile Ihnen dies mit, um Sie zu verhindern, eine große Sünde zu begehen. Mein Gewissen gestattet mir nicht, zu schweigen; zumal es in meiner Macht liegt, ein großes Unglück zu verhüten.

Sie werden vielleicht gar nicht glauben wollen, was ich sage, und Sie können es doch glauben, da ich noch niemals gelogen habe. Fragen Sie nur Fräulein Estelle, ob sie sich noch an Rosalie und an den Schrecken erinnert, welchen ich ihr eines Abends in dem Garten des Schlosses zu Saumeray bereitete, als ich sie ein Kind des Fluches, einen Sprößling der Sünde nannte, da ich zornig auf sie war. Fragen Sie sie auch, wie ihre Mutter sie behandelte. Stets strenge, immer unfreundlich, da sie den begangenen Fehler bereute.

Wenn Fräulein Estelle sich übrigens in der Weise fortentwickelte, wie sie es damals versprach, so braucht man sie ja bloß anzublicken. Als kleines Kind sah sie dem Herrn General so ähnlich, wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Diese Aehnlichkeit war sehr auffallend, und ich schämte mich auch immer, wenn ich einen Spaziergang mit ihr machen mußte, da ich fürchtete, auch andere Leute könnten das bemerken. Sie hatte ganz die Augen, die Stirne, den Mund des Generals. Ich wünschte auch häufig, sie möge von den Blattern befallen werden, damit ihr Gesicht verunstaltet werde; sie würde dann der Welt wenigstens nicht fortwährend die Schande ihrer Mutter verkünden können!

Hoffentlich gelangt dieser Brief noch rechtzeitig genug in Ihre Hände, um das Unglück zu verhüten. Nach mir forschen Sie nicht. Jetzt, da ich die große Last von meinem Gewissen gewälzt, will ich ruhig leben können. Ich bete täglich für meine arme Gebieterin, die so viel Leiden ertrug, und werde auch für Sie beten, damit Sie den Kummer zu verwinden vermöchten.

Ihre ergebene Dienerin
Rosalie Férol.«

 

Benois verharrte regungslos, mit dem Briefe in der Hand. Auf dem Papiere spielte der Schatten abwechselnd mit den Sonnenstrahlen, welche durch die Aeste des Feigenbaumes drangen und in dem leisen Windhauche zitterten.

Aus den anstoßenden Gärten kamen einige Kinder heraus und betrachteten neugierig den fremden Herrn. Als derselbe aber so unbeweglich verharrte, zogen sie sich ein wenig furchtsam zurück.

Mit den starren Augen in die Ferne blickend, saß Benois in tiefes Sinnen versunken da.

Nun besaß er also die Erklärung der eigentümlichen Ergriffenheit, welche er bei der Betrachtung von des Generals Porträt empfunden. Jene schwarzen Augen, deren Blick ihn gleich einem Alpdruck keinen Moment verließ, gleichen vollständig Estelles Augen, die ebenfalls stolz und sanft blicken, doch lebendig sind.

Rosalie hatte recht. Neben dieser auffallenden Aehnlichkeit bedurfte es keines weiteren Beweises. Und Benois begriff, daß Raymond keinen Moment zweifeln konnte; trug er doch die Züge seines Vaters in seinem Herzen und betrachtete wohl zehnmal am Tage jenes Porträt, während er als leidenschaftlicher Anbeter Estelles ihre Augen und Gesichtszüge gleich gut kannte.

Und Benois begriff auch, daß Raymond ohne jede Erklärung gestorben war. Was hätte er auch sagen können? Wen hätte er von der furchtbaren Enthüllung in Kenntnis setzen sollen und wozu? Bei seiner Liebe zu Estelle konnte er keinen Moment daran denken, sie als Schwester zu betrachten. Und da er sie ohnehin für immer hätte verlieren müssen, zog er den Tod vor und nahm das Geheimnis mit sich in das Grab.

»Er konnte nicht anders handeln,« wiederholte sich Benois, von zahllosen unklaren Gedanken gepeinigt.

Halb vergessene Erinnerungen tauchten jetzt auf in ihm. Wie sehr hatte er darob gestaunt, als er Estelle neben Frau von Montelar sah und sie einander so ähnlich fand, daß sie sich nur in bezug auf Jahre und Kopfhaar voneinander unterschieden, dagegen was Gestalt, Haltung und Miene anbetraf, sich vollständig glichen. Sie besaßen die gleichen schwarzen Augen, und nun erschien ihm die Aehnlichkeit so auffallend, daß er ganz erstaunt darob war, daß er nicht schon früher hieran gedacht.

»Du bist eine echte Bertolles,« pflegte Frau von Montelar häufig zu sagen.

Ja; Estelle war tatsächlich eine Bertolles!

Jetzt zitterte der Schlag der Kirchturmuhr durch die Luft. Benois erinnerte sich, daß Estelle mit der fieberhaften Ungeduld einer Verurteilten aus ihn warte.

Sollte er ihr die Wahrheit enthüllen? Konnte er ihr dieselbe verheimlichen? Und wenn ja, was sollte er ihr sagen? Würde sich Estelle mit seinem Schweigen oder einer ausweichenden Antwort zufrieden geben?

Nein, sie kann nicht betrogen werden. Im übrigen ist nach alledem, was Estelle bereits erduldet, ein neuerlicher Schmerz gar nicht mehr so hoch zu veranschlagen. Allerdings wird es ihm, Benois, schwer fallen, der Tochter die Schande der Mutter zu enthüllen; doch wird Estelle wenigstens besser begreifen, weshalb ihre Mutter so wenig Liebe für sie empfunden.

Auch im Interesse des Andenkens Raymonds hat er kein Recht, zu schweigen.

Benois stand auf und begab sich langsamen Schrittes nach dem Gasthof zurück.

Die Augen auf die jeden Moment wechselnden Wolkengebilde gerichtet, wartete Estelle am Fenster sitzend, ohne auf die Zeit zu achten. Das Fieber hatte sie bereits verlassen. Sie war auf das Schlimmste vorbereitet, und möglicherweise war jede Minute, welche sie noch in Ungewißheit ließ, eine Wohltat für sie, dachte sie im stillen.

Als sie ihren Freund eintreten sah, stand sie auf. Benois drückte sie mit freundlicher, wohlwollender Miene auf den Stuhl zurück und gab ihr langsam, ohne ein Wort zu sprechen, den Brief in die Hand.

Erschrocken blickte Estelle ihren Freund an, dessen Auge unendliche Zärtlichkeit und unsägliches Mitleid ausdrückte.

»Sagen Sie mir, was darin enthalten ist,« stammelte Estelle. »Es ist mir lieber, wenn du –«

»Unmöglich, Estelle! Lies selbst. Rufe mich, sobald du mit mir sprechen willst.« Er neigte sich über sie und – jetzt zum ersten Male – küßte sie auf die Stirne; darauf ging er hinaus und setzte sich auf die Treppenstufe.

Estelle begann zu lesen; bald aber verdunkelten Tränen ihre Augen, die sie mechanisch abtrocknete.

O armer Raymond! Was mochte er gelitten haben in jenen wenigen Minuten, in den letzten Minuten seines Lebens! Nun ward es Estelle klar, weshalb er ihr Bild zerriß und ins Feuer warf!

Welche Bitterkeit, welche Entsagung lag hierin!

Und in der tiefsten Falte ihrer Seele begriff Estelle nunmehr, weshalb sie Raymond nicht so geliebt habe, wie es dieser gewünscht. Und sie segnete sein Andenken, da er durch seinen verschwiegenen Tod noch einen letzten Beweis seiner Achtung und Zärtlichkeit für sie gegeben.

Die Zeit verging. Benois begann ängstlich zu werden, da er keinerlei Geräusch aus Estelles Zimmer vernahm, und so öffnete er leise die Tür und blickte hinein.

Estelle hob den Kopf empor und machte eine Bewegung. Benois eilte hin zu ihr und schloß sie in seine Arme; möge sie sich an dem Herzen ausweinen, das mit jedem Schlag ihr gehört.

Nach einigen Minuten trocknete Estelle ihre Augen und setzte sich auf einen Stuhl. Benois ließ sich neben ihr nieder, und sie begannen leise miteinander zu sprechen.

»Das Geheimnis ist enthüllt,« sprach Estelle; »und nun tut es mir fast leid, daß ich dasselbe kenne. Dessenungeachtet tut es mir aber so wohl, daß ich Raymond –«

Sie hielt zögernd inne und fuhr dann errötend fort:

»– daß ich Raymond bedauern und nicht verurteilen muß. Trotzdem ist meine Situation ebenso peinlich als sie gewesen. Nun bin ich gar nichts mehr. Früher war ich Fräulein Brunaire und Brunaire ist nicht mein Vater. Dann war ich Frau von Bertolles, und Bertolles durfte nicht mein Gatte sein. Ich bin nicht berechtigt, einen dieser Namen zu führen. Ich bin fortan niemand mehr!«

»Du bist eine Bertolles, was immer geschehen mag,« erwiderte Benois mit ermutigendem Lächeln, welches Estelles Herz erwärmte, »und bald wirst du meine Gattin sein.«

»Mein Freund,« sprach Estelle plötzlich, »ich vermag gar nicht zu sagen, wie sehr mich die Last dieser zwei Namen, die nicht mein sind, und die des zweifachen Vermögens drückt, dessen Genuß mir nicht zukommt.«

»Sei vernünftig, Estelle,« sagte Benois beruhigend, »übertreibe nicht.«

»Ach, du kannst dir ja gar nicht denken, mit weichem Abscheu und Entsetzen mich Name und Vermögen des Mannes erfüllen, der den General Bertolles ermordet hat. Du wirst doch nicht sagen, daß ich ein Recht dazu habe? Ich werde weder das eine noch das andere behalten und wünschte, schon von beiden befreit zu sein.«

Man pochte an der Tür, und während Estelle ihre feuchten Augen trocknete, ging Benois zur Tür, um zu sehen, wer Einlaß begehre.

Die Gasthofsmagd brachte eine Frau herauf, in welcher Benois die Nachbarin erkannte, mit der er vor dem Hause Rosaliens gesprochen.

Als Benois von Rosalie gegangen war, wurde diese vom Schwindel erfaßt. Ihr von den langwährenden Seelenkämpfen bereits geschwächtes Gehirn war von dem Auftritt, den sie soeben überstanden, derart erschüttert worden, daß sie in dem Moment, da sie sich vom Stuhle erheben wollte, bewußtlos zu Boden sank.

Ihre Nachbarin, die neugierig war, wie jede Nachbarin, wartete eine Weile, nachdem sich der fremde Herr entfernt hatte, da sie hoffte, Rosalie werde herauskommen oder wenigstens die Tür öffnen, um nach normännischer und bretagner Art mehr Licht im Hause zu haben.

Indessen wartete sie vergebens.

Eine Stunde später beschloß sie, anzupochen, und da sie keine Antwort erhielt, trat sie in das Haus. Dort fand sie Rosalie besinnungslos auf der Erde liegen. Sie entkleidete sie, brachte sie zu Bett und rannte dann in die Apotheke, unterwegs allerorten die Leute durch ihre Neuigkeit überraschend.

Als sich Rosalie erholt hatte, sah sie eine ganze Schar hilfsbereiter Frauen um sich, deren jede ihr Hausmittel in der Hand hielt. Da geschah es nun, daß Rosalie, bereuend, daß sie ihr Geheimnis einem fremden Menschen preisgegeben, den unbekannten Herrn aufsuchen ließ, der bei ihr gewesen.

Nachdem Benois die höchst umständliche Darstellung der guten Frau vernommen, wandte er sich mit den Worten zu Estelle:

»Wenn du noch etwas erfahren willst, so wird Rosalie es dir jetzt sagen.«

Er zog ihren Arm unter den seinigen und geleitete sie zu dem kleinen Hause.


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