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III.

Es ist unmöglich, die Bestürzung zu beschreiben, die sich jetzt geltend machte.

Der erste Eindruck war der, daß dies ja nicht möglich sei, daß das ganze Haus nur unter dem Eindrucke eines fürchterlichen Traumes stehe.

Jean war der erste, der ins Zimmer stürzte. Noch war das vom Krachen des Schusses erweckte Echo im Hause nicht verhallt, als er seinen Rittmeister zusammenbrechen sah.

Vor ihm niederknieend, wollte er ihm die Hand auf das Herz legen; doch riß er die blutigen Finger mit solchem Entsetzen zurück, daß er selbst stumm, wie gebrochen niedersank.

Frau Montelar und Estelle eilten fast in demselben Augenblick ins Zimmer; sie dachten an einen zufälligen Unglücksfall, hofften aber, daß nichts geschehen sei, gleichwie glückliche Menschen den Eintritt eines unverdienten Unglücks nicht voraussetzen können.

Als Frau Montelar ihren Neffen auf dem Teppich ausgestreckt liegen sah, klammerte sie sich an den Türflügel und vermochte sich nicht zu regen. Estelle, die ihr gefolgt war, tat einige Schritte und blieb dann entsetzensvoll vor dem furchtbaren Anblicke des Todes stehen, welchem sie jetzt zum erstenmal in ihrem Leben gegenüberstand.

In ihrem silbergrauen Kleide, welches sie für die Reise angelegt, mit dem blumengeschmückten Hut und dem Sonnenschirm in der Hand, bot sie eine lebende Verkörperung der Freude und der Hoffnung.

Nach der ersten Aufwallung des Schreckens näherte sie sich furchtsam dem Toten und neigte sich zu ihm nieder. Bei dieser Bewegung tauchte ihr Kleidsaum in das auf den Teppich sickernde Blut.

»Er ist doch nur verwundet, Jean, nicht wahr?« fragte sie leisen Tones. »Wir müssen einen Arzt holen lassen.«

Inzwischen hatte sich das Gemach mit erschrockenen Dienstleuten gefüllt. Auch Benois war hereingekommen und bei seinem Anblick war sofort Ruhe und Ordnung eingetreten. Er verbrachte die Zeit nicht damit, in dem zu seinen Füßen liegenden Körper das Leben zu suchen, sondern hob ihn auf und trug ihn aufs Bett. Jean, der inzwischen sich wieder erholt hatte, war ihm dabei behilflich.

Zwei Leute wurden um zwei berühmte Chirurgen geschickt, die in zwei verschiedenen Stadtteilen wohnten, während die übrigen Dienstleute die Weisung erhielten, wieder an ihre Arbeit zu gehen.

»Euer Gebieter fiel einem unglücklichen Zufall zum Opfer,« bedeutete ihnen Benois ruhigen Tones. »Derlei ist nichts seltenes. Sobald er sich von seiner Ohnmacht erholt haben wird, werden wir sehen, was weiter zu geschehen hat. Bis zur Ankunft der Aerzte bitte ich Euch aber, Euch ruhig zu verhalten und den Vorfall nicht ruchbar werden zu lassen.«

Der Klang dieser männlichen Stimme erweckte einiges Vertrauen. Die Dienerschaft zog sich zurück, und beinahe jeder war davon überzeugt, daß das Unglück durch einen Zufall herbeigeführt worden. Die Türen wurden geschlossen und Benois blieb mit Jean und den Frauen allein bei dem Leichnam zurück.

»Nicht wahr, er ist nur ohnmächtig?« fragte Frau Montelar, der es gelungen war, sich inzwischen so weit zu erholen, daß sie sich niedersetzen konnte.

Benois schüttelte traurig den Kopf.

»Sie müßten die Wahrheit doch erfahren,« sprach er: »Raymond ist tot. Die Finger sind bereits kalt und beginnen zu erstarren. Nun muß nur noch erst festgestellt und gegebenenfalls auch verheimlicht werden, was seinen Tod herbeigeführt.«

»Ein unglücklicher Zufall,« murmelte Frau Montelar, die Hände ringend: »es kann ja nichts anderes als ein Zufall gewesen sein, Herr Benois! Der arme, bedauernswerte Junge war sicherlich zu unvorsichtig in seinem übergroßen Glück! Er hatte ja schon vormittags aus Freude den Kopf verloren, bevor man in die Kirche gegangen. Ich bin ganz von Sinnen, liebe Tante, sagte er zu mir; ganz von Sinnen vor Freude!«

Estelle sprach noch immer nicht. Sie stand inmitten des Zimmers und betrachtete wehmütigen, mitleidsvollen Blickes den Toten.

Benois beobachtete sie aufmerksam, erstaunt darüber, daß sie so ruhig sei.

»Und Sie, gnädige Frau?« fragte er; »glauben Sie auch, daß es ein Zufall gewesen?«

Estelle gab keine Antwort, denn sie war es noch nicht gewöhnt, Frau genannt zu werden. Benois trat näher zu ihr und wiederholte seine Frage:

»Glauben Sie gleichfalls, gnädige Frau, daß der Tod Ihres Gatten durch einen Zufall herbeigeführt worden?«

»Jedenfalls, Herr Benois,« erwiderte Estelle; »denn welcher Grund hätte denn vorliegen können?«

Sie wandte ihm ihren Blick zu. Ein leises Zittern machte ihr seidenes Kleid rauschen, als sie dem forschenden, beinahe rauhen Blick begegnete, der in die Tiefe ihrer Seele zu dringen schien.

Jetzt vernahm man einen schmerzlichen Aufschrei. Frau Montelar war es, die sich aus ihrer Betäubung endlich emporgerafft hatte und, an das Bett tretend, durch die kalte Berührung der bereits erstarrten Hand ihres Neffen sich mit einem Male der ganzen Tragweite des sie betroffenen furchtbaren Verlustes bewußt wurde.

In dem reichen, hochzeitlichen Gewände, welches sie noch nicht abgelegt, bot die verzweifelte alte Frau einen herzzerreißenden Anblick.

Estelle ging hin zu ihr und schloß sie in ihre Arme. Ihr schönes Gesicht drückte ein unsägliches Weh aus.

»Tante, meine gute, liebe Tante,« sprach sie leisen Tones. »Wenn Sie ihn geliebt haben, so seien Sie geduldig, ergeben Sie sich in – –«

»Oh!« rief die alte Frau aus, »du kanntest ihn nicht zur Genüge. Du hast leicht von Ergebung reden. Doch ich, die ich ihn seit seiner Geburt geliebt – –«

Ein Ausdruck des Leidens, des Unbehagens, beinahe der Beleidigung erschien auf dem Gesichte Estellens; doch gab sie ihrer ersten Erregung, eine Erwiderung zu wagen, nicht nach, sondern neigte sich über die alle Frau und sagte:

»Bitte, Herr Benois, helfen Sie mir.«

Benois erfaßte den anderen Arm der ganz gebrochenen Dame und zu zweien setzten sie sie in den neben dem Bette stehenden Fauteuil.

»Es wäre besser, wenn Sie sie hinausführen würden,« sagte der junge Mann zu Estelle.

»Führen Sie sie fort, wenn sie es zugibt,« entgegnete Estelle, ohne ihn anzublicken. »Mein Platz ist hier – – ich bin seine Frau.«

Benois heftete einen Blick auf sie, als wollte er in die Tiefe ihrer Seele dringen. Estelle hielt seinen Blick ruhig aus, obschon sie einigermaßen erstaunt über diese Hartnäckigkeit war, welche ihr unschicklich erschien.

»Sie sind, glaube ich, erstaunt darüber, daß ich nicht weine,« sprach sie mit einigem Stolz. »Ich kann nicht weinen, wenn ich so erregt bin. Glücklich, wer sich durch Tränen Erleichterung zu verschaffen vermag!«

Sie legte dabei ihre Hand zärtlich auf die Schulter der alten Frau, die die sich in dieser Bewegung kundgebende Teilnahme deutlich empfand, da sie den Druck der Hand fest erwiderte. Dann weinte sie still weiter.

Regungslos stand Frau Bertolles hinter dem Rücken ihrer Tante, bis ein Diener endlich die Ankunft des Arztes meldete.

Jean, der sich auf einen Stuhl vor dem Fenster niedergelassen und weder ein Wort gesprochen, noch eine Bewegung gemacht hatte, seitdem man seinen Gebieter auf das Bett gelegt, erhob sich jetzt und trat gleichfalls näher.

Der Arzt war weder der eine, noch der andere der berühmten Chirurgen, welche Benois hatte rufen lassen. Er war ein gewöhnlicher Arzt, der in diesem Viertel wohnte und den einer der Diener auf gut Glück geholt hatte.

Er trat schüchtern ein, schritt auf das Bett zu, deckte die Wunde auf, die von gestocktem Blut bedeckt war, beklopfte den Körper und sprach dann, zu Benois gewendet, mit leiser Stimme:

»Die Kugel durchbohrte das Herz: der Tod mußte sofort eingetreten sein.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor,« sagte Benois ruhigen Tones. »Ich glaube, wir müßten die Polizei benachrichtigen, nicht?«

Die beiden Frauen blickten einander bei diesen Worten an. Gleich allen Angehörigen der höheren Gesellschaftskreise berührte sie der Gedanke, mit der Polizei in Berührung zu kommen, sehr peinlich.

»Ja, ohne Zweifel,« erwiderte der Arzt.

Auch er hatte von dieser Heirat sprechen hören, die seit heute Morgen das ganze Stadtviertel beschäftigte. Obgleich mit den Verhältnissen nicht bekannt, vermutete er doch, daß diese junge Dame im silbergrauen Seidenkleide dieselbe sei, die noch vor wenigen Stunden Braut war.

Staunend blickte er sie an, da er sah, daß sie zwar sehr bleich, aber ruhig war und die perlgrauen Handschuhe noch immer an den Händen hatte.

»Gut,« sagte Benois kurz. »Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, mich zu begleiten, Herr Doktor, so würde ich mich zur Polizei begeben.«

»Gewöhnlich braucht man nur den Kommissär des betreffenden Stadtviertels zu benachrichtigen,« erwiderte der Arzt.

»Wollen Sie demnach die Güte haben, sich zu ihm zu bemühen, und Ihre Pflicht zu erfüllen. Ich werde trachten, mit dem Polizeipräfekten zu sprechen. Der Tod des Rittmeisters Bertolles wurde durch einen unglücklichen Zufall herbeigeführt, und es ist notwendig, daß die entsprechenden Verfügungen – –«

»Verzeihen Sie, mein Herr,« erwiderte der Arzt, ihn unterbrechend; »ich glaube nicht, daß dieser Tod einem Zufalle zuzuschreiben wäre.«

»Und weshalb nicht, Herr Doktor?« sagte Benois stolz.

»Die Form der Wunde spricht dagegen. Der Lauf der Waffe hat das Hemd berührt. Die Ränder der Durchlöcherung sind gänzlich verbrannt – – Ein Zufall war das nicht – –«

Benois drückte den Arm des Arztes und sagte fast befehlenden Tones:

»Wenn Sie ihn genauer untersuchen, so werden Sie anderer Meinung sein – – Ich sehe übrigens, daß Ihnen die Gegenwart der Damen hinderlich ist – – Bitte, meine Damen, ziehen Sie sich zurück; das ist unerläßlich.«

Frau Montelar stand mit jenem Gehorsam auf, welchen wohlerzogene Frauen in all und jedem bezeugen, was der Anstand erfordert. Estelle nahm den Arm ihrer Tante in den ihrigen und schritt der Türe zu.

»Nein, laß mich,« sagte Frau Montelar; »ich will ihn noch einmal küssen, meinen schönen, wackeren Raymond, meinen Neffen, meinen Sohn – – Ganz wie sein Vater! Welch' furchtbares Verhängnis!«

Sie neigte sich über das Bett und bedeckte mit heißen Küssen das beinahe noch warme Gesicht des Toten, auf welchem bereits überirdische Ruhe ausgebreitet war.

»Es ist genug, Madame,« sagte Benois und zog sie mit sanfter Gewalt vom Bette weg.

»Und du, Estelle, du küssest ihn nicht?« fragte die alte Frau schmerzbebenden Tones. »Dein Gatte war er ja, mein Kind: dein Gatte vor Gott und den Menschen – – Küsse ihn – –«

Bereitwillig, obschon mit noch bleicher werdendem Gesicht, neigte sich Estelle über den Toten und küßte ihn auf die Stirne. Dies war der erste Kuß, den sie ihm gab, und auch ihre erste Annäherung zu ihm – –

Eine Stunde früher hätte dieser Kuß den armen Schläfer am ganzen Leibe erbeben gemacht – –

Estelle kniff die von der Todeskälte berührten Lippen zusammen: dann aber sich ihrer Schwäche gleichsam schämend, hauchte sie einen zweiten Kuß auf das bleiche Antlitz, während ein Tränentropfen auf die geschlossenen Lider fiel.

Benois beobachtete sie fortwährend; der Arzt schien erstaunt darob, daß eine Frau unter solchen Umständen so ruhig zu bleiben vermochte. Doch Estelle kümmerte sich um keinen der beiden, nahm den Arm ihrer Tante und geleitete sie in ihr Zimmer.

Als sich der Arzt mit Benois und Jean allein im Zimmer sah, schritt er zu dem Bette hin, um den Leichnam einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.

Benois vertrat ihm den Weg.

»Das ist unnötig, Herr Doktor,« sagte er. »Sie hatten ja recht. Doch möge außer uns und außer jenen, die alles wissen müssen, niemand von der Wahrheit Kenntnis haben. In den Augen der Welt möge es ein Zufall bleiben. Und gerade darum wollte ich Sie mit mir nehmen. Im übrigen ist auch das unnötig, da ich die erforderlichen Schritte selbst tun kann.«

Und zum Diener gewendet, fügte er hinzu:

»Sie, Jean, bleiben hier und lassen niemanden herein, lassen auch alles unberührt. Sie bringen nichts in Ordnung.«

»Wenn aber die Damen den Herrn Rittmeister sehen wollen?« fragte Jean, dessen Gesicht einen düsteren Ausdruck angenommen.

»Auch die dürfen nicht herein; dies ist strikter Befehl. Verstanden?«

»Ich verstehe, Herr Leutnant,« erwiderte der wackere Mann.

Benois entfernte sich in Begleitung des Arztes. Als das Geräusch ihrer Schritte auf dem Korridor verhallt war, verließ der alte Soldat das Bett, neben welchem er gestanden, und begann angstvoll und sorgfältig das Zimmer zu durchsuchen.

»Der Brief hat das ganze Unglück angestellt,« sagte er sich, während es in seinen Schläfen stürmisch hämmerte. »Wenn ich ihn nur finden könnte, den verd... Wisch.«

Er achtete nicht auf die Umschläge, welche massenhaft auf dem Schreibtisch lagen, sondern untersuchte sorgsam die behufs Beantwortung zur Seite gelegten Briefe.

Als Jean dann sah, daß keiner der Briefe etwas Verdächtiges aufwies, legte er das ganze Päckchen an Ort und Stelle zurück und fuhr in seiner Durchsuchung fort.

Während derselben kam er auch dem Kamin nahe und da erblickte er einzelne Stücke der Photographie, welche das Feuer nicht verzehrt hatte.

Unbeweglich, beinahe betäubt blieb er stehen. Dann holte er mit größter Vorsicht ein solches Stück heraus, betrachtete es sorgfältig und legte es wieder an die Stelle zurück, woher er es genommen.

In demselben Augenblicke kehrte eine der Dienerinnen, welche Estelle gerufen hatte, um Frau Montelar frisches Wasser zu bringen, mit entsetztem Gesicht in das Dienerzimmer zurück und fragte eine ihrer Kolleginnen:

»Hast du gesehen, daß das Kleid der Frau ganz blutig ist?«


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