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XX.

Die Vermählung der beiden jungen Baronessen Polrey wurde mit großer Pracht gefeiert. Im Tausche gegen die erhaltene Verständigung hatten Frau von Montelar und ihre Nichte Karten und am Hochzeitstage Depeschen abgeschickt. Tags vorher hatte Estelle ihrer kleinen Freundin insgeheim ein kostbares Geschmeide zukommen lassen, welches sie mit mütterlicher Sorgfalt für sie ausgewählt hatte.

Die jungen Paare begaben sich schleunigst in südliche Gegenden, und Estelle erschien Paris etwas kälter, etwas feindlicher, seitdem Odelle aus demselben abgereist.

Inzwischen fand sich Benois, nachdem er etwas länger als sonst fern geblieben, neuerdings in Paris ein. Seine Mutter hatte sich infolge der durch die überaus reiche Weinlese verursachten Anstrengungen sehr erschöpft und geschwächt gefühlt, und nachdem sie dem Zureden ihres Sohnes, für einige Wochen nach Paris zu kommen und den Rat der Aerzte einzuholen, keine Folge leisten wollte, war er bei ihr geblieben.

Dieses Opfer blieb denn auch nicht lange unbelohnt. Die Ruhe, die der Winter mit sich brachte, und die Freude, den geliebten Sohn neben sich zu sehen, gaben den Wangen der Mutter die lebhafte Farbe wieder, auf die Theodor so stolz war; die grauen Augen leuchteten von neuem auf, und das stumme Lächeln, welches ihr Gesicht so angenehm machte, erstrahlte neuerdings, so oft sie dem geliebten Sohn ins Gesicht blickte.

So lebten sie nebeneinander in dem großen, hallenden Hause, jedes mit anderen Gedanken beschäftigt, die sich aber nur insofern voneinander unterschieden, daß der Sohn an die Mutter und die Mutter an den Sohn dachte.

Die Sonne eines kalten Dezembertages schien bleich zu den hohen Fenstern herein und die ringsum ausgebreitete Schneedecke gab dem Prasseln und Knallen der im Kamin brennenden Holzblöcke einen ganz besonders anheimelnden Klang. In einem Fauteuil sitzend, las Theodor die Zeitung, während Frau Benois mit flinken Fingern an einem langen Strumpf für ihren Sohn strickte, den er im nächsten März tragen sollte, wenn er den Sand der Weinberge besichtigen würde.

»Theodor!« sagte sie mit einem Male und steckte die Stricknadel unter ihre weiße Haube.

Jener hob den Kopf und blickte seine Mutter behaglich an.

»Du scheinst mir zufriedener als vordem zu sein, mein Sohn. Die Dinge nehmen also einen befriedigenden Verlauf?«

Theodor lächelte.

»Befriedigend, Mutter? Das wäre zu viel verlangt,« erwiderte er; »denn eigentlich weiß ich ja gar nicht, was mich befriedigen würde, wenn nicht der eine Umstand, dich heiter und gesund zu sehen. Was das übrige betrifft, so kann ich immerhin sagen, daß es etwas besser geht als früher.«

»Hast du schon in Erfahrung gebracht, weshalb dein Freund einen Selbstmord beging? Nicht? Und dir ist doch leichter ums Herz? Was ist also geschehen?«

»Ich habe über deinen Rat nachgedacht, Mutter, und denselben für gut befunden. Sie war liebenswürdig genug, um meine Einfältigkeit und Schlechtigkeit zu verzeihen.«

»Habt Ihr miteinander gesprochen?«

»Ja. Sie pflegt jetzt die Tante ihres Gatten, die nicht mehr lange leben wird. Die armen zwei Frauen haben mehr Leid zu ertragen, als es gerecht ist. Denke dir doch, jetzt beschuldigt man die arme Witwe sogar, daß sie ihren Gatten ermordet habe! Ich weiß es natürlich am besten, daß dies nicht wahr ist, und gerade das Ungeheuerliche dieser Verleumdung hat mich bekehrt. Ich war ja eben so töricht und übelwollend, wie die anderen. Nun ist's aber zu Ende, und das freut mich.«

»Hast du ihr die Papiere zurückgegeben?«

Theodor wagte nicht zu lügen und nickte bloß mit dem Kopfe, was seine Mutter für eine Bejahung ansah.

»Und noch bis heute weißt du nichts?«

»Gar nichts.«

Frau Benois fuhr emsig zu stricken fort.

»Hast du niemals daran gedacht,« sprach sie leisen Tones, »daß dein Freund Raymond in jüngeren Jahren ein unbedachtes Versprechen, irgendeiner Frauensperson ein Heirats- oder anderweitiges Versprechen gegeben haben könne? Ich habe schon oft daran gedacht und darüber nachgegrübelt, ob Bertolles, der ein so stolzer Mann war, nicht auf einmal den Kopf verloren habe, als er sah, daß man ihn für ehrlos und wortbrüchig halten könnte, während er, da er schon verheiratet war, gar nichts zu tun vermochte. Ist dir ein derartiger Gedanke noch niemals gekommen?«

Theodor war von seinem Sitz emporgefahren und ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Nein! Merkwürdig! Und dies wäre doch eine sehr annehmbare Erklärung! Und das Merkwürdigste ist, daß dies dir in den Sinn kam, Mutter, und nicht mir. Ah, ich habe mich wirklich in der ganzen Sache sehr einfältig benommen! Hartnäckig hielt ich an einer Voraussetzung fest. Mutter, du bist die außerordentlichste Frau, die ich jemals gesehen!«

Er nahm den greisen Kopf seiner Mutter zwischen die Hände und bedeckte denselben mit Küssen; dann aber ließ er sich wieder in seinen Fauteuil nieder und versank in Nachdenken.

»Du mußt recht haben,« äußerte er nach einigen Minuten. »Ich allein vermag aber keine Nachforschungen anzustellen, die ohnehin zu nichts führen würden. Wenn nicht etwa – – doch das ist unmöglich.«

»Was sollte geschehen?«

»Man müßte aus den Papieren Raymonds eine Spur ausfindig machen, die zur Vergangenheit zurückführen würde. Doch wie soll ich mich in den Besitz dieser Papiere setzen?«

»Verlange sie von der Witwe,« erwiderte Frau Benois ruhig und strickte hurtig weiter, nachdem sie ihre Haube in Ordnung gebracht.

»Von ihr?« fragte Theodor betroffen.

»Natürlich! Du kannst sie doch nicht entwenden! Und ich denke, daß es gerade in ihrem Interesse gelegen ist, die Wahrheit zu erforschen.«

Nach einer Pause, die jetzt eintrat, legte die alte Frau die Strickerei in den Schoß und, ihren Sohn anblickend, sagte sie:

»Siehst du, mein Sohn, wenn man mich in solcher Weise verdächtigen würde, vermöchte ich nicht zu schlafen, so lange die Wahrheit nicht ans Tageslicht gekommen wäre.«

»Sie kann ja auch kaum schlafen!« erwiderte Benois traurig.

»Nun denn, wenn du ihr Wohl anstrebst, so mußt du bemüht sein, ihr den Seelenfrieden, dessen sie bedarf, zu verschaffen. Und dann, mein Sohn, ob du ihr nun gefällst oder nicht, das ist schließlich eure Sache, ist es als intimster Freund ihres verstorbenen Gatten auch deine Pflicht, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen.«

»Du hast recht, Mutter,« sagte Theodor aufstehend. »Und sobald du meiner nicht mehr bedarfst –«

»Du kannst unverzüglich reisen. Ich befinde mich ganz wohl und Arbeit gibt's nur wenig. Aber höre mich an, mein Sohn. Du weißt, daß ich dich liebe und nur dein Glück vor Augen habe. Wenn du das Gefallen jener Frau erregst, so wird das ein großes Glück für sie sein, denn du bist ein tüchtiger, wackerer Mann, der sich benehmen wird, wie es erforderlich ist. Ich aber bin eine rechtschaffene Frau, und dasselbe waren meine Mutter und meine Großmutter. In unserer Familie hat es immer nur rechtschaffene, wohlgeratene Frauen gegeben und, so Gott will, soll es auch weiter so bleiben. Ich würde es also nicht gerne sehen, wenn man mit dem Finger auf deine Gattin deuten und sagen könnte: ›Diese Frau war die Ursache davon, daß ihr Gatte einen Selbstmord beging, denn es konnte niemals in Erfahrung gebracht werden, weshalb er es getan. Man muß erforschen, was ihn dazu veranlaßt. Wenn er den Verstand verloren hatte, so mögen es die Aerzte erklären‹ – Mit einem Worte, mein Sohn, es ficht mich nicht an, wenn man jene Frau verleumdet hat, die du heiratest: nur sollst du es den Leuten beweisen können, daß es nicht wahr ist, was man ihr zur Last legt. Sonst vermöchte ich deiner Heirat nicht beizustimmen. Und darum sage ich: Suche, erforsche.«

»Du sprichst wie die verkörperte Weisheit, und ich danke dir von ganzem Herzen,« sagte Theodor, verehrungsvoll die alte, welke Hand küssend, die schon wieder hurtig mit den Stricknadeln klapperte. »Ich werde mich ohne Widerstreben meiner Aufgabe unterziehen.«

Einige Tage später sprach Benois im Palais Bertolles vor. Frau von Montelar fühlte sich etwas besser und empfing ihn mit sichtlicher Freude. Die arme Frau näherte sich mit großen Schritten dem Grabe, ahnte es aber nur halb und halb.

Als der Winter gekommen war, waren auch einige gute Bekannte zu ihr zurückgekehrt, – bejahrte Damen, die sich nicht viel um Vorurteile kümmerten und keinen Grund sahen, um ihre Freundin nicht wie zuvor zu besuchen. Daß Estelle zugegen war, nahmen sie mit gleichgültiger Höflichkeit hin. Im übrigen wußte sich die junge Frau die Sympathien aller zu erwerben, und ihre Tante freute sich darob als eines guten Zeichens.

Der Besuch Benois' erweckte demnach keine peinlichen Erinnerungen, wie er befürchtet, sondern bereitete der alten Frau sogar eine solche Freude, daß sie ihn auch sofort zu Mittag einlud.

Benois nahm die Einladung an, da er mit der jungen Witwe um so bequemer und vertraulicher sprechen zu können hoffte. Doch täuschte er sich in seinen Erwartungen, da Frau von Montelar ihre Nichte keinen Augenblick entbehren konnte.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen beschloß Benois, Estelle zu schreiben, um eine Unterredung unter vier Augen mit ihr zu erbitten.

Dieses Verlangen überraschte und verwirrte Estelle auch einigermaßen. Trotzdem beantwortete sie den Brief und bestimmte Benois einen Tag und eine Stunde, zu welcher Frau von Montelar mit ihrem Anwalt beschäftigt zu sein pflegte.

Mit pochendem Herzen begab sie sich in den im Erdgeschoß gelegenen Salon, in welchem sie vor drei Monaten mit Benois gesprochen. Jener Tag war so wichtig für ihr Leben gewesen, welchem er mit einem Male eine ganz andere Richtung gegeben, daß sie nur mit einem freudigen Schauer desselben gedenken konnte.

Ihr Gesicht verriet aber nichts davon, obschon es sich ein wenig rötete und auch ihr Auge lebhafter glänzte, als ihr Benois mit ausgestreckter Hand entgegenkam.

Benois bat mit einigen Worten um Entschuldigung für seine Belästigung und erklärte, daß ihn nur sehr wichtige Gründe veranlaßt hätten, zudringlich zu sein.

»Haben Sie etwas entdeckt?« fragte Estelle aufs höchste erregt.

»Nein; doch sagte mir meine Mutter, daß ich die Nachforschungen nach jeder Richtung ausdehnen müsse, und –«

»Ihre Mutter?« unterbrach ihn Estelle. »Sie beschäftigt sich mit meinen Angelegenheiten?«

»Meine Mutter achtet und liebt Sie, Madame, wie jeder rechtschaffene Mensch, der Kenntnis von Ihrem Unglück hat.«

Estelle schlug die Augen nieder. Wie himmlischer Tau berührten diese Worte ihr gepeinigtes Herz. Es gibt also eine rechtschaffene Frau auf Erden, die, ohne sie zu kennen, sie liebt und bemitleidet.

Seitdem Benois anderer Meinung geworden, hatte er die Sache offenbar seiner Mutter dargelegt.

Als hätte der junge Mann ihre Gedanken erraten, fügte er hinzu:

»Meine Mutter war es, die Ihre Situation, Madame, in Wahrheit zu würdigen vermochte, und ich muß erklären, daß sie auch mir die Augen öffnete –«

Estelle hob sanft die Hand empor, wie um ihm Schweigen zu gebieten. Benois gehorchte und setzte nicht fort, sondern ging auf die Veranlassung seines Besuches über.

»Kaum wage ich Sie darum zu bitten, wessen ich bedarf. Ich möchte Sie bitten, mir zu gestatten, unter Raymonds Papieren, unter seinen allen Briefschaften nachzuforschen, ob wir dort nicht die Spuren irgendeines Ereignisses entdecken, welches –«

Estelle blickte ihn aufmerksam an. Dann schlug sie die Augen nachdenklich nieder.

»Sie haben recht,« sprach sie nach kurzem Schweigen. »Ich führe Sie in Raymonds Zimmer.«


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