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VII.

Vor dem kleinen Schreibtisch ihres Schlafzimmers sitzend, dachte Estelle nach.

Sie wollte jemandem schreiben, um ihre Bitternis auszuschütten und die Teilnahme mitfühlender Herzen zu erwecken; doch erst als sie zur Feder griff, merkte sie, daß sie nicht wisse, an wen sie schreiben sollte.

In Raymond de Bertolles hatte sie beinahe ihr Ideal gefunden. Wir sagen »beinahe«, denn sein Anblick hatte Achtung und Sympathie in ihr erweckt, doch die Liebe fehlte noch, – und Estelle hoffte, daß sich auch diese einstellen würde.

Dessenungeachtet willigte sie nicht ohne jeden innerlichen Kampf in diese Heirat.

Sie läßt sich bitten, behauptete Valentine, das jüngste der Polrey-Mädchen, von ihr.

Doch so niedrige Berechnung lag nicht in dem Charakter Estelles. Es erschien ihr beinahe als Gefahr, daß sie einen Mann heiraten sollte, von dem sie nicht mit Sicherheit wußte, ob sie ihn jemals wiederlieben werde, und dem sie daher nicht im vorhinein geloben könne, daß sie nur ihn allein und für alle Zeiten lieben werde.

Dies gab sie in aller Offenheit auch Frau von Montelar zur Antwort, die bittend zu ihr gekommen war. Die alte Frau würdigte diese Bedenken; doch wie es unter solchen Umständen zu gehen pflegt, setzte sie sich mit stolzer, unschuldiger Seele über diese Argumente hinweg.

»Sie haben Ihr Herz viel zu sehr am rechten Fleck, mein liebes Kind,« sagte sie zu ihr; »als daß Sie den Mann, den Sie achten und der Sie anbetet, nichts rückhaltlos liebgewinnen sollten.«

Und so willigte Estelle ein.

Und nun, da sie so allein in dem Zimmer saß, welches für das junge Paar vorbereitet worden war, stieg sie mit unerbittlicher Strenge in die Tiefe der eigenen Seele hinab und erhob die bittersten Vorwürfe gegen sich selbst, weil sie nachgegeben und den Antrag des Rittmeisters nicht zurückgewiesen hatte.

Sie überließ sich dieser Reue nicht nur mit dem Egoismus der Sehnsucht nach Glück und Ruhe; sie ward auch von einer unklaren Furcht gequält, die die Worte Benois' in ihr erweckt hatten. Sie fühlte sich vollkommen frei von jedem Vorwurf. Ist es aber möglich und vorauszusehen, daß eine so furchtbare Beschuldigung gegen sie erhoben wurde, daß Raymond lieber starb, als daß er ihr von derselben Mitteilung gemacht hätte?

Und wenn es sich so verhielt, wäre es nicht in Raymonds Interesse allein hundertmal besser gewesen, ihn dem Schmerze einer Zurückweisung auszusetzen? Und hätte man sie derart zu verleumden gewagt, wenn sie keine Waise gewesen wäre, die völlig schutzlos dastand?

»Raymond würde noch leben, wenn ich nicht seine Frau geworden wäre,« sagte sich Estelle traurig.

Und an sich selbst denkend, fügte sie hinzu:

»Und auch ich würde mich dann nicht in dem Abgrund der Gefahr und des Schmerzes befinden!«

Unsere Sitten erheischen es, daß Mädchen sozusagen kein eigenes Leben führen, sondern nur an dem Leben der Eltern teilnehmen und höchstens einige Freundinnen mit Erlaubnis ihrer Familien besitzen. Um so isolierter ist alsdann das Leben einer Waise, wenn sie durch ein Unglück ihrer nächsten Umgebung beraubt wird.

Estelle, die außer der Baronin Polrey keinerlei andere Verbindungen besessen, gewahrte mit einem Male, daß sie völlig vereinsamt in der Welt dastehe. Sie kannte kein weibliches Wesen, dem sie ihr Leid hätte offenbaren, keinen Mann, dessen Schutz sie hätte anrufen können. Frau von Montelar hatte sie als zukünftige Gattin ihres Neffen schon früher für ihre Tochter angesehen; doch war dieses Verhältnis viel zu neuen Ursprungs und noch fraglich, ob die Umstände keine Veränderung desselben herbeiführen werden.

Sie hatte niemanden, dem sie ihr Herz hätte offenbaren können. Frau von Montelar war die am wenigsten geeignete Person, um mit ihr unverhohlen über die Dinge zu sprechen, welche die junge Frau peinigten. Die brennenden Fragen, die mit dem traurigen Geheimnisse in Verbindung standen, konnten in ihrer Gegenwart nicht einmal berührt werden.

Estelle hatte niemals das Bedürfnis nach einer Stütze empfunden. Ihre Kinderjahre, welche sie an der Seite ihrer kranken und mit sich selbst beschäftigten Mutter verbracht, hatten sie längst daran gewöhnt, ihre Stütze nur in sich selbst zu suchen. Ihr glückliches Temperament vereinigte leichtmütige Heiterkeit mit lächelnder Ergebung. In dem klösterlichen Erziehungsinstitut hatte sie alles amüsiert, war ihr alles genehm gewesen, selbst das Lernen, und sie war den übrigen Mädchen eine gute Genossin; doch besaß sie nichts von jener ein wenig Mißtrauen bekundenden Exklusivität, welche einzelne Mädchen zu Freundinnen macht, so zwar, daß sie bei aller Beliebtheit, deren sie sich bei den Mädchen zu erfreuen hatte, keines dieser jugendlichen Verhältnisse anknüpfte, welche doch zu Beginn des Lebens eine so große Rolle spielen.

Die Polrey-Mädchen waren aus nicht genügend kräftigem Material geschaffen, um sonderlich lebhafte Empfindungen in ihr zu wecken. Estelle war die Aelteste unter ihnen; sie traten zugleich in das gesellschaftliche Leben, amüsierten sich gemeinsam daran, was ihnen komisch dünkte – doch das seichte Wasser, welches munter über die kleinen Kieselsteine dahinfloß, barg kein tieferes Gefühl. Estelle fühlte deutlich, daß, sobald sie drei verheiratet sein würden, jede von ihnen einen anderen Weg nehmen werde, aus welchem sie kaum jemals wieder zusammentreffen dürften.

Die Polrey-Mädchen würden das Leben für einen gut arrangierten Kotillon ansehen und nur darauf bedacht sein, sich einen besseren Tänzer zu sichern. Estelle strebte höher: sie wünschte sich einen Gatten, den sie bis zum Grabe achten und lieben könnte.

Estelle war in der Tat sehr verlassen. Aus ihrem früheren Leben hatte sie in das Palais Bertolles gar nichts mit sich hinübergenommen. Die wenigen lieben Gegenstände, welche sie besaß, waren aufs Land geschickt worden, wo sie mit ihrem Gatten den Sommer hätte verbringen sollen. Und hatten die geringe Zahl und geringe Bedeutung dieser Gegenstände nicht ein halb mitleidiges, halb trauriges Lächeln auf ihre Lippen gelockt, als sie dieselben fortschaffen ließ?

»Ich hatte stets nur einen provisorischen Aufenthaltsort,« sprach sie damals zu Frau Montelar, »und das Kloster stets zu verlassen gewünscht, während ich das Haus der Baronin Polrey als Frau verlassen soll. Hoffentlich wird Betolles mein beständiger Wohnsitz bleiben.«

Und nun wird auch Bertolles nicht ihr endgültiger Wohnsitz sein.

In ihren Gedanken sah sich Estelle in den Gasthöfen europäischer Großstädte; von einer wird sie zur anderen wandern, fortwährend allein. Denn der Gedanke, sich von selbstsüchtigen Schmeichlern, heuchlerischen Frauen und verkappten Bettlern umgeben zu sehen, gleich so vielen anderen alleinstehenden Frauen, die Vermögen besitzen, doch keine Freunde, dieser Gedanke erfüllte sie mit Entsetzen.

Sie hatte also Feinde? Wie konnte sich ein stilles, ehrenhaftes junges Mädchen einen so mächtigen Feind geschaffen haben, der ein solches Resultat herbeizuführen vermochte?

Die Verleumdung läßt uns, wenn sie zum erstenmal an uns herantritt, stets entwaffnet und ratlos. Unser erster Gedanke ist nicht der der Empörung, sondern des Staunens.

Wie ist es möglich, daß man mich so sehr haßt? Dies ist der erste Gedanke der guten und gerechten Seele. Und wahrscheinlich glaubt sie es gar nicht; sie denkt, es obwalte ein Irrtum in der Sache, den man entdecken und gutzumachen trachten wird. Es erfordert ziemlich viel Zeit, bis es ihr einleuchtet, daß tatsächlich von ihr die Rede ist.

Vorläufig staunte Estelle bloß. Doch begann in ihrem gefolterten Geiste sich auch schon ein anderer Gedanke geltend zu machen: Weshalb kam Raymond nicht zu mir, um offen mit mir Rücksprache zu nehmen? Ich hätte ihm ja so leicht beweisen können, daß die Verleumdung grundlos war!

Allmählich überwog dieser Gedanke den anderen: Raymond war ein guter, rechtschaffener Mensch gewesen. Estelle hatte niemals wahrgenommen, daß unbegründeter Zorn oder lächerliche Leichtgläubigkeit zu seinen Schwächen gehört hätte. Wie war es also möglich, daß er mit solcher Ueberhastung zu Werke ging?

War er von Wahnsinn erfaßt worden? Doch war dies anzunehmen, nachdem sich derartiges vorher mit keinerlei Anzeichen verraten?

Estelle beschloß, Frau Montelar zu befragen. Die alte Frau hatte Benois in einem Tone geantwortet, welcher bewies, daß sie für die Witwe ihres Neffen Achtung empfand. So gewagt und heikel der Versuch auch sein mochte, gemacht mußte er werden. Sie schuldet sich selbst die Achtung, die Rücksicht, Raymonds Charakter gründlicher kennen zu lernen, als ihr derselbe bis jetzt bekannt gewesen.

Sie schloß den Schreibtisch und ließ bei Frau von Montelar anfragen, ob sie sie zu empfangen geneigt sei.

Die Antwort der alten Frau bestand darin, daß sie selbst zu ihr herüberkam.

In der furchtbaren Verzweiflung, in welcher sie sich befand, war das Alleinsein vielleicht das Furchtbarste für die arme Frau. In der letzten Zeit hatten das lebhafte Treiben in dem von Arbeitern wimmelnden großen Hause, die geräuschvollen Vorbereitungen zu den glänzenden Vermählungsfeierlichkeiten, ihr Ohr und ihre Seele erfüllt und die unmittelbar darauf eintretende Grabesstille war ihr darum um so drückender. Es war ihr daher eine willkommene Erleichterung, wenn sie dieselbe auf irgendeine Weise unterbrechen konnte.

»Du willst mit mir sprechen, Estelle?« redete sie ihre Nichte an.

Diese, bevor sie antwortete, brachte die würdige Dame erst bequem in einem Fauteuil unter. Sie hatte oft gesehen, wie sich Raymond in dieser Weise um die Bequemlichkeit seiner Tante bemühte, und es erschien ihr ganz natürlich, Raymond hierin zu vertreten.

Diese Rücksicht lockte Tränen in die Augen der alten Frau, die sie aber sofort abtrocknete.

»Verzeihen Sie mir, liebe Tante,« begann Estelle, »wenn ich Ihnen eine Frage vorlege, die Ihnen sehr unpassend dünken wird. Sind Sie aber nicht auch der Meinung, daß in der Lage, in welcher ich mich befinde, ich alle erlaubten Mittel aufbieten muß, um das Dunkel zu erhellen, welches mich umgibt?«

»Sprich,« erwiderte Frau von Montelar einfach.

»Haben Sie an Ihrem Neffen jemals eine derartige Erregung – – ein derart merkwürdiges Benehmen wahrgenommen, infolge dessen man seine letzte Tat einer – – geistigen Ueberreiztheit zuschreiben könnte?«

»Niemals!« erwiderte Frau von Montelar mit größter Bestimmtheit. »Raymond erfreute sich eines überaus hellen gesunden Geistes. Seine einzige Schwäche – sofern eine solch' heilige Empfindung mit diesem Namen bezeichnet werden kann – war die überaus lebhafte Empfindlichkeit für und gegen alles, was sich auf seinen Vater bezog, dessen plötzlicher und tragischer Tod einen starken Eindruck in ihm zurückließ. Im übrigen war er ein stiller, überlegener Mann von nüchterner Denkungsart.«

»Sein Vater,« sagte Estelle langsam: »daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ist es nicht möglich, daß sich dieser Brief – – Sie wissen ja, was ich meine – – auf irgendein Ereignis in dem Leben seines Vaters bezog?«

Frau von Montelar richtete sich mit gerötetem Antlitz empor und hob ihre rechte Hand in einer Erregung in die Höhe, die bei ihr ganz ungewohnt war.

»Ich behaupte,« sagte sie, »und bin es sogar zu beschwören bereit, daß das Leben meines Bruders keinen Schatten solcher Dinge enthielt, die als Vorwand ehrenrühriger und entehrender Beschuldigungen hätten dienen können – – Nein, niemals!«

»Aber, liebe Tante, die Verleumdung bedarf keines Vorwandes – –«

»So wäre Raymond am Leben geblieben, um an den schändlichen Verleumder heranzutreten und ihn zur Rücknahme seiner Lüge zu zwingen – – Nein, nein, Estelle, diese Annahme ist ein Wahnsinn.«

»So will ich dieselbe fallen lassen, liebe Tante,« sagte Estelle ruhigen Tones. »Sie, liebe Tante, Sie haben Ihren Neffen verloren, der Ihnen ein Sohn war: ich aber – – ich habe alles verloren. Ich habe weder Verwandte, noch Freunde – – Sie sehen es ja selbst; zwar erhalte ich Briefe, doch verrät keiner derselben wirkliche Sympathie – Raymond hätte mich für alles entschädigt, ich kam ihm mit vollem Vertrauen entgegen – – Er aber ging von mir, ohne ein Abschiedswort für mich zu hinterlassen, und nun bin ich hundertmal verlassener, als ich vor meiner Vermählung gewesen. Wäre Raymond einen Tag vor der Vermählung gestorben, so hätte all und jeder ob meines Unglücks Tränen vergossen – – während ich mich jetzt nur von Kälte und Feindseligkeiten umgeben sehe. Verzeihen Sie mir also, daß ich die Ursachen der entsetzlichen Katastrophe zu ergründen suche, die mich meiner ganzen Lebensfreude beraubte und mich auch meiner Ehre zu berauben droht!«

Estelle sprach all dies mit großer Einfachheit, obgleich sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Frau von Montelar erhob sich, schloß sie in die Arme und küßte sie zärtlich auf die Stirne.

»Vertraue mir, meine Tochter,« sagte sie dann; »wir werden gemeinschaftlich miteinander suchen – –«


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