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VI.

Die nach dem heiligen Thomas von Aquino benannte Kirche war zu klein zur Aufnahme der geladenen und nicht geladenen Gäste, die bei den Begräbnisfeierlichkeiten des Rittmeisters v. Bertolles zugegen sein wollten. Der großartige Katafalk, die zahllosen Kränze, die mit grünlicher Flamme brennenden Lampen, die das schmale Kirchenschiff erhellten, wo achtundvierzig Stunden früher Raymond und Estelle einander ewige Treue geschworen, nahmen mehr Raum ein, als das Brautpaar auf dem mit rotem Samt überzogenen Betschemel, und dabei war doch jetzt nur der Bräutigam allein zugegen.

Mit einem wirklich unvergleichlichen Ordnungsgenie hatte Benois von irgendwo einen alten Verwandten herbeigeschafft, der der Familie nahe genug stand, um den Trauerzug anführen zu können, und auch genügend von derselben abgesondert war, um all dies mit Gleichmut mitanzusehen. Dieser vornehm aussehende und nicht übermäßig geistreiche Herr erhielt den Ehrenplatz angewiesen und er benahm sich mit dem ganzen Ernste eines Mannes, den gar nichts mehr zu überraschen vermag, und dessen Vermögensverhältnisse gegen alle Zufälle gesichert sind.

Vor ihm zog die über anderthalbtausend Köpfe zählende Schar der Trauergäste vorüber, die entweder mit gutem Gewissen sagen wollten, sie seien zugegen gewesen, oder die sich mit eigenen Augen Gewißheit darüber verschaffen wollten, daß die junge Witwe, den strengen Anforderungen des Anstandes entsprechend, zu Hause geblieben sei.

Estelle hatte sich dieser Anforderung unterworfen, und trotzdem hatten manche Leute hieran etwas auszusetzen. Seien wir aber gerecht und fügen wir hinzu, daß diese Leute mit ihr noch strenger ins Gericht gegangen wären, wenn sie sich hätte blicken lassen.

»Wahrlich, sie hätte ihren Gatten wenigstens bis zur Kirche begleiten können,« sagte der eine. »Fortan wird ihr ja der Arme ohnehin nicht zur Last sein. Das wäre sie ihm doch schuldig gewesen.«

»Sie hatte nicht den Mut dazu,« meinte ein anderer. »Merkwürdig! Ich an ihrer Stelle –«

Man kann sich gar nicht denken, was die Leute alles tun würden – an der Stelle anderer.

Raymond wurde in der prächtigen Gruft seiner Familie in Pére-Lachaise beigesetzt, und Benois kehrte, als alles zu Ende war, ins Palais Bertolles zurück, um Frau von Montelar Bericht zu erstatten.

Frau von Montelar gehörte zu jenen Frauen, die nach einer traurig verbrachten Jugend lange Zeit ein stilles Glück genießen. Diese ruhigen Jahre verbreiteten einen gewissen milden Schimmer, welcher den restlichen Teil des Lebens erleuchtet und das Greisenalter erträglich macht.

Sie war früh Witwe geworden, war kinderlos und reich und hatte ohne jede Erschütterung ihr vierzigstes Jahr erreicht. Da versenkte sie der tragische Tod ihres Bruders, des Generals Bertolles, in tiefe Trauer, und nur ihre Liebe zu dem kleinen Raymond und die Sorge um seine Erziehung bewahrten sie vor gänzlicher Melancholie. Dann schritt sie ruhig die Treppenstufen des Lehens weiter hinab, ohne daß sie den Fortschritt für zu rasch gefunden hätte, da sie überzeugt war, daß das zärtliche Herz und der kräftige Arm des Mannes, den sie zu ihrem Sohne gemacht, sie bis zu Ende unterstützen würden.

Das Ereignis, in welchem die gesellschaftlichen Kreise nur ein Aergernis erblickten, bedeutete für sie den gänzlichen Zusammenbruch ihres Lebens.

Ihre gesunde und nüchterne Natur verlieh ihr genügende Kraft, um sich aus ihrer Niedergeschlagenheit emporzuraffen. Man verheimlichte ihr die Stunde des Begräbnisses, und als sie, in tiefe Trauer gekleidet, hinübergehen wollte, um an Raymonds Sarg zu beten, gestand ihr Estelle, daß derselbe bereits fortgeschafft worden.

Frau von Montelar, die sich im ersten Augenblick gegen diese Vergewaltigung ihrer Rechte auflehnen wollte, fügte sich schließlich dem sanften Zureden der jungen Witwe, die, sie umarmt haltend, ihr versicherte, daß dies so besser sei.

»Wir wissen ja, wo wir ihn zu finden haben, liebe Tante,« sagte sie; »und dort werden wir den neugierigen Blicken der Leute nicht ausgesetzt sein.«

Nachdem sie ihr über die Einzelheiten der Feierlichkeiten und des Begräbnisses berichtet hatte, verstummte sie, und dieses Schweigen war drückend für alle. Estelle fühlte, daß es Benois lieber wäre, wenn sie nicht zugegen wäre, um Frau von Montelar etwas mitteilen zu können, was er vor ihr verheimlichen wollte.

Sie nahm sich vor, jetzt erst recht zugegen zu bleiben und diese ihr beleidigend dünkende Absonderung unmöglich zu machen.

Seit zwei Tagen legte sich Estelle gar vielerlei Fragen vor. Außer der einen, die übrigen fast in den Hintergrund drängenden Frage, weshalb sich Raymond erschossen, quälten sie noch viele andere Fragen, besonders aber die eine, welche Ursache wohl dem absonderlichen Benehmen zugrunde liegen mochte, welches Benois ihr gegenüber an den Tag legte.

Benois war einer der Letzten gewesen, mit welchen Raymond gesprochen; was mochte ihm der Unglückliche, der damals seinem Tode schon so nahe stand, wohl gesagt haben? Wenn irgend jemand das Geheimnis kennt, so ist das sicherlich Benois. Und bestand kein geheimer Zusammenhang zwischen der Kälte des jungen Mannes und dem plötzlichen Tode ihres Gatten?

Hatte vielleicht Benois seinem Freunde ein furchtbares Geheimnis enthüllt oder Raymond seinem Kameraden etwas mitgeteilt, was bisher geheim geblieben?

Die Worte des Anwalts hatten einen unauslöschlichen Eindruck in der Seele des jungen Mannes zurückgelassen. Und der Gedanke, daß sich Raymond den Tod gegeben, weil man Anklagen gegen seine Gattin erhoben, gewann immer mehr Raum in ihm.

Im übrigen erhellte diese Voraussetzung tatsächlich jeden Punkt, der sonst dunkel geblieben wäre. So hatte der Unglückliche geglaubt? Welche niederschmetternden Beweise waren also in jenem verschwundenen Briefe enthalten, daß Raymond keinen Moment zögerte und sich nicht einmal Zeit nahm, sich von der Wahrheit der Behauptungen zu überzeugen? Welches Geheimnis mag also Estelles scheinbar so einfaches Leben in sich bergen, welchen Charakter dieses unergründliche, schöne Antlitz verhüllen?

Unergründlich? Sie war es niemals und ist es auch in diesem Augenblicke nicht, da sie sich, von unruhiger Neugierde erfüllt, vorneigt, als wollte sie das kalte Antlitz erforschen, hinter welchem Benois seine eigene ängstliche Neugierde zu verbergen suchte.

Indessen war Benois viel zu befangen, als daß er seine Verblendung nicht noch selbst vermehrt hätte, und so wollte er in der Unruhe der jungen Witwe die mahnende Stimme des Gewissens erblicken.

Die Verwirrung, die diese feindselige Haltung in Beiden erweckte, ging auch auf Frau von Montelar über, und um derselben ein Ende zu bereiten, richtete sie die Frage an Benois, die auch auf Estelles Lippen brannte:

»Hörten Sie etwas über unser Unglück sprechen?«

Benois blickte Estelle an, bevor er antwortete. Die junge Witwe errötete nicht, erbleichte nicht, sondern harrte mit geöffneten Lippen und vorgeneigtem Körper der Antwort.

Benois beschloß, die beiden Frauen von der Ursache in Kenntnis zu setzen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach Raymond in den Tod getrieben.

»Man spricht gar vieles,« sagte er, jedes Wort bedächtig erwägend, »und will es unter keinen Umständen glauben, daß es nur ein unglücklicher Zufall gewesen.«

»Also was denkt man über die Sache?« fragte Frau von Montelar, ihr Schnupftuch nervös an die Lippen pressend. »Wir, die wir alles wissen müßten, befinden uns vollkommen im Dunkeln.«

»Nicht so ganz, Madame.«

Die beiden Frauen richteten sich gleichzeitig empor und blickten den jungen Mann an.

»Es ist auf unbezweifelbare Weise nachgewiesen worden, daß Raymond unter anderen einen Brief erhielt, den er wiederholt durchlas, und welcher von entscheidendem Einfluß auf seinen verhängnisvollen Entschluß war.«

»Einen Brief?« fragte Frau von Montelar. »Wo ist derselbe? Was steht darin?«

»Das wissen wir nicht, da der Brief verschwunden ist. Raymond hat denselben sicherlich verbrannt – vielleicht noch andere Schriftstücke auch.«

Er blickte bei diesen Worten Estelle an, die starren Blickes, mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte.

»Ein Brief! Eines Briefes wegen sollte er sich getötet haben? Unmöglich! Der arme Junge muß von Sinnen gewesen sein,« sagte Frau von Montelar.

»Das glauben wir auch,« bestätigte Benois.

»Wen meinen Sie unter wir?«

»Den mit der Untersuchung betrauten Anwalt und mich.«

»So wird eine Untersuchung gepflogen?« fragte die alte Dame erschauernd. »Eine Untersuchung in diesem geachteten und ehrwürdigen Hause?«

»Dieselbe war nicht zu umgehen. Doch seien Sie beruhigt, Madame. Das Geheimnis ist, so gut es ging, bewahrt worden, doch muß die Todesursache erforscht werden, um den Schuldigen, wenn möglich, zu bestrafen.«

»Ja, Sie haben recht, – doch eine Untersuchung – hier! Entsetzlich! Doch wenn es nicht auszuweichen war –«

»Und darum wurde ich verhört?« fragte Estelle in ihrem ernsten, ruhigen Tone.

»So ist es, gnädige Frau. Ein Zeichen deutete daraus hin, daß der Schreiber jenes Briefes in Laval Verbindungen unterhält.«

»Raymond kannte niemanden in jener Stadt,« sagte jetzt Frau von Montelar, die sich von ihrer Erschütterung noch immer nicht erholt hatte. »Gibt es dort keine Garnison?«

»Doch, und werden Nachforschungen jetzt gerade nach dieser Richtung hin fortgesetzt,« sprach Benois, ohne einen Blick von Estelle zu verwenden.

»Welcher Ansicht sind Sie bezüglich dieses Briefes?« fragte die junge Frau. »Denn Sie haben offenbar eine gewisse Vorstellung von seinem Inhalte?«

Der junge Mann zögerte einen Moment: die Kaltblütigkeit dieser Frau erbitterte ihn.

»Wir fürchten,« sagte er endlich, »daß derselbe, gleichviel ob wirkliche oder nur erfundene, Tatsachen enthielt, welche –«

»War es ein anonymer Brief?«

»Schwerlich; sonst hätte Raymond demselben keine Bedeutung beigelegt.«

»Was konnte man ihm geschrieben haben?« rief Frau von Montelar einigermaßen erregt aus. »Auf unserer Familie ruht, gottlob, kein Flecken! Und wenn wenigstens je ein solcher oder nur ein Verdacht auf derselben geruht hätte! Doch nein, wir sind rein wie Hermelin, sowohl von seiten der Bertolles, als auch von seiten der Vernons, – denn die Gattin meines Bruders war eine geborene Vernon. Und auch an den Brunaires ist nichts auszusetzen.«

»Ah! Sie haben auch daran gedacht?« besagte der Blick, welchen Benois auf Frau von Montelar heftete, so klar, daß sie mit einem Male verstummte.

»Mein teures Kind,« sprach sie dann, aufstehend und Estelle in ihre Arme schließend, »daß man wenigstens dich oder die Deinigen nicht zu verdächtigen wagte!«

»Das will ich auch hoffen!« sagte Estelle, ihren Arm um die alte Dame legend und Benois jetzt einen Blick zuwerfend, der einem Backenstreich gleichkam. »Beschuldigt man mich vielleicht, mein Herr, daß ich irgendwelche Schuld an dem Tode meines Gatten trage?«

»Jetzt noch nicht, Madame,« erwiderte Benois, das Dargeliehene zurückerstattend.

»Herr Benois,« sagte Frau von Montelar, »bitte, antworten Sie mir, greift man meine Nichte an?«

»Jetzt noch nicht, Madame, wie ich bereits zu bemerken die Ehre hatte.«

»Aber man wird sie angreifen?«

»Das ist wahrscheinlich. Viele Leute haben bereits Kenntnis davon, daß ein Brief mit im Spiele war, und daß nicht ich es denselben gesagt habe, kann ich mit aller Bestimmtheit versichern. Man will wissen, was der Inhalt jenes Briefes gewesen, und so kommt man gar bald auf verletzende Voraussetzungen.«

Estelle sagte sich: Gestern die Baronin, die meine Freundin war, und heute dieser Mann, den ich nicht kenne.

»Mein Herr,« sagte sie lauten Tones, »habe ich irgendein Unrecht begangen? Habe ich jemanden ohne mein Vorwissen verletzt? Und welches Interesse können denn Leute, die ich gar nicht kenne, daran haben, den Ruf einer Frau zu verunglimpfen?«

»Ich hatte bereits die Ehre, zu bemerken, gnädige Frau, daß ich das nicht weiß. Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, daß ich Sie benachrichtigt habe. Ich dachte, als Freund Raymonds sei dies meine Pflicht, da ich all das ehre und achte, was sich an seine Gattin knüpft.«

»Fürchte nichts, mein Kind,« sagte jetzt Frau v. Montelar. »Wenn man dich angreifen sollte, werde ich dich verteidigen. Dein Unglück ist groß genug, auch wenn es nicht noch durch Verleumdungen vergrößert wird. Niemand wird seine Stimme gegen dich erheben können, wenn man sehen wird, daß ich mit meiner Ehre für die Deinige eintrete. Küsse mich, Estelle, und hebe dein Köpfchen empor. Man wird dich zu verteidigen und im Notfalle auch zu rächen wissen, nicht wahr, Herr Benois?«

Benois verneigte sich schweigend. Estelle blickte ihn einen Moment prüfend an.

Dieser Blick besagte deutlich: Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mein Feind sind?

Und der Blick Benois' erwiderte: Weshalb lag Ihre Photographie, in Stücke zerrissen, in der Kaminasche?

Doch Estelle verstand dies nicht, denn sie besaß von alledem keine Kenntnis.


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