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XIV.

Nur mit harter Miene vermochte Frau von Montelar von ihrer Freundin die gewünschten Aufklärungen zu erhalten. So erfahren Frau Daubray auch war, hatte sie ihr langjähriger Verkehr mit der Welt noch nicht gelehrt, was unter solchen Umständen ihre Pflicht sei, und so mußte man ihr jedes einzelne Wort entlocken, als die Einzelheiten an die Reihe kamen.

Nach ziemlich langen Bemühungen ergab die Summe der erhaltenen Aufklärungen folgendes: Estelle wurde beschuldigt, ihren Gatten am Hochzeitstage ermordet zu haben. Die Dienstleute hatten sie mit blutigen Kleidern aus dem Zimmer kommen gesehen, welches der Schauplatz des Verbrechens gewesen.

Als Frau von Montelar dies vernahm, brach sie in ein nervöses Lachen aus, welches nur schwer unterdrückt werden konnte. Doch als vernünftige Frau gelang es ihr mit Aufgebot aller Willenskraft dennoch, den Nervenanfall zu bewältigen, der sie zu überkommen drohte, und nach einigen Minuten hatte sie ihre Ruhe und Besonnenheit wiedererlangt.

»Es ist ein Märchen, welches man Ihnen aufgebunden hat, und Sie hätten dasselbe nicht glauben dürfen,« sprach sie zu Frau Daubray. »Doch selbst, wenn Sie es glaubten, hätten Sie vorerst mich zu Rate ziehen und mich bezüglich einer Angelegenheit befragen können, die mir besser als irgend jemand bekannt ist, da ich fortwährend an ihrer Seite war von dem Moment an, da wir aus der Kirche kamen, bis zu dem Augenblick, da wir miteinander in das Zimmer des unglücklichen Menschen traten.«

Diese Erinnerung versetzte sie in eine neuerliche Aufregung; doch vermochte sie auch derselben Herrin zu werden. Inzwischen hatte ihre Freundin Zeit gefunden, um zu antworten.

»Aber Liebste!« rief die arme Frau aus, »ich schenkte diesem albernen Geschwätz niemals Glauben! Doch versetzen Sie sich, bitte, in meine Lage. Es ist eine sehr heikle Sache, in unmittelbarem Verkehr mit einer Person zu stehen, von der jedermann –«

Frau von Montelar unterbrach sie ein wenig ärgerlich.

»Meine Nichte ist genügend bedauernswert, da sie von einfältigen Leuten verleumdet wird,« sagte sie festen, entschiedenen Tones, »so daß ihr Unglück nicht noch durch die Personen vergrößert werden sollte, denen die Möglichkeit gegeben ist, sie entsprechend zu verteidigen. Ich erkläre Ihnen mit aller Entschiedenheit, daß kein Wort von alledem, was man Ihnen mitgeteilt hat, wahr ist. Tatsache ist nur das eine, daß mein armer Neffe – und dies sicherlich in einem Anfalle von Geistesstörung, denn anders vermag ich es nicht zu erklären –, mein armer Raymond sich erschossen hat. Wären die Menschen nicht so böswillig und einfältig, so hätte dieses Ereignis vor der Welt ein unglücklicher Zufall bleiben können; doch sobald man an Dienstbotenklatsch zu glauben beginnt – kurz und gut, meine liebe Freundin, ich hoffe, daß Sie alles, was ich Ihnen da gesagt, benützen werden, um Estelle zu verteidigen, die vom Schicksal wirklich schwer heimgesucht worden ist.«

»Seien Sie davon überzeugt, Liebste,« erwiderte Frau Daubray erschrocken. »Mein Gott, wenn ich hätte ahnen können –«

»Was hätten Sie da getan?« fragte Frau von Montelar ein wenig rauh.

»Ich wäre ja gar nicht nach Saint-Aubin gekommen!« stammelte die unglückliche Frau, die, sobald sie sich allein sah, in Tränen ausbrach, sich selbst bemitleidend, da sie hierher gekommen war, um sich zu amüsieren, und nun sich in eine so häßliche Sache hatte verwickeln lassen. Sie wird darob noch ganz krank werden!

Ziemlich aufgeregt kehrte Frau von Montelar zu Estelle zurück.

Von der Tatsächlichkeit des Geschwätzes konnte ja keine Rede sein; es war so abscheulich, daß es als Blödsinn hätte gelten können, und eben darum dachte Frau von Montelar, daß nach reiflichem Erwägen gar niemand an dasselbe werde glauben können.

Dann aber fiel es ihr ein, daß die Menschen die Wahrscheinlichkeit einer Verleumdung niemals zu untersuchen pflegen; sie akzeptieren dieselbe ohne Debatte, und eben darum besitzt die Verleumdung eine solche Macht.

Estelle wartete ohne Angst, doch in einer gewissen Aufregung auf ihre Tante. Wird sie nun endlich erfahren, wessen man sie beschuldigt?

Ihr Gesicht drückte eine so deutliche Frage aus, daß Frau von Montelar ohne weiteres aus dieselbe antwortete:

»Mein liebes Kind, man sagt, du habest deinen Gatten ermordet.«

Estellens Antlitz verriet weder jene Empörung, noch jenes Entsetzen, auf welches ihre Tante vorbereitet gewesen, sondern eine solche Verachtung, daß sich die alte Frau bis in die Tiefe ihres Herzens bewegt fühlte.

Sir erfaßte beide Hände ihrer Nichte und zog sie an sich.

»Und Sie überrascht dies?« fragte Estelle. »Ich wundere mich nicht darüber. In bezug auf Schlechtigkeit und Niedrigkeit muß man ja auf alles vorbereitet sein.«

»Du bist eine tapfere Seele!« erwiderte Frau von Montelar und küßte die reine Stirn, die sich fast in gleicher Höhe mit der ihrigen befand. »Weißt du aber, was man erdichtet hat? Das wirst du nicht erraten! Man sagt, dein Kleid sei ganz blutig gewesen!«

Betroffen blickte Estelle ihre Tante an, während sie beide Hände sinken ließ.

»Das sagt man?« sprach sie merkwürdig veränderten Tones. »Man hat recht.«

Frau Montelar glaubte einen Augenblick, ihre Nichte habe den Verstand verloren.

»Die Leute haben recht,« wiederholte die junge Witwe. »Mein Reisekleid, welches ich gerade angelegt hatte, tauchte mit dem Saum in das Blut, als ich mich zu Raymond niederbückte. – Ach!« rief sie aus und schlug die eiskalten Hände vor das Gesicht, »war es nicht genug, daß ich das sehen mußte? Diese Elenden müssen mich noch auf solche Weise an diesen entsetzlichen Augenblick erinnern? Nein, das ist zu viel!«

Und sie wich zurück, als sähe sie Raymonds leblosen Körper auch jetzt noch vor sich.

»Estelle,« sagte Frau von Montelar, der die Erregung fast die Sprache benahm, »weißt du das gewiß, was du da gesagt?«

»Ja. Als wir in das Zimmer traten – erinnern Sie sich? – eilte ich hin zu ihm – ich wollte ihn emporheben. In jenem Moment hatte ich ja keinen anderen Gedanken. Es war mein Gatte, dem ich Liebe und Treue gelobt. O, weshalb nahm er mich nicht mit sich dahin, wo er jetzt ist? Ich hätte weniger leiden müssen!«

Sie wich noch mehr zurück und sank auf das Sopha nieder, von wirklichen körperlichen und seelischen Leiden gequält, während Frau von Montelar all die Kraft, welche Estelle verloren, wiedergefunden zu haben schien.

»Estelle, höre mich an. Jenes Kleid –«

»War das graue Seidenkleid, welches ich von Ihnen für die Reise erhalten, da Raymond diese Farbe liebte. Ja, der Saum desselben war blutig geworden. Ich gewahrte es gar nicht, und nur Bethy, meine Zofe, machte mich einige Tage später aufmerksam darauf.«

»Was machtest du damit?«

»Ich verbrannte den blutigen Teil. Des weiteren entsinne ich mich nicht mehr. Ich glaube, ich schenkte es Bethy. – O, Raymond, Raymond!«

Und sie rang die Hände. Ihre Tante ließ sich an ihrer Seite nieder und legte ihr die Hand sanft aber nachdrücklich auf den Arm.

»Beruhige dich, Estelle. Die Sache ist sehr traurig, doch dürfen darum Charaktere wie der deinige nicht an sich selbst irre werden. Niemandem kann die Wahrheit so genau bekannt sein, wie mir, da ich damals während des ganzen Tages an deiner Seite war. Was kümmerst du dich darum, wenn dich andere verleumden? Im Namen des Verblichenen stände nur mir ein Recht der Anklage zu, und ich bin es ja, die dich in Schutz nimmt!«

Jetzt erinnerte sich Estelle plötzlich an Benois, und in ausbrechendem Schmerz riß sie ihre Hand aus der ihrer Tante.

»Ach!« sprach sie mit zitterndem Klagen, »Sie können immerhin behaupten, daß ich Raymond nicht getötet habe, und vielleicht wird man es Ihnen sogar glauben. Doch werden Sie niemals beweisen können, daß er sich nicht meinethalben und nicht meiner Schande willen den Tod gegeben! Dies vermag niemand zu beweisen! Und es gibt Leute, die das glauben. Und ich sage Ihnen, daß ich es vorziehen würde, wenn man sagen wollte, daß ich Raymond getötet habe, als wenn man mich für fähig hielte, schon als Eidbrüchige vor den Altar getreten zu sein!«

Ihre Stimme war so schneidend, ihre gequälte Miene verriet einen so tiefen, so wahren Schmerz, daß Frau von Montelar mit einer ihr ganz ungewohnten Wärme beide Arme um die junge Frau schlang.

»Liebes Kind,« redete sie ihr zu, »ich habe dir bereits gesagt, daß wir gemeinsam nach der Lösung des Rätsels forschen werden. Ich habe mein Versprechen schlecht gehalten; ich war schwach und gleichgültig. Nun bestraft mich Gott, daß er dich leiden läßt. Wenn uns irgend jemand zu Hilfe sein kann, so ist das Benois.«

Estelle befreite sich von den sie umschlungen haltenden Armen.

»Wenn Sie auf ihn gerechnet haben, liebe Tante, so ist jede Hoffnung vergebens. Die Leute verleumden mich, weil sie einfältig sind; er aber beschuldigt mich, weil er mich haßt.«

»Aber weshalb sollte er dich hassen, Kind?« fragte Frau von Montelar erstaunt.

»Das weiß ich nicht; doch er haßt mich,« erwiderte Estelle und brach in Tränen aus.

Für den nächsten Abend war ein Wohltätigkeitskonzert zugunsten einer armen Fischerfamilie in Aussicht genommen. Jedermann stellte seine Dienste für dieses Werk der Barmherzigkeit bereitwilligst zur Verfügung; der eine als Mitwirkender, der andere als Zuschauer, und die Preise stiegen in den Händen der werktätigen Helfer doppelt in die Höhe. Frau Barrière und ihre Töchter hatten einen bedeutenden Teil der Eintrittskarten an sich gebracht, um dieselben möglichst teuer zu veräußern, und dies gelang ihnen besser, als sie zu hoffen gewagt. Staatsanwalt Bolvin, den man zum Arrangeur gemacht, erwies während zweier Tage jedermann zahllose kleine Dienste, und seine Bereitwilligkeit und Gewandtheit, mit welcher er sich aus den schwierigsten Lagen zu befreien vermochte, erweckten allgemeinste Bewunderung und Anerkennung.

Ein lautes Gemurmel erhob sich in dem großen Saal des ersten Gasthofes von Saint-Aubin, in welchem das Konzert abgehalten wurde, als Frau von Montelar und ihre Nichte, die für ihre beiden Sitze hundert Franks gezahlt hatten, von Frau Daubray begleitet, eintraten.

Die Plätze waren numeriert. Estelle und ihre Tante nahmen ihre sich in der ersten Reihe befindlichen zwei Sitze ein. In der zweiten Reihe saß bereits Frau Barrière mit ihren Töchtern und einem Teile ihrer regelmäßigen Gesellschaft. Neben Frau von Montelar saßen drei oder vier Honorationen von Saint-Aubin, die von Amts wegen zu jedem feierlichen Anlasse geladen wurden.

Der Eintritt der beiden Damen, die zwar in Trauer gekleidet waren, sich aber streng auf die schwarzen Gewänder beschränkt und Schleier und Spitzen vermieden hatten, erweckte ungeheures Aufsehen. Einzelne eingeborene Fräuleins waren es müde geworden, sich die Hälse auszurecken, und darum ohne weiteres auf die Stühle gestiegen, um sie besser sehen zu können.

Das Gemurmel, welches ihren Eintritt begleitet hatte, verstummte mit einem Male und wich einer Stille, die des Gegensatzes halber feierlich erschien. Allmählich aber regten sich wieder die Zungen, das Kommen und Gehen in allen Teilen des Saales nahm seinen Fortgang, und endlich ertönte hinter einer Tür das traditionelle dreimalige Pochen.

In diesem Augenblicke wandte sich Estelle, die seit einigen Sekunden etwas Außergewöhnliches ahnte, plötzlich zurück und sah, daß die zweite Reihe hinter ihr vollkommen leer war. Die auf alles bedachte Frau Barrière, gleichwie andere vorsichtige Mütter waren nach anderen Plätzen übersiedelt und hatten auf diese Weise eine vielsagende Leere zwischen der ersten Reihe und den übrigen Reihen entstehen lassen.

Estelle machte keine Bewegung, richtete kein Wort an ihre Tante. Das Konzert nahm seinen Anfang und sie litt ihre Qualen ruhig weiter. Als der erste Teil indessen zu Ende war, flüsterte sie der alten Dame einige Worte zu. Beide erhoben sich und schritten der Tür zu: die Damen wichen zu beiden Seiten zurück und gaben ihnen den Weg frei. Und so zogen sie inmitten der herrschenden Stille und im Feuer der Blicke der blöden Menge durch den Saal.

Zu Hause angelangt, wandte sich Estelle mit brennenden, tränenleeren Augen zu ihrer Tante.

»Glauben Sie nicht,« fragte sie, »daß, wenn mich Raymond schon nicht mit sich nehmen wollte, es seine Pflicht gewesen wäre, am Leben zu bleiben und mich zu verteidigen?«


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