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XXI.

Estelle öffnete die Türe des hohen, düsteren Gemaches, in welchem Raymond den Tod gesucht. Es war keinerlei Veränderung in demselben vorgenommen worden; auf den polierten Eichenholzmöbeln war kein Stäubchen zu erblicken, in den Armleuchtern steckten die Kerzen und auf dem Schreibtische befanden sich die gewohnten Kleinigkeiten an ihren gewöhnlichen Plätzen.

Gepreßten Herzens trat Benois in das Trauergemach. Es schien ihm, als schwebte der Schatten seines Freundes dort im Dunkel der Ecke. Estelle machte einige Schritte nach dem Kamin und blieb an einer Stelle stehen, wo auf dem Fußboden die Spuren eines dort angelegten Hobeleisens sichtbar waren.

»Hier habe ich mein Kleid blutig gemacht,« sprach sie leisen Tones. »Das Blut blieb für alle Zeiten an mir haften, und Gott allein weiß, wie gerne ich mein Herzblut hingegeben hätte –«

Sie vollendete nicht.

Ihre Erregung unterdrückend, schritt sie einem Schranke zu, nahm einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete den Schrank und entnahm demselben noch zwei oder drei Schlüssel, die sie Benois überreichte.

»Tun Sie Ihre Pflicht, Herr Benois,« sprach sie dabei. »In diesem Schranke und dem Schreibtisch werden Sie, denke ich, alles finden, was Ihnen Aufklärung zu bieten vermag. Ich danke Ihnen im vorhinein für Ihre Mühe und werde Sie oben im Salon erwarten.«

»Sie lassen mich allein?« fragte Benois verwirrt, während er die Schlüssel an sich nahm. »Ihre Gegenwart würde sich doch durchaus rechtfertigen –«

Estelle blickte ihn ruhig, durchdringend an.

»In der Lage, in welcher wir uns befinden, Herr Benois,« sagte sie, »sind wir über die althergebrachten Regeln des Anstandes weit hinaus; auf die können wir uns ja doch nicht berufen. Bedenken Sie einmal! Sie, der Freund des Verstorbenen, sind mit mir, der Frau des Verstorbenen, hierhergekommen, um in seiner Vergangenheit ein Fehl, eine Schwäche zu entdecken, die es mir ermöglichen sollte, mich in den Augen der Menschen von der Beschuldigung, als hätte ich ein Verbrechen begangen, zu rechtfertigen! Und Gott ist doch mein Zeuge, daß ich Raymonds Andenken ebenso in Ehren halte, wie Sie!«

Und traurig schritt sie der Türe zu.

»Pardon, gnädige Frau,« sagte Benois im nächsten Augenblick, »ich kann das Schreibtischfach nicht aufschließen, der Schlüssel dreht sich nicht.«

Estelle kam zurück, bückte sich und nach einiger Anstrengung gelang es ihr, den Schlüssel in dem Schlosse umzudrehen. Das Fach ging auf und ließ im Arrangement der Papiere und sonstigen Gegenstände die große Ordnungsliebe erkennen, welche Raymond während seines ganzen Lebens charakterisiert hatte.

Als sich Estelle seufzend emporrichtete, fiel ihr Blick auf den silbernen Rahmen, in welchem einst ihr Bild enthalten war. Auch jetzt stand er an seinem gewohnten Ort – doch leer. Der Kammerdiener Jean hatte, als er das Palais verließ, um auf dem Landgute Bertolles die Stelle eines Waldhegers anzutreten, jedes Stückchen an Ort und Stelle untergebracht und seinem Nachfolger im Dienste die strengsten Weisungen erteilt.

Beinahe entsetzt wich Estelle zurück.

»Meine Photographie!« sprach sie gänzlich veränderten Sinnes. »Wer hat meine Photographie weggenommen?«

Benois antwortete nicht. Die halb verbrannten Stücke der zerrissenen Photographie, die er schon längst vergessen, kamen ihm wieder in den Sinn, und er erbebte unter dem eine Sekunde währenden Gedanken, daß er sich vielleicht doch getäuscht habe und Estelle möglicherweise doch nicht ganz unschuldig sei.

All dies hatte aber bloß die Dauer einer Sekunde.

»Raymond hatte mein Bild auf seinem Schreibtische stehen. Er sagte es mir oft genug. Gemeinsam suchten wir diesen Rahmen in einem Laden aus, wo wir Schmuckgegenstände kauften. Ich selbst gab ihm denselben. – Wer nahm mein Bild aus dem Rahmen?«

Mit vor Angst weitgeöffneten Augen blickte sie Benois an. Der junge Mann fühlte, daß er unmöglich länger schweigen könne.

»Raymond,« sagte er, »hat es vor seinem Tode vernichtet, und ich fand einige Stücke desselben im Kamin.«

»Herr Benois,« sprach Estelle erstickten Tones, während sie ihn flehenden Blickes anschaute, »das kann nicht sein!«

»Und doch ist es so!« erwiderte Benois, der eine düstere Bewegung empfand, als hätte er ein Todesurteil gefällt.

Estelle preßte die eiskalten Hände an die Schläfen.

»Mein Gott!« sagte sie beinahe atemlos, »was konnte ihm hinterbracht worden sein? Welche Niederträchtigkeit hatte seinen Geist derart verwirren können, daß er mich – mich in solcher Weise verletzte? Oh!«

Und taumelnd mußte sie sich an den Schreibtisch lehnen. Benois streckte die Hand aus, um sie zu stützen; doch wagte er sie nicht zu berühren. Estelle heftete die großen schwarzen Augen auf ihn, die einen entsetzensvollen Ausdruck hatten.

»Sagen Sie mir, ich bitte Sie darum, was konnte man ihm geschrieben haben? Was dachten Sie sich, seitdem Sie nicht mehr glauben, daß ich – –«

Benois unterbrach sie. Er fühlte eine schmerzliche Ergriffenheit sich seines ganzen Wesens bemächtigen, als er diese Frau so einfach, ohne Zorn und ohne Rachsucht über die Schmach sprechen hörte, welche der Verstorbene über sie gebracht.

»Gnädige Frau,« sprach er festen Tones, »seitdem mir die Augen geöffnet worden, bin ich überzeugt, daß mein armer Freund seinen Verstand verloren, sonst hätte er Ihnen einen solchen Schmerz und so viel Leiden unmöglich zufügen können. Nur ein plötzlicher Wahnsinnsanfall vermag das, was er getan, zu erklären und zu entschuldigen.«

Estelle hatte sich ein wenig erholt. Jetzt fiel ihr Blick auf das halb offen stehende Fach.

»Armer Raymond!« sprach sie plötzlich beruhigt und durch die soeben vernommenen Worte gleichsam getröstet. »Vielleicht gab es ein Geheimnis in seinem Leben. Forschen Sie nach demselben, Herr Benois. Wer weiß, ob wir den Armen nicht erst recht werden beweinen müssen, wenn wir die Wahrheit kennen werden!«

Und hoheitsvoll mit dem Kopfe grüßend, schritt sie hinaus, die Tür geräuschlos hinter sich zuziehend.

Benois blickte ihr nach und dabei trat ein zitternder Seufzer über seine Lippen. Das düstere Sterbezimmer erschien ihm jetzt finsterer, nachdem die schwarz gekleidete Gestalt das Licht aus demselben mit sich genommen.

Mit zusammengebissenen Zähnen, mit einer gewissen zornigen Entschlossenheit und Hartnäckigkeit untersuchte der junge Mann ein Schriftbündel nach dem anderen, ein Fach nach dem anderen. Er besichtigte den unbedeutendsten Briefumschlag, die kleinste Schachtel, noch dazu mit bedeutend größerer Aufmerksamkeit, als Staatsanwalt Bolvin seinerzeit.

Das ganze Leben seines unglücklichen Freundes zog an ihm vorüber, während er, jeder Individualität bar, bloß den Richter in sich fühlte.

Es dämmerte. Benois zündete eine Kerze an und fuhr in seiner Arbeit fort. Endlich, nachdem er sich überzeugt, daß seiner Aufmerksamkeit nichts entgangen war, verschloß er die Türen und Schubfächer sorgfältig, nicht ohne vorher alles wieder in dieselbe Ordnung wie früher gebracht zu haben. Den Armleuchter stellte er auch auf den Kamin zurück, woher er ihn genommen.

Jetzt fiel sein Blick auf das Porträt des Generals Bertolles, welches jetzt hell beleuchtet war. Kaum vermochte er das Auge davon abzuwenden.

Wohl hundertmal hatte er dieses Bild bereits gesehen, ohne sonderliches Interesse für dasselbe empfunden zu haben. In diesem Moment aber schien das Porträt eine eigentümliche Anziehungskraft auf ihn auszuüben, gleich einem Geheimnis, welches auf seine Enthüllung wartete.

Raymond hatte seinen letzten Blick wahrscheinlich diesem Bilde, dem Porträt seines Vaters, zugewendet, da man ihn vor demselben tot aufgefunden hatte. Was wohl dieser in den Tod gehende Mann, der sich selbst zum Tode verurteilt hatte, dem Bilde gesagt haben mochte? Hatten seine Lippen einen Vorwurf oder eine Bitte um Verzeihung geäußert, bevor sie sich für immer geschlossen? Weiß dieses Bild, weshalb sich Raymond den Tod gegeben? Könnte es neben Estellens Unschuld zeugen?

Jetzt handelte es sich nicht mehr darum, den Tod des Gatten zu rächen, sondern darum, die Ehre der Gattin vor der Schmach und Schande zu bewahren.

Wieder nahm Benois den Armleuchter zur Hand und trat einige Schritte zurück, um das Bild besser betrachten zu können.

Ein sonderbarer Instinkt, besser gesagt Zauber, zwang ihn, unablässig jene Sanftmut und Willenskraft zugleich ausdrückenden schwarzen Augen, jene männlich ernsten und der Milde nicht entbehrenden Gesichtszüge zu betrachten. Raymonds Augen und Haare waren denen des Generals nicht ähnlich gewesen, und dennoch hatte er ihm ähnlich gesehen. Benois' Aufmerksamkeit fesselte indessen gar nicht die zwischen Vater und Sohn obwaltende Aehnlichkeit, sondern etwas anderes, was er sich nicht zu erklären vermochte.

Gleich dem Sohne war auch der Vater in der Blüte seiner Jahre durch einen gewaltsamen Tod dahingerafft worden und niemand wußte, welche Hand seinen Tod herbeigeführt.

»Dieser Mann muß unwiderstehlich gewesen sein,« sagte sich Benois, als er den Leuchter wieder an seinen Platz zurückstellte. »Dieses Porträt besitzt eine Anziehungskraft, wie ich eine ähnliche bei einem anderen Bilde noch niemals wahrgenommen. Früher übte aber auch dieses Bild nicht dieselbe Wirkung aus auf mich, und erst jetzt verstehe ich, was Frau v. Montelar sagen wollte, als sie behauptete, daß ihn jedermann angebetet habe. Besonders die Augen –«

Jene Augen verfolgten den jungen Mann noch lange bei der Arbeit und in seinen Gedanken. Jene schwarzen, tiefen und milden Augen, aus welchen Sanftmut und Seelenstärke strahlte.

Er verließ das Zimmer mit einem beinahe abergläubischen Empfinden und begab in das Stockwerk zu Estelle hinauf.

Diese erwartete ihn anscheinend ruhig, in Wahrheit aber von Befürchtungen aller Art gepeinigt. Als sie ihn erblickte, machte sie unwillkürlich eine Bewegung, welche einer Frage gleichkam.

»Nichts, absolut nichts,« sagte Benois.

Estelle bezeugte keinerlei Ueberraschung; ihr schönes Gesicht aber drückte Zagen und Bangen aus.

»Sie haben eine sehr peinliche Aufgabe vollbracht,« sagte sie jetzt, »ich vermag Ihnen gar nicht genug für dieselbe zu danken. Nun muß wohl jede Hoffnung aufgegeben werden?«

»Das ist noch nicht so sicher,« erwiderte Benois nachdenklich. »Ist Ihnen das Leben des Generals Bertolles bekannt?«

»Nur sehr wenig. Ich weiß nur soviel, daß Raymond mit leidenschaftlicher Liebe an seinem Andenken hing und ihn sehr früh verlor.«

»Lassen Sie sich von Ihrer Tante alles erzählen, was sie von ihrem verstorbenen Bruder weiß; so werden wir vielleicht irgendwelche Spuren zu finden vermögen.«

Benois war aufrecht stehen geblieben, jeden Augenblick bereit, sich zu entfernen. Estelle trat näher zu ihm, um leiseren Tones sprechen zu können.

»Meine Photographie,« sprach sie, »meine arme Photographie. Es berührte mich so schmerzlich, daß ich es Ihnen gar nicht sagen kann. Seit der Katastrophe war ich noch nicht in dem Zimmer; nicht etwa, als ob ich mich gefürchtet; ich kenne dieses kindische Gefühl nicht. Doch weiß ich selbst nicht, was mich zurückgehalten hat. Sie glauben also, daß mich Raymond verfluchte, als er starb?«

»Nein,« erwiderte Benois, »das kann ich nicht glauben. Er kannte Sie, er wußte Sie zu schätzen, und Minuten können keinen solchen Umschlag in den Ansichten eines Menschen herbeiführen.«

»Und dennoch zerriß er mein Bild, warf es ins Feuer.«

»Er tat es vielleicht nur, damit es nach ihm von niemandem berührt werden könne,« warf Benois auf gut Glück ein.

Diese Erklärung war nicht gerade befriedigend, beruhigte Estelle aber dennoch einigermaßen, zumal sie in diesem Augenblick, von dem langen Warten ganz gebrochen, leichter zu überzeugen war.

Sie reichte dem ehemaligen Gegner, der nunmehr ihr Anhänger geworden, die Hand und entließ ihn schweigend. Sie hätte Lust gehabt, gleichfalls Raymonds Papiere zu besichtigen, bevor sie zu ihrer Tante ging. Doch wozu? Hatte nicht schon Benois alles eingehend untersucht? Das Vertrauen, welches Estelle jetzt dem früheren Feinde entgegenbrachte, war ebenso tief als unerklärlich und sie beschloß, sich mit allem zufrieden zu geben, was er tat.

Benois war von der anstrengenden Arbeit des Suchens ganz erschöpft. Während er die kalte, feuchte Straßenluft einatmete, tönte bald Raymonds, bald Estellens Stimme an sein Ohr, und die Augen des Generals Bertolles verfolgten ihn so hartnäckig, daß er zweimal dieselben Augen in dem Gesicht fremder Leute, die ihm entgegenkamen, zu erblicken meinte.

Schließlich erschrak er vor sich selbst.

»Wenn das länger noch so weiter geht,« sagte er sich, »so muß ich glauben, daß in meinem Gehirnkasten auch eine Schraube los ist.«


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