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XII.

Gegen Ende August begann Frau von Montelar der Einsamkeit überdrüssig zu werden. Für eine Frau wie sie, die in so lebhaftem Verkehr mit der Gesellschaft stand, war eine derartige vier Monate währende Verbannung – auf dem Lande, in Gemeinschaft mit einer Witwe! – in der Tat bereits genügend.

Während dieser langen Vereinsamung ward ihr reichlich Gelegenheit geboten, die trefflichen Eigenschaften der jungen Frau kennen zu lernen; zu gleicher Zeit gewahrte sie aber auch, daß sie jene weltlichen Anlagen nur spärlich besitze, welche sozusagen die Erfordernisse des gesellschaftlichen Lebens bilden.

Wiederholt hörte sie Frau von Montelar in ihrer einfachen Weise mit einer gewissen Geringschätzung über jene gesellschaftlichen Genüsse oder Verpflichtungen sprechen, die man doch ihrem wahren Werte nach schätzen mußte.

Sie gleicht Raymond vollkommen, sagte sie sich. Sie ist ausgezeichnet erzogen und weiß sich ebenso tadellos zu benehmen wie irgendeiner; doch merkt man bei ihr, daß sie von der Notwendigkeit der Förmlichkeiten nicht überzeugt ist, welche sie beachtet, und daß sie sich lieber anderen Formen anbequemen würde. Mein armer Neffe hätte trefflich mit ihr harmoniert, und die Hälfte des Jahres würden sie von der übrigen Welt abgesondert verbracht haben. Doch bei einem Manne ist das eher zu entschuldigen – – Mein Bruder, General Bertolles, hatte genau dieselbe Ansicht.

Von derartigen Erwägungen ausgehend, war Frau von Montelar der Meinung, daß sie sich ohne weiteres mit ihrer Nichte an einem stillen Ort, zum Beispiel in einem Seebade, zeigen könne, in welchem es keine obligaten Bälle und gesellschaftlichen Unterhaltungen gibt. Die Hauptsache war, einen solchen Badeort ausfindig zu machen.

Mit Hilfe der Reisehandbücher und des eigenen Gedächtnisses erkor sich denn Frau v. Montelar auch einen ruhigen Ort, wohin sich die bemoosten Häupter der Gerichtspersonen zurückzuziehen pflegten, die schon vermöge ihrer Stellung die geräuschvolleren Orte mieden. Die ringsumher wohnende Bevölkerung bringt diesen ernsten, kahlköpfigen Herren und Damen in reifen Jahren, die in Spitzenhauben einherstolzieren, die denkbar größte Achtung entgegen.

Derartige Gäste können stets mit Sicherheit darauf rechnen, daß sie die vollste Hochachtung im Kreise jener Bevölkerung antreffen werden, die von der Verderbtheit der großen Städte noch nicht angefressen ist und noch Verständnis für ehrwürdige Dinge besitzt.

Mit einem Wort, die Wahl der Frau von Montelar fiel auf Saint-Aubin.

Die Ankunft dieser zwei in tiefe Trauer gekleideten, so überaus vornehmen und mit ihren Kammerzofen reisenden Damen bildete ein Ereignis in dem kleinen Badeorte und dies um so mehr, als die Damen in ihrer Wohnung speisten und niemandem Gelegenheit geboten war, sie anzusprechen.

Ihre Namen hatten sie gar bald im Fremdenbuch gelesen und dieselben erfuhren jetzt die denkbar sorgfältigsten Kommentare; doch sind die Badegäste von Saint-Aubin so unschuldig, daß die Namen keinerlei Erinnerungen in ihnen weckten. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich achtungsvoll diesen zwei vornehmen Damen zu und man harrte bloß der Ankunft eines wohl unterrichteten Badegastes, um von demselben all das zu erfahren, was man nicht wußte und gar zu gern gewußt hätte.

Die Seeluft bekam Frau von Montelar augenscheinlich gut. Für eine Frau, die stets im Kreise guter Bekannter gelebt, bedeutet die Isolierung den veritablen Tod. Für sie hatte der Anblick menschlicher Gesichter, und mochten dieselben noch so wenig schön sein, dieselbe Bedeutung, wie frisches Wasser für solche Pflanzen, die zu lange der heißen Sonnenglut ausgesetzt waren. Des ferneren hegte sie gleich den übrigen Badegästen die Hoffnung, daß der Monat September irgendeine Zerstreuung bringen werde. Sie schrieb auch drei oder vier Bekannten, sie möchten sie in Saint-Aubin besuchen, und rechnete mit Sicherheit darauf, daß einige derselben sich auch einfinden würden.

Estelle aber empfand eine wahre Wonne über diesen gänzlichen Mangel an jeglicher Gesellschaft. Der Schlag, welcher sie betroffen, hatte in ihrer Seele bleibende Spuren zurückgelassen. Das Staunen des ersten Moments und die Empörung des zweiten waren einer Art Betroffenheit gewichen.

Ist es möglich, daß die Welt in solchem Maße leichtsinnig und grausam ist? Sie wollte glauben, daß man die Sache bald vergessen und sich nicht weiter mit ihrer Person beschäftigen werde. Benois freilich, das fühlte sie deutlich, würde sie auch weiter mit den unruhigen kalten Blicken betrachten, der sie in solchem Maße verletzt hatte.

Sie machte sich Vorwürfe darüber, daß sie dieser Gedanke in solcher Weise beunruhigte, und dennoch vermochte sie sich von demselben nicht zu befreien.

Ja, sie war erschrocken, daß sie dieser ernste Mann beschuldigte.

Doch wessen beschuldigte er sie? Davon hatte sie keine Ahnung. Sie vermochte sich den abscheulichen Verdacht in seiner ganzen Größe nicht zu vergegenwärtigen. Sie dachte, man lege ihr eine Liebschaft aus ihrer Mädchenzeit zur Last, habe von derselben Raymond Mitteilung gemacht und dieser hernach aus Eifersucht den Kopf verloren.

Dies war die einzige Erklärung, die sie zu finden vermochte, und innerlich mußte sie zugeben, daß dieselbe fremden Leuten nicht gerade unwahrscheinlich dünken werde.

Sie aber, die den Charakter und das Herz ihres Verlobten ganz und voll kannte, denn Raymond hatte ihr über sich selbst alles rückhaltlos mitgeteilt – sie wußte nur zu gut, daß dies unwahr sei und Raymond an ihr nicht gezweifelt habe. Sie wußte, daß Raymonds Liebe zu ihr nur noch heißer geworden wäre, wenn man sie verleumdet hätte – – –

Diese schrankenlose Anbetung war es ja gewesen, die sie gerührt; dieses Vertrauen, diese Verehrung, diese vollständige Hingebung hatten ja die Hoffnung in ihr geweckt, daß auch sie Raymond liebgewinnen werde, diesen Mann, der sie mit voller Seele, mit ganzem Herzen liebte.

Nein, nein – Estelle war ganz sicher, daß sie keinerlei Anteil an dem Tode ihres Gatten haben könne. Hundertmal legte sie ihrem Gewissen diese Frage vor und hundertmal mußte sie sich diese Antwort geben.

Oder hatte sie ihm nicht die Geschichte ihres ganzen Lebens, ihrer ganzen traurigen Kindheit erzählt? Gleichwie ihr Raymond sein männliches Herz offenbarte, so hatte sie ihm über ihre einfache, ereignislose, helle, klare und leere Mädchenzeit berichtet.

Je unmöglicher jedwede Kalkulation wurde, je mehr gewann der Gedanke Raum in ihr, daß Raymond das Opfer eines Anfalls von Geistesstörung geworden und diese selbst nicht durch Eifersucht, sondern durch die Ueberreiztheit, in welcher sich in letzter Zeit seine Nerven befunden, herbeigeführt worden. Weshalb hätte er sich denn sonst den Tod gegeben?

Diese Erklärung befriedigte Estelle nicht im geringsten, ließ aber ihr Erbarmen, ihr Mitleid für den Verblichenen unangetastet und voll schmelzender Zärtlichkeit, mit tränenden Augen gedachte sie seiner. Sicher ist, daß Estelle den verstorbenen Gatten jetzt inniger liebte, als sie ihn vordem geliebt hatte; ihre von jedem irdischen Element gereinigte Liebe, die jetzt nichts mehr von dem Erschreckenden an sich hatte, dessen sich die Jungfrau instinktiv bewußt wird, schwebte über dem Grabe Raymonds gleich einem trauernden Vögelein, das nicht weiter fliegen will.

In dieser edlen und tröstenden Denkungsart fand die junge Witwe auch eine gewisse Rechtfertigung für das absonderliche Benehmen Benois'. Das edle, freundschaftliche Gefühl, welches nur Raymond dank seiner ritterlichen Eigenschaften zu erwecken vermochte, hatte den jungen Mann instinktiv veranlaßt, den verstorbenen Freund zu verteidigen und wenn möglich auch zu rächen. Und Estelle empfand, trotzdem sie voll Bitterkeit und mit einigem Zorn daran dachte, daß Benois sie in solcher Weise verkennen kann, fast ein Gefühl der Bewunderung für ihn.

Mit fast fieberhafter Ungeduld erwartete sie den Augenblick, da Benois, dem Zwange des gesellschaftlichen Verkehrs Folge leistend, sich neuerdings bei Frau von Montelar einfinden werde, und dann – so dachte sie in ihrem Innern – wird der Mann, der Raymonds liebster Freund gewesen, unmöglich ihre Unschuld verkennen, unmöglich vor dem leuchtenden Glanze der wirklichen Reinheit blind bleiben können. Von einem solchen Manne verachtet, würde ihr das Leben zur unerträglichen Last werden!

Estelle war zwanzig Jahre alt und zweifelte nicht an der Gerechtigkeit der Weltordnung. Diese Hoffnung verbreitete einen schwachen Glanz über die Zukunft, wohl nur kaum wahrnehmbar, immerhin aber genügend, um ihren Gedanken eine mildere Färbung zu verleihen.

Die Scharen der August-Gäste begannen aufzubrechen. Die Korridore der Gasthöfe füllten sich mit kleinen Gepäckstücken, sogenannten »Erinnerungen an Saint-Aubin«, welche die Badegäste mit sich nahmen. Die Septembergäste folgten ihnen auf den Fersen, brachten ihre Habseligkeiten in den soeben ausgeleerten Schränken unter, nahmen an der Table d'hote Platz und musterten fragenden Blickes die Gesichter, um zu sehen, welche ihnen bekannt seien und welche nicht.

Die Klasse der »gesetzten« Gerichtspersönlichkeiten war diesmal besonders reichhaltig vertreten. Doch waren unter denselben auch jüngere Häupter zu bemerken, die die Annehmlichkeiten der Erholung mit dem Nutzen einer Beförderung zu vereinigen suchten. Unter diesen befand sich auch Staatsanwalt Bolvin.

Er war ein tüchtiger junger Mann von allgemein anerkannter Befähigung, den aber die erzielten Erfolge ein wenig schwindelig gemacht hatten und der seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen hatte, an niemandes Unschuld zu glauben und in jedermann um jeden Preis einen Verbrecher zu entdecken.

Sonntag nachmittag verweilten die neuen Gäste und die Reste der alten Gäste gemeinschaftlich am Meeresufer. Da gab es Erkennungsszenen und gegenseitige Vorstellungen ohne Zahl und Ende. Am äußersten Rande des Meeresstrandes, in ihren schirmbewehrten Stühlen sitzend, beobachteten Frau von Montelar und ihre Nichte mit mehr oder minder großem Interesse das ringsum herrschende lebhafte Treiben.

Nach rechts und links grüßend und Grüße empfangend, schritt Bolvin gemächlich einher. Eine gut gekleidete ältliche Dame, von zwei heiratsfähigen Töchtern flankiert, erwiderte lächelnd seinen Gruß.

Er ging zu ihnen und jene nahmen ihn auch sofort in Beschlag.

»Herr Bolvin, Sie wissen ja alles. Bitte, sagen Sie uns die Namen der Personen hier, die wir nicht kennen.«

Bereitwillig und mit einer gewissen Schalkhaftigkeit benannte Bolvin der Reihe nach die ihm selbst bekannten Personen, Frau Barrière war eine liebenswürdige Dame und aus dem Stoff gemacht, welcher ideale Schwiegermütter zu geben pflegt. Unter solchen Umstünden ist es leicht, geistreich zu sein.

»Und diese – – und jene – –«

Er setzte fort. Dieser schalkhafte junge Mann kannte aber auch jeden. Endlich blieb sein Blick auf den beiden schirmüberspannten Stühlen haften, welche Estelle und ihre Tante innehatten.

»Und diese Damen?« fragte das jüngere Fräulein Barrière.

»Sie sitzen zu weit, ich kann sie nicht gut sehen,« erwiderte der Anwalt, der zwar in die bezeichnete Richtung blickte, mit seiner Beharrlichkeit aber nicht zudringlich sein wollte.

»Die Namen kann ich Ihnen sagen,« sprach das ältere Mädchen. »Die eine ist Frau von Bertolles, die andere Frau von Montelar. Beide sind schön, obgleich die eine alt, die andere jung ist, und beide sind in tiefer Trauer. Nicht wahr, Frau von Montelar ist die jüngere?«

Bolvin machte eine leichte, kaum wahrnehmbare Bewegung und blickte nicht mehr in die Richtung der beiden Damen.

»Wenn Sie dessen sicher sind, mein Fräulein, daß dies ihre Namen sind, so ist Frau von Montelar die ältere.«

»Wirklich? Und weshalb tragen sie Trauer? Beide gehören wohl den vornehmen Kreisen an, wie?«

»Ja, den vornehmsten Kreisen,« erwiderte Bolvin kalt. »Frau von Montelar ist die Tante der Frau von Bertolles, das heißt, sie war die Tante des Gatten derselben.«

»So ist Frau von Bertolles Witwe? Mit so jungen Jahren? Bertolles – der Name ist mir so bekannt. – Warten Sie nur. Es knüpft sich, glaube ich, eine Geschichte an denselben.«

»Frau von Bertolles,« fügte Bolvin mit einem gewissen geringschätzenden Ausdruck hinzu, der indessen kaum zu bemerken war, »wurde noch an ihrem Hochzeitstage Witwe.«

»Ach ja, nun weiß ich schon. Es war ein Selbstmord – ein ganz merkwürdiger Fall.«

»Es war ein Zufall, Madame,« erwiderte Bolvin mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln.

Er bereute es sofort, als er dieses Wort gesprochen und dieses Lächeln hinzugefügt hatte. Doch war es bereits zu spät.


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