Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Raymond war im Treppenhause stehen geblieben, um der Dienerschaft einige Befehle zu erteilen. Dann aber blickte er mit der Miene des zufriedenen Hausherrn um sich.

Der prächtige Palast hatte die Frische seiner ursprünglichen Farben und den Glanz seiner Vergoldung beibehalten, welchen die zwanzig Jahre währende Ruhe nur gemildert und für das Auge angenehmer gemacht hatte, als er in der ersten Zeit seines Bestehens gewesen.

Die reichen Wandtapeten, welche sich seit mehr denn zweihundert Jahren im Besitze der Familie befanden, flossen in dichten Falten an den Marmorwänden nieder und legten sich sogar in weichen Windungen über die Treppenstufen; das Licht drang von oben durch eine Glaskuppel ein, von deren durchbrochener Säuleneinfassung antikes, mit Gold und Seide durchwirktes Zeug herabhing. Der purpurrote Teppich hob sich scharf von den weißen Fliesen ab; dichte Gruppen von Azalien nahmen die leeren Plätze ein und oberhalb des geschnitzten Treppengeländers neigten sich gleich Triumphbögen die Häupter breitblättriger Palmen zusammen. Unter diesem Baldachin der Freude und der Pracht war Raymond zwei Stunden vorher dahingeschritten, mit seiner ganz in Weiß gekleideten und mit den die Jungfräulichkeit symbolisierenden Blumen reich geschmückten jungen Gattin am Arme. Nur wenige Minuten noch, und wieder werden sie unter demselben dahinschreiten, doch jetzt schon in dem einfachen Reisegewand, und dieser Gedanke beschleunigte das Pochen des Herzens dieses jungen Mannes.

Es war eine segensreiche Stunde gewesen, da er sie in das Stammhaus seines Vaters geführt; doch die Stunde, in welcher er sie als sein ausschließliches Eigentum mit sich nehmen wird, wird eine noch viel tausendmal beglückendere sein.

Mit einer gewissen Hast erteilte Raymond die nötigen Weisungen für die nächsten Tage; sodann rief er seinen Diener Jean zu sich.

»Alles ist bereit,« sprach der selbst in Frack und weißer Binde militärisch aussehende, etwa vierzigjährige Mann. »Ich habe in Ihrem Zimmer ein kleines Feuer angezündet, Herr Rittmeister, weil es dort ein wenig kühler war, als im Salon.«

»Es ist gut, Jean,« erwiderte Raymond zerstreut.

»Die heute eingelaufenen Briefe befinden sich auf dem Schreibtische.«

»Ich danke. Gehe ins Ankleidezimmer und erwarte mich. Ich werde sofort auch dort sein. Verfüge zugleich, daß ich benachrichtigt werde, wenn meine Frau früher als ich fertig sein sollte.«

Und lässig, wie jemand, der eine unangenehme Pflicht erfüllen geht, begab er sich in sein Zimmer.

Er bewohnte dasselbe ohne Unterlaß, seitdem nach dem Tode seines Vaters die verwitwete und kinderlose Frau Montelar zu ihm gezogen war. Während der Ferien, die ihm die Militärschule gegeben, hatte er hier herrliche Nächte verbracht, mitunter bis acht Uhr Morgens in dem mit dunkeln Vorhängen versehenen Bette verweilend, welches sich dort im Alkoven befand.

Es war das ein geräumiges Gemach. Der neben dem Fenster stehende große, schwere Schreibtisch, der mächtige Kamin, in welchem große Holzscheite brannten, verengerten dasselbe in keiner Weise. Oberhalb des Kamins nahm ein lebensgroßes Porträt des Generals Bertolles die Stelle eines Spiegels ein.

Wenn sich Raymond in Paris aufhielt, begrüßte er jeden Morgen, jeden Abend seinen Vater mit seinen Blicken und Gedanken. Das Bildnis seiner blonden, zart aussehenden Mutter hatte sich in seiner Erinnerung nicht zu behaupten vermocht, gleich jenen altmodischen Photographien, welche vom Licht verzehrt werden und bloß in einigen wenigen Linien erhalten bleiben. Seinen Vater aber sah er immerfort vor sich, bald lebend, strotzend vor Kraft und Gesundheit, wie er so stramm auf seinem feurigen Rappen saß, bald tot, mit fahlem Antlitz auf der aus Baumzweigen improvisierten Bahre liegend, links mit der Wunde, die ein so eigentümliches Aussehen hatte, daß man sie ursprünglich nicht einem unglücklichen Zufall, sondern einem Morde zuschreiben wollte.

Und als Raymond jetzt in das Zimmer trat, blickte er wieder auf das Porträt und dachte an die Wunde.

Er hatte seinen Vater heute lebhafter denn je entbehrt. Die beinahe krankhafte Zärtlichkeit, mit welcher er sein Andenken pflegte, hatte ihm die feierliche Zeremonie, welche uns die Anwesenheit unserer Lieben wünschenswerter denn je erscheinen läßt, beinahe zur Qual gemacht.

In der grauen Beleuchtung des Aprilnachmittags erschien ihm das Bild bleicher als früher.

Aber wer sollte seinen Vater ermordet haben? War es etwa der Ausfluß eines Rachewerkes? Er hatte sich ja die Liebe eines jeden zu erwerben gewußt, und im Umkreise von fünf Meilen öffnete sich jede Tür freundschaftlich vor ihm. An jenem verhängnisvollen Tage war er allein auf der Jagd gewesen, da er seinem Jägermeister befohlen hatte, den Hund nach Hause zu führen und statt seiner einen anderen und einen Treiber mit sich zu bringen. Als die beiden Männer anlangten, trafen sie den General tot an, beinahe auf derselben Stelle, auf welcher ihn der Jägermeister verlassen, am Rande eines Pfades, dicht vor einem Graben. – – Das Gewehr mochte sich entladen haben, während der General über den Weg sprang – – Denn wer hätte ihn ermorden sollen und weshalb? – – Gewaltsam verscheuchte Raymond diese quälenden Gedanken und schritt zu seinem Schreibtisch.

Eine große, gutbeleuchtete Photographie Estellens prangte vor der mit Briefen gefüllten Tasche. Voll gewinnenden Vertrauens, ruhig, mit verschlungenen Händen blickte sie auf den jungen Mann.

»Mein teures Weib!« murmelte Raymond, seine Lippen auf das kalte Glas drückend, welches das Bild bedeckte.

Die kalte Berührung wirkte unangenehm auf ihn. Er nahm das Bild aus dem Rahmen und küßte es voll Leidenschaft, wobei sein Herz ebenso erregt pochte, wie vorhin auf dem Treppenflur.

Als er es wieder auf den Schreibtisch legte, erblickte er auf einem Teller eine ganze Menge Visitenkarten, Briefe und Depeschen in allen Farben und Größen.

»Großer Gott,« murmelte er, »das alles soll ich lesen?«

Und um der langweiligen Arbeit zu entgehen, blickte er auf seine Uhr; diese sagte ihm aber, daß er noch genügend Zeit zur Lektüre habe. Es wird also am besten sein, so rasch als möglich über die langweilige Sache hinwegzukommen und sich hernach um so ungestörter der Freiheit zu erfreuen.

Resigniert griff er also nach dem ersten Kuvert, welches in seine Hände geriet, erbrach es und durchlas geduldig, was darin stand.

Die Visitenkarten entfernt lebender Freunde mit einigen sympathischen Worten, andere wieder ohne jedes begleitende Wort, Offerten von Möbelhändlern oder Dienstleuten, die in seine Dienste zu treten wünschten – all dies brach Raymond der Reihe nach auf, durchlas und ordnete es; Schriftstücke, die keiner Antwort bedurften, nach links, andere, die eine Erwiderung erheischten, nach rechts, wie Jemand, der gewöhnt ist, die Dinge rasch und in Ordnung zu erledigen.

In seiner Ungeduld, rascher zu Ende zu kommen, blickte er zweimal sogar auf die Uhr, und da er sah, daß ihm noch genügend Zeit blieb, fuhr er in seiner Arbeit fort, sich gewaltsam zu derselben zwingend, um seine unsinnige Ungeduld und das prickelnde Sehnen zu bemeistern, welches ihn jeden Moment zu übermannen drohte.

Dabei hatte er mit der ganzen Arbeit noch keine zehn Minuten verbracht.

Der Diener trat ein und hielt Umschau, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei.

»Ich komme schon, Jean,« sagte Raymond, ohne sich umzuwenden.

Die Tür schloß sich wieder.

Noch zwei Visitenkarten – – und er war fertig. Er erhob sich. Jetzt erregte ein Brief seine Aufmerksamkeit, der vom Schreibtisch zur Erde gefallen war. Er hob ihn auf und blickte ihn einigermaßen überrascht an.

Es war ein ganz gewöhnlicher Umschlag, die Schrift unordentlich, wie die solcher Leute, die fast niemals schreiben, schief und nach aufwärts strebend.

Die Adresse lautete: »Herrn Raymond de Bertolles, Paris, Lille-Straße, eigenes Palais.«

»Das Aeußere dieses Briefes gefällt mir durchaus nicht, dachte sich Raymond.

Und dennoch glich derselbe äußerlich einigermaßen den schon gelesenen Briefen, welche von den sich um eine Anstellung bewerbenden Dienstleuten herrührten. Er erbrach denselben.

Der Bogen Papier, welchen der Umschlag enthielt, war dicht mit geschriebenen Zeilen bedeckt, die von einer ungeübten, doch sicheren Hand herrührten.

Es war klar, daß sich der Schreiber zuerst ein Konzept gemacht und dieses hernach sorgfältig abgeschrieben hatte. So waren drei Seiten vollbeschrieben. Auf der vierten standen nur mehr einige Zeilen und irgendeine Adresse.

Raymond begann stehend zu lesen.

Nachdem er über die ersten Zeilen hinausgekommen, faßte seine Hand krampfhaft die Lehne des Fauteuils, seine Augen quollen aus ihren Höhlen, sein ganzes Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. Nach kurzem Kampf ließ er sich in den Fauteuil gleiten, legte den Brief vor sich auf den Tisch hin, da seine Hand zitterte, und begann von vorne zu lesen, jedes Wort bedachtsam berücksichtigend.

Die Zeilen tanzten vor seinen Augen. Er mußte die eine Hand auf das Papier pressen und mit dem Zeigefinger der anderen die Zeilen verfolgen, um sie nicht miteinander zu verwechseln.

So durchlas er den Brief zweimal; sodann warf er sich zurück und begann nachzudenken.

Es mochten fürchterliche Gedanken sein, die ihn heimsuchten, denn der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen auf die Stirne, ohne daß er daran gedacht hätte, dieselben abzutrocknen.

Er fühlte einen Druck auf der Brust. Er sprang auf, öffnete ein Fenster, atmete die frische Luft mit aller Kraft ein und setzte sich wieder vor den Brief nieder.

Zu wiederholten Malen suchte er sich einen einzelnen Satz zwischen den Zeilen aus, ein einzelnes Wort, um es nochmals zu lesen, und versank dann wieder in ein tiefes Sinnen.

Inzwischen klapperte Jean im Nebenzimmer vernehmbar mit dem Waschgeschirr, um die Aufmerksamkeit seines Gebieters zu erregen; einmal steckte er den Kopf sogar zur Türe hinein, die er lautlos geöffnet hatte, doch erschrak er bei dem Anblick seines Gebieters in solcher Weise, daß er kein Wort zu sprechen wagte und sich, von größter Angst erfaßt, zurückzog.

Raymond dachte immer noch nach. Wiederholt führte er eine hastige Bewegung aus, wie jemand, der die Lösung zu einer Aufgabe gefunden, dann aber blickte er wieder in das vor ihm liegende Schriftstück und versank von neuem in seine frühere Niedergeschlagenheit.

»Sollte ich nicht Benois zu Rate ziehen?« fragte er sich.

Es wurde ihm indessen sofort klar, daß er das Gelesene niemand anderem offenbaren dürfe und er verharrte regungslos.

Sein Chronometer hub an zu schlagen; er blickte hin, es war halb sechs Uhr.

Er durfte keinen Augenblick länger zögern, wenn er den Zug nicht versäumen wollte.

Taumelnd erhob er sich. Auch die militärische Entschlossenheit hatte ihn vollkommen verlassen und Rittmeister Bertolles war nichts weiter, als ein gewöhnlicher armer Mann, der von einem Schlage betroffen worden, welcher ihn völlig zu Boden schmetterte.

»Herr Rittmeister,« ließ sich Jean schüchtern vernehmen, indem er den Kopf zur Tür hineinsteckte.

»Laß mich in Frieden!« schrie ihn Raymond erstickten Tones an.

Sein Blick fiel neuerdings auf den Brief.

Er ergriff ihn, zerknüllte und warf ihn ins Feuer, wo er sofort von den Flammen erfaßt wurde. Die verkohlten Papierfetzen flogen vereinzelt und funkensprühend in den Schlot hinauf.

Taumelnd, gleichsam berauscht, sah Raymond all dies mit an.

Jetzt vernahm man das Rauschen eines seidenen Kleides vor der Tür auf dem Korridor draußen. Und gleich darauf die Stimme Estellens.

»Und ich fürchtete noch, daß ich nicht rechtzeitig fertig werden würde!« sprach sie lachend.

»Raymond!« sagte Frau Montelar, an der Tür pochend; »du versäumst den Zug.«

»Lassen Sie ihn, Tante; das wäre ja köstlich!« gab Estelle heiteren Tones zurück.

»Ich komme schon!« rief Raymond mit starker Stimme hinaus. »Noch fünf Minuten –«

Dabei schloß er das Fenster.

Lachend entfernten sich die beiden Frauen.

Raymond hatte seine gewohnte Haltung wiedererlangt. Hoch aufgerichtet stand er da wie im Schlachtenfeuer. Voll leidenschaftlicher Hast erfaßte er Estellens Photographie und drückte sie an seine Lippen. Doch kaum berührte dieselbe seinen Mund, als er sie, von Entsetzen erfaßt, wieder zurückriß.

Sodann versenkte er seinen Blick in den des Bildes, als richte er ein stummes Flehen an dasselbe – – und unter der Wirkung des von dem Bilde ausgehenden Zaubers wollte er es abermals küssen; doch raffte er gewaltsam all seinen Mut zusammen und den harten Karton in kleine Stücke zerreißend, warf er dieselben gleichfalls in den Kamin, wo die einzelnen Stücke auseinander flogen, ohne daß er dieselben beachtet hätte.

Jetzt öffnete er einen Schrank und entnahm demselben seine sich in ihrem Etui befindlichen Militärpistolen, die er einer sorgsamen Prüfung unterzog. Sie waren in Ordnung, zum Gebrauch fertig. Er nahm eine heraus, ließ den Hahn hinunter, zog ihn wieder auf und den Schaft fest umspannend, schritt er zu dem Bilde des Generals hin.

Ruhig öffnete er seine Kleider auf der Brust, während sein Blick auf dem Porträt seines Vaters haftete.

Lange betrachtete er dasselbe so, schmerzlichen, zärtlichen Blickes – – Was mochte er ihm wohl während dieser stummen Betrachtung sagen?

War es ein stilles Flehen oder nur ein Ausfluß der Sohnesliebe, die an Wahnsinn grenzte?

In dem Moment, da sich seine fieberhaft brennenden Augen mit Tränen füllten, preßte er die Mündung des Pistolenlaufs auf die Herzgegend und in der nächsten Sekunde brach er tot zusammen, die rauchende Waffe in der Hand.


 << zurück weiter >>