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XXXIV.

Als sie eintraten, blickte Rosalie empor und erstarrte fast zu Stein, als sie Estelle erblickte.

Sie wollte sich erheben, vermochte es aber nicht. Ihr Auge heftete sich mit fast erschreckender Starrheit auf die junge Frau.

»Rosalie, sprach Estelle, die tief bewegt war, als sie die einzige Person, die, ob gut oder schlecht, in ihren Kinderjahren einigermaßen für sie Sorge getragen, in diesem Zustande sah.

»Sehen Sie sie an,« wandte sich die Kranke zu Benois, während sie den Arm nach Estelle ausstreckte, »sehen Sie sie an: sie ist das leibhaftige Ebenbild ihres Vaters!«

Benois schickte die Nachbarin aus dem Zimmer und verschloß die Tür hinter ihr.

»Wozu ließen Sie mich rufen?« fragte er sodann.

»Ich kenne den Herrn nicht,« erwiderte Rosalie, »und hatte unrecht, den Brief ausgeliefert zu haben. Geben Sie ihn mir zurück.«

Schweigend entnahm Estelle dem kleinen Gebetbuche den Brief, welchen sie dort neben dem Bilde und dem Umschlag verwahrt hatte, und reichte ihn ihrer ehemaligen Wärterin, die denselben jetzt in kleine Stücke zerriß.

»Nun existiert keine Spur des Familiengeheimnisses mehr,« sagte sie. »So ist es auch besser. Ich weiß gar nicht, weshalb ich das Papier so lange verwahrte. Wenn mich das Leid zu sehr quälte, las ich es von neuem durch, und dann erkannte ich immer wieder, daß ich recht getan. Ei, mein Heiligenbildchen ist noch in dem Buche? Das haben Sie verwahrt? Sie haben mich nicht vergessen? Sagen Sie, wer ist dieser Herr?«

»Ich war der Freund des jungen Bertolles und bin der Verlobte Estelles,« erwiderte Benois ernst.

Rosalie blickte von einem zum andern und sagte:

»Dann dürft Ihr keinerlei Geheimnisse voreinander haben. So ist's gut, wie es ist,« fügte sie, erleichtert aufatmend, hinzu.

»Rosalie,« sprach jetzt Estelle, »weshalb haben Sie so spät geschrieben? Einen Tag früher wäre so viel Unglück vermieden worden!«

»Es ist nicht meine Schuld!« rief Rosalie heftig aus, »ich konnte nicht anders! Ich wohnte in Vitré bei meiner Tante, als ich in einer Zeitung, die mir zufällig in die Hände geriet, die Nachricht von Ihrer Verlobung las. Ich sah gar nicht nach, von welchem Tage die Zeitung war und wann die Vermählung stattfinden sollte, ich wußte bloß, daß diese Heirat nicht vollzogen werden dürfe, da dieselbe eine furchtbare Sünde bedeute. Ich verfaßte sofort den Brief und schickte ihn mit meinem Vetter nach Laval auf die Post. Ich wollte mich von Herrn von Bertolles nicht mit Fragen quälen lassen, sondern nur meine Pflicht getan haben, um fortan ruhig leben zu können. O, mein Gott, ruhig! Keinen Tag, keine Stunde war ich seither ruhig. Ich wußte nicht, daß er den Brief erst erhalten werde, nachdem er bereits geheiratet! Ich wollte ja nur dies verhindern! Konnte ich denn daran denken, daß der Unselige Hand an sich legen werde?

»Woher wußten Sie seine Adresse?« fragte Benois.

Rosalie blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Ich habe seinerzeit gar viele Briefe, die an seinen Vater, den General Bertolles, gerichtet waren, zur Post gegeben. O, denn auch ich trage Mitschuld an der Sünde. Doch ich war jung, verstand es nicht besser und liebte meine arme Gebieterin! Ich glaube, daß ich auch dafür gebüßt habe. Als ich dann zwei Tage später in der Zeitung las – denn nachdem ich meinen Brief geschrieben, kaufte ich mir jeden Tag die Zeitung, um zu erfahren, was geschehen sei! – und als ich erfuhr, daß sich der arme Mensch erschossen habe, da glaubte ich, wahnsinnig werden zu müssen.«

Sie machte eine verzweifelte Bewegung mit ihren Armen und ließ sie dann schlaff sinken.

»Seither vermochte ich keine Nacht zu schlafen. Sobald die Sonne unterging, fingen die Qualen an. Ich sagte mir, ich trüge die Schuld an allem! Dann aber erwiderte ich mir: ich mußte es ihm ja doch mitteilen, da es ja nicht erlaubt sei, ein derartiges Sakrilegium zu begehen. Und derart kämpfte ich so lange mit mir, bis mir der Kopf wie Feuer brannte. Ich dachte mir, daß, wenn ich stürbe, ich eine Todsünde mit mir nehmen würde, und dann müßte ich stracks in die –«

Ihr Gesicht verzerrte sich in der entsetzlichen Furcht vor der Hölle, die die Qual ihres ganzen Lebens gewesen.

»Nur in der Kirche fühlte ich mich wohl; dort fühlte ich meinen Mut wiederkehren. Ich legte Gelübde ab und trat Wallfahrten an. Doch des Nachts werden die Kirchen geschlossen, und des Nachts begannen meine Qualen von neuem! Eines Abends erblickte ich dann in Contances Estelle in Trauer. Es war mir, als hätte man mir ein Messer ins Herz gestoßen!«

»Es erschien mir so unmöglich,« fuhr Rosalie fort, »daß sie ihren Bruder geheiratet habe, daß ich es mir gar nicht vorzustellen vermochte. Als ich sie aber in Trauerkleidern sah, wußte ich doch, daß sie Witwe sei. Und dies schmerzte mich, daß ich es gar nicht zu sagen vermag. Grämten Sie sich um ihn?« füge sie, zu Estelle gewendet, strengen Tones hinzu.

»Ich liebte Raymond wie meinen Bruder und habe ihn auch beweint,« erwiderte Estelle.

»Wie Ihren Bruder?« fragte Rosalie und wendete ihr das verklärte Antlitz zu. »Nur wie Ihren Bruder? Und er erschoß sich unmittelbar nach der Trauung? Der gute Gott erbarmte sich also doch einigermaßen meiner!«

»Rosalie,« sprach Estelle nach einer Pause, »ich wurde eines Verbrechens angeklagt; man sagte, ich hätte Raymond getötet, und das haben Sie verschuldet!«

»Ach, verzeihen Sie mir!« stammelte Rosalie gebrochenen Tones. »Verzeihen Sie mir, damit ich endlich schlafen, Ruhe finden kann. Außer Ihnen kann mir niemand mehr hienieden verzeihen, und ich bedarf der Verzeihung, sonst muß ich wahnsinnig werden! Dieser Herr, Ihr Verlobter, hat es durchblicken lassen, daß ich den lieben Gott betrügen wollte, und ich habe doch nie im Leben gelogen! Dem beichtenden Priester hatte ich nicht gesagt, daß Herr von Bertolles einen Selbstmord begangen. Ich dachte mir, daß das in keinerlei Zusammenhang mit der Sache stehe. Ich hatte eine Sünde vereiteln wollen und daran recht getan. Dies sagte auch mein Beichtvater, als er mich fragte, ob die Heirat stattgefunden. Ich sagte ihm, ich wisse es nicht. Es war eine furchtbare Lüge; doch ich wollte nicht, daß mir jemand sagen könne, ich hätte den Tod des Herrn von Bertolles verschuldet. Nein; dies vermochte ich nicht zu ertragen, und darum nannte ich auch niemals seinen Namen. Nun aber sehe ich, daß gerade dies mein Tod ist. Der Verstorbene kann nicht mehr sprechen, und von der ganzen Familie sind nur Sie noch am Leben. Sagen Sie mir, daß Sie mir den Tod Ihres Bruders verzeihen, und ich werde Ihnen Glauben schenken.«

Tränen des Erbarmens traten Estelle ins Auge. Weshalb sollte sie dieser unglücklichen Person zürnen?

Das verzeihende Wort, welches sie spräche, wird vielleicht das Verhängnis bannen, das über ihre ganze Familie hereingebrochen.

»Rosalie,« sprach sie, sich über sie neigend und die Hand auf ihre Schulter legend, »im Namen der Toten verzeihe ich Ihnen.«

Die Unglückliche wollte sich erheben, hatte aber nicht die Kraft dazu. Sie vermochte sogar kaum Atem zu holen.

»Ich danke Ihnen,« flüsterte sie. »Jetzt werde ich schlafen können.«

Sie schloß die Augen, wie jemand, der in seinem Innern liest.

Nach einer Weile hub sie wieder an zu sprechen.

»Nun werde ich dem Priester alles beichten. Ich kann ihm jetzt auch sagen, daß Sie mir geholfen haben. Dies wird meine Beichte erleichtern. Ich danke Ihnen.«

»Benötigen Sie etwas?« fragte Estelle. »Haben Sie genügend Geld für Ihre täglichen Ausgaben?«

»Meine arme, gute Gebieterin hinterließ mir eine Jahresrente,« erwiderte Rosalie. »Ich benötige nichts als die Ruhe des Gewissens. Ich freue mich, daß ich Sie sehen konnte. Sie werden die Gattin dieses Herrn? Er scheint ein guter Mensch zu sein. Und vorhin erschreckte er mich furchtbar. Ich hatte solche Angst vor ihm.«

Sie erschauerte und wandte den Kopf zur Seite.

»In meinem Schrecken gab ich ihm das Papier hin. Sehen Sie, Estelle, über alles andere bin ich vollkommen beruhigt. Auf meinem Gewissen lastet keinerlei Schuld. Ich habe nicht gestohlen, war weder hochmütig noch rachsüchtig. Aber zur Lüge wurde ich gedrängt. Aus eigenem Antriebe wäre niemals eine Lüge über meine Lippen getreten, und meiner armen, guten Gebieterin zuliebe – Ich fürchtete nichts so sehr wie die Lüge, und dennoch habe ich den lieben Gott belogen. Als mir dann dieser Herr sagte, ich sei eine Lügnerin, verlor ich den Kopf. Ich geriet in Wut. Doch nun ist's ja vorüber, und der liebe Gott wird mir verzeihen, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Estelle gerührt. »Er wird verzeihen, denn Sie handelten in gutem Glauben, selbst als ich noch ein kleines Kind war. Leben Sie wohl, Rosalie, Gott beschütze Sie!«

Sie verließen das Haus.

Die reine Luft, die ihnen entgegenschlug, berührte sie wohltuend, als wären sie lange Zeit in einem feuchten, finsteren Keller eingeschlossen gewesen.

Instinktiv geleitete Benois seine Verlobte nach der einsamen Bastei, wo sie sich gemeinsam auf der Bank niederließen, wo er den Brief gelesen.

»Was willst du jetzt tun?« fragte er Estelle.

Gedankenvoll blickte Estelle in die Ferne.

»Ich möchte nach Paris zurückkehren und Raymonds Grab besuchen,« erwiderte Estelle. »Es dünkt mich, als könnte ich gar nicht genug Tränen für den Unglücklichen vergießen. Das Herz bricht mir, wenn ich mir seine letzten Augenblicke vergegenwärtige.«

»Er lebte glücklich,« bemerkte Benois melancholisch.

Estelle erwiderte nichts, und Benois sah sie unter ihrem Schleier weinen.

»Weine nur, Geliebte,« sprach er zärtlich. »Dies sind rechtschaffene, echt schwesterliche Tränen, die dir zur Ehre gereichen.«

Estelle begriff, daß ihr Verlobter nicht mehr eifersüchtig sei.

»Und was gedenkst du zu tun?« fragte sie, ihren Schmerz bekämpfend.

»Ich begleite dich nach Paris zurück und dann reise ich nach Hause zu meiner Mutter.«

Estelle blickte ihn fragend an.

»Und wohin gehst du?« fragte Benois wieder.

»Ich? Ich weiß es nicht. Vor Saumeray habe ich Furcht. Ich würde dort zu viele Erinnerungen aus meiner Kindheit antreffen, und diese sind es besonders, die ich vergessen will. Und das Haus Bertolles erfüllt mich mit Entsetzen. Ich habe kein Heim mehr. Ich werde einiger Tage bedürfen, um mich irgendwo niederzulassen. Noch eines muß ich dich bitten. Ich möchte gerne ein gemeinnütziges Institut, etwa ein Krankenhaus oder noch lieber ein Asyl für solche gründen, die niemand haben. Hierzu würde ich das Vermögen der Familie Bertolles verwenden, um das Andenken Raymonds zu verewigen. Schon lange habe ich hierüber nachgedacht; jetzt aber steht mein Entschluß fest. Mir bleibt das Vermögen meiner Mutter, – das einzige, an welches ich ein Anrecht habe.«

»Es soll geschehen,« erwiderte Benois. »Nur gönne mir so viel Zeit, um meine Mutter zu besuchen und mit ihr sprechen zu können.«

Estelle ließ den Kopf sinken.

»Du hast recht,« sagte sie. »Deine Mutter möchte mich nicht zur Tochter haben, wenn sie die Wahrheit kennen würde, und dennoch –«

»Meine Mutter besitzt ein gütiges, wohlwollendes Herz,« lautete die Antwort Benois', »und ich vertraue ihrer Gerechtigkeitsliebe. Doch ob sie nun einwilligt oder nicht, – ich habe dir gesagt, Estelle, daß du meine Gattin wirst.«

Eine Stunde später befanden sie sich auf der Rückfahrt nach Paris.


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