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XXVI.

Gegen sieben Uhr abends, als die letzten Strahlen der Sonne die Fenster des Palastes verlassen hatten, trat mit der Dämmerung zugleich auch der Tod bei Frau von Montelar ein, ruhig, ohne Erschütterung, und als sich Benois gegen neun Uhr einfand, traf er Estelle am Schreibtisch an, ruhig mit dem Schreiben von Briefen beschäftigt.

Die Dienstleute kannten das Verhältnis zwischen dem jungen Mann und der Familie zu gut und seit zu langer Zeit, als daß sie sich darob gewundert hätten, ihn unter solchen Umständen hier zu sehen. Fortan wird es anders werden. Benois ließ sich von Estelle alle nötigen Aufklärungen geben, um sich nicht zu oft an sie wenden zu müssen.

Sie ließen sich einander gegenüber an einem Tische nieder. Benois machte Notizen, während Estelle Rechnungen prüfte oder Adressen suchte. Ein tiefes Gefühl der Ruhe umfing diese zwei Menschen in der milden Luft des Frühlingsabends, in dem sanften Licht der Schirmlampe.

Tiefe Stille herrschte in dem Palast, in welchem der Tod seit dreizehn Monaten zum zweiten Male vorsprach. Doch so groß die Verwirrung und Verzweiflung gewesen, welche Raymonds Selbstmord erregt, so ruhig und still war der Ernst, beinahe Andacht, welche sich bei dem Tode der Frau von Montelar, den man vorhergesehen, geltend machte.

Dieser Eindruck der Ruhe und Stille war ein so starker, daß Estelle das Bedürfnis fühlte, denselben ein wenig zu stören. Das Bewußtsein, mit dem Manne allein zu sein, den sie liebte, erfüllte sie mit einer Schüchternheit, als hätte sie noch niemals eine vertrauliche Unterhaltung mit ihm geführt.

Sie ließ den jungen Mann bei seinen Notizen, stand auf und öffnete die Tür des anstoßenden Zimmers. In demselben lag die Tote auf ihrem Bette, von brennenden Kerzen umgeben.

Durch die geöffnete Tür flutete ein starker Lichtstrahl in das stille Zimmer. Benois hob den Kopf empor, und in dem Lichtscheine, der infolge der den Rest des Gemaches erfüllenden Dunkelheit geradezu blendend wirkte, erblickte er Estelles schlanke, jungfräuliche Gestalt, die in dem umhüllenden schwarzen Gewand einer aus dunklem Marmor gebildeten Statue glich. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen: doch das reiche, glänzend schwarze Haar, das über den Nacken niederflutete, konnte nur das ihrige sein.

In der Türöffnung stehend, blickte Estelle zu der Toten hinüber und teilte derselben ihre Gedanken mit. Was wohl ihre Beschützerin, ihre einzige Freundin gesagt hätte, wenn sie von der Wahrheit Kenntnis gehabt haben würde? Hätte sie ihr gestattet, sich von der eingebildeten Treue loszusagen? Und was hätte sie getan, wenn sie gewußt hätte, daß ihre Nichte nur den einen Wunsch habe, Benois' Gattin zu werden? Eine Bertolles die Gattin eines Weingartenbesitzers!

»Ich bin keine Bertolles,« sagte sich Estelle. »Die Zeremonie, die aus mir für einen Moment eine Frau von Bertolles gemacht, machte mich noch nicht zu einer echten Bertolles, und was man auch sagen mag, ich bin doch das Fräulein Brunaire geblieben, das nach eigenem Gutdünken heiraten kann. Und was ich während deines Lebens, meine geliebte Beschützerin, nicht getan hätte, um dich nicht zu betrüben, das werde ich jetzt tun, sobald ich die blutige Spur zu entfernen vermocht, die dein Neffe auf meinem Brautkleide zurückgelassen. Nun brauche ich mich um niemanden mehr zu kümmern, nur um mich und meine Zukunft, und meine ganze Zeit, all meine Kraft werde ich diesem Zwecke weihen.«

Ihr liebliches Gesicht hatte einen Ausdruck fester Entschlossenheit angenommen, als sie zu dem Tische zurückkehrte, an welchem Benois mit seinen Notizen beschäftigt war.

»Worüber denken Sie nach?« fragte er natürlichen Tones.

»Ueber die Zukunft,« erwiderte sie ebenso. »Ich werde nunmehr tatsächlich keine Ruhe finden, bevor ich die Wirklichkeit in Erfahrung gebracht.«

Benois erinnerte sich sofort des Briefumschlages, und schon wollte er sprechen. Wie sollte er ihr aber gestehen, daß er in solchem Grade an ihr gezweifelt, nachdem sie noch kein Wort miteinander gewechselt und ihre ganze Verlobung bloß auf einem vielsagenden Schweigen basierte? Selbst der Umstand, daß Estelle an seine Brust gesunken war, konnte für einen Ausfluß geschwisterlicher Sympathie gelten.

Noch niemals hatte Benois vor etwas gezittert. Jetzt aber ward er von einem eiskalten Schauer befallen, als er erwog, daß er sich mit einem einzigen Worte der Gefahr aussetzen könne, Estelle für ewig zu verlieren. Estelle ist stolz, und es ist möglich, daß er durch die Enthüllung seines Mißtrauens ihr eine Wunde zufügen würde, die niemals zu vernarben vermöchte; schließlich hatte ihm ja Estelle nicht gesagt, daß sie ihn liebe, und vielleicht liebt sie ihn gar nicht!

»Ich muß darüber vollkommen ins Reine kommen,« sagte er sich, »um mich nicht ihrem Unwillen auszusetzen.«

»Wir werden gemeinschaftlich miteinander suchen,« fügte er mit lauter Stimme hinzu, »auch haben wir jetzt ein größeres Feld vor uns.«

Damit stand er auf, denn er hatte seine Arbeit beendet.

»Morgen werde ich zur Stelle sein,« sagte er. »Sie werden nicht in die Kirche gehen, werden sich auch nirgends zeigen und niemanden empfangen.«

»Kann ich das?«

»Sie sind krank, und das ist auch erklärlich. Auf Wiedersehen!«

Geschwisterlich drückten sie einander die Hände, und Estelle blieb allein, – allein, doch nicht verlassen.

Die jetzt folgenden vierundzwanzig Stunden verflossen, wie derartige Tage zu verfließen pflegen: langsam und doch rasch zugleich. Noch einen Tag später folgte das Begräbnis. Bei der Einsegnung waren viele Neugierige und auch mehrere gute Bekannte zugegen, denen es nunmehr leid tat, daß sie diese Frau, für die sie alle Achtung und Sympathie empfunden, in ihrer Verlassenheit hatten sterben lassen. Auch hatten sich einige sensationslüsterne Journalisten eingefunden.

Alle waren ziemlich unangenehm enttäuscht, als sie Estelle nirgends erblickten. Und ihre Gegenwart hätte doch sowohl den feinen Herren und Damen, als auch den Journalisten ein großes Vergnügen bereitet. Man sagte der Abwesenden denn auch Schlechtes genug nach, und wäre sie zugegen gewesen, so würde sie gleichfalls zu boshaften, wenngleich anders gearteten Bemerkungen Anlaß geboten haben.

Unter das Publikum gemengt, vernahm und sammelte Benois alles, was gesprochen wurde. Sein edler Charakter war erbittert durch die Einfalt und Schlechtigkeit, die an keine Person gebunden, sondern charakterisierend für die ganze Menge war: ein jeder vermehrt den Klatsch mit einem Wort, ohne sich um die Folgen zu kümmern, nur um ebenso zu sprechen, wie die übrigen, um ebenso gut unterrichtet zu scheinen, wie die anderen, und ebenso geistreich zu sein, wie jene.

In dem jungen Mann kochte es, während all dieses törichte Geschwätz um seine Ohren schwirrte, und ein wilder Groll überkam ihn, gleich dem einstigen römischen Kaiser, der es bedauerte, daß die Menge vor ihm da nicht einen Kopf habe, um denselben mit einem Hiebe abschlagen zu können.

Er leerte den Becher der Niedrigkeiten und Verleumdungen bis zur Neige, während er den Sarg vom Hause zur Kirche und von hier nach dem Père-Lachaise geleitete. Auf Monate, auf Jahre hinaus sog er sich voll grimmigen Zornes, und dieser Groll war ein um so wilderer, als er sich sagen mußte, daß er vordem gewesen sei wie diese, so leichtfertig geurteilt habe wie diese, und sich nur insofern von diesen Menschen unterschieden habe, als er zu niemandem ein Wort gesprochen und selbst Staatsanwalt Bolvin ihm ein offenes Eingeständnis seines Verdachtes nicht zu entlocken vermocht hatte.

Besonders bemerkbar machte sich ein junger Offizier mit seinen beißenden Bemerkungen. Er folgte dem Sarge zu Fuße und, mit seinen Bekannten plaudernd, äußerte er sich mit verletzender Leichtfertigkeit über Frau von Bertolles.

»Ich bin in Vertretung meiner Familie hier,« sagte er zu einem dicken Herrn, der mit schwerer Mühe den Weg erklomm, der zum Friedhof führte, »erweise aber der Verstorbenen recht gerne diese letzte Ehre. Frau von Montelar war eine wackere, durchaus untadelhafte Dame und die vertraute Freundin meiner Schwiegermutter. Ihre Nichte, Frau von Bertolles, aber wird, denke ich, nach all den Unannehmlichkeiten, die sie sich bereits zugezogen, endlich begreifen, daß sie den Namen, den sie trägt, schon zur Genüge bloßgestellt hat und ihr nichts weiter übrigbleibt, als zu verschwinden und sich in irgendeinem Winkel zu verstecken.«

Benois vermochte dem Dämon, der ihn seit anderthalb Stunden quälte, nicht mehr zu widerstehen. Er tat, als wäre er auf dem vom Regen schlüpfrig gewordenen Pflaster ausgeglitten und versetzte dem jungen Offizier einen heftigen Stoß.

»Können Sie nicht achtgeben?« rief ihm dieser mit einer zornigen Armbewegung zu, indem er weiterging.

Der Trauerzug hatte den Friedhof erreicht, und Benois erkannte, daß er den Moment schlecht gewählt habe. Doch als die Begräbnisfeierlichkeiten zu Ende waren, die Anwesenden sich zu zerstreuen begannen, ergriff Benois den Arm eines Freundes, den er sich schon früher ausersehen hatte, und ging dem jungen Offizier nach. In der Nähe des Friedhofstores ließ er dann seinen Spazierstock zwischen die Füße seines unbekannten Gegners fallen, so daß dieser beinahe auf die Nase gefallen wäre.

»Ungeschickter!« zürnte der junge Mann in Begleitung noch eines gröberen Wortes.

Beider Blicke begegneten sich dabei, und der junge Offizier begriff, daß hier nicht von einer bloßen Ungeschicklichkeit die Rede sei.

»Sie haben mich schon früher gestoßen?« fragte er.

»Jawohl!« erwiderte Benois mit herausforderndem Blick. Nur schwer gelang es dem Offizier, einen nicht gerade schmeichelhaften Ausruf zu unterdrücken. Der Streit war entschieden zwischen den beiden Männern. Kaum eine halbe Minute später hatten sie Karten gewechselt, obschon ihre Freunde, die von der ganzen Sache nichts verstanden, zu vermitteln suchten.

»Hubert d'Aulmoye, Husarenleutnant,« sagte Benois, die Karte lesend. »Na, für den wird die Lektion sehr heilsam sein. Diese Bürschchen sind gar zu jung, und man sollte sie nicht allein lassen.«

»Theodor Benois,« las der junge Leutnant zur selben Zeit. »Wer ist das?«

»Ein tapferer Offizier, der bereits Proben seiner Tapferkeit abgelegt,« sagte jemand, der gerade hinzukam. »Sie haben sich da in eine fatale Affäre gestürzt, mein Freund.«

»Aber was ist denn dem Händelsucher eingefallen?« erwiderte der unbewußte Sünder vollkommen gerechtfertigt. »Er wirft mich beinahe über den Haufen, ich spreche kein Wort; er schleudert mir seinen Stock zwischen die Füße – ich begreife nicht, was ich ihm getan haben mag! Mich verfolgt das Glück, wie es scheint! Ich wohne dem Begräbnisse einer Frau bei, die ich nicht kenne – glaube nicht, daß ich sie dreimal im Leben gesehen! Mein Schwiegervater ist auf dem Lande, ich habe gerade Urlaub, und diese zwei Umstände vereinigen sich, um mir eine solche Angelegenheit auf den Hals zu ziehen. Das ist doch schon zu viel! Kein Wort verstehe ich von der ganzen Sache!«

Es konnte ihn auch niemand darüber aufklären. Man sprach hin und her, schließlich aber mußte man sich doch in bezug auf die Sekundanten einigen.

Ebenso unerklärlich war die Sache dem Freunde, mit welchem Benois Arm in Arm gegangen. Ein solcher Streich war absolut unverständlich von seiten eines Mannes, den ein jeder für einen ernsten Menschen kennt.

»Nun denn,« sagte Benois, um den Ausflüchten ein Ende zu machen, »nehmen wir an, es sei da eine militärische Antipathie im Spiele. Die einzelnen Waffengattungen des Heeres sind mehr oder weniger miteinander verfeindet, und diese Feindseligkeit hat ihren Grund im Wetteifer. Nehmen wir also an, daß ich als ehemaliger Dragoneroffizier ein tödlicher Feind der Husaren bin. All dies wird dir doch wahrscheinlich dünken, wie?«

»Benois,« sagte jetzt der andere, der mit einem Male klar in die Sache zu blicken meinte. »Da ist eine Frau im Spiele!«

»Eine Frau! Was fällt dir ein? Duelliert man sich denn heutzutage einer Frau wegen? Mir gefällt die Physiognomie dieses Bürschchens gar nicht und ich kann dir sagen, daß dies ein genügender Grund ist.«

Die Sekundanten bemühten sich redlich, der Sache einen friedlichen Ausgang zu geben; doch Benois trat nicht zurück, und Aulmoye war zu aufgebracht. Das Duell wurde für den nächsten Morgen angesetzt, noch dazu unter ziemlich milden Bedingungen.

»Mein Gott,« sagte Benois, als er hiervon Kenntnis erhielt, »ich will ja dem Knaben gar nicht ans Leben, sondern möchte ihm am liebsten die Rute geben! Da mir die bestehenden Gesetze dieses Vergnügen indessen nicht gestatten, muß ich ihm einen kleinen Aderlaß applizieren. Er wird ihm nicht schaden, sondern im Gegenteil nur zum Wohle gereichen!«

Er zog seinen Chronometer zu Rate, und als er sah, daß es erst fünf sei, begab er sich zu Estelle, um ihr über den Verlauf des Begräbnisses Bericht zu erstatten.


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