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XIX.

Der außerordentlich lange »Altweibersommer« hielt jedermann sehr lange von Paris fern, den Pflicht oder Zerstreuung nicht gebieterisch in die Hauptstadt zurückrief.

Im Palais Bertolles herrschte nach wie vor Stille und Einsamkeit. Mit Ausnahme jener untertänigen Bekannten, die der Zwang oder die Dankbarkeit an die Reichen fesselt, empfing Frau von Montelar sehr wenig Besuch; Estelle aber erhielt überhaupt keine Gäste.

Sie war daher nicht wenig überrascht, als man ihr einmal meldete, daß Baronin Polrey sie besuche. Da es sehr kalt war, hatte Frau von Montelar ihre gewohnte Nachmittagsfahrt nicht machen können, um frische Luft zu genießen, und auch Estelle war daheim geblieben, um bei ihr zu sein. Ihre erste Regung war, sich verleugnen zu lassen. Sie glaubte etwas Beleidigendes in diesem Besuche zu erblicken, den die Baronin, die sich so lange fern gehalten, ihr zu dieser ungewohnten Stunde abstattete.

Nach einigem Nachdenken hatte sie sich aber anders besonnen. Sie wollte erfahren, was ihr die Baronin zu sagen hatte; dies wird wahrscheinlich interessant, jedenfalls aber lehrreich sein. Andererseits wieder, wenn die gute Dame – was gleichfalls wahrscheinlich war – die gewöhnlich für die Promenade bestimmte Stunde nur darum gewählt hatte, um sie nicht zu Hause anzutreffen und sich mit der Zurücklassung ihrer Karte aus der Affäre ziehen zu können, so verdiente sie, in der eigenen Schlinge gefangen zu werden.

Die zu Besuch gekommene Dame, die der landläufigen Phrase zufolge bei Estelle Mutterstelle vertreten, war tatsächlich ein wenig überrascht, als sie sah, daß man sie in den Salon führte. Doch kann man schließlich nicht immer darauf rechnen, daß man die Leute, die man notgedrungen besuchen muß, nicht zu Hause antrifft; andererseits war es ihr nicht unangenehm, daß sie das Gesicht der Frau sehen konnte, die man eines so furchtbaren Verbrechens beschuldigte.

Sie hielt also mit ihren beiden Töchtern Einzug in den Salon, wo sie Estelle bereits empfangsbereit antrafen.

»Mein liebes Kind,« sprach sie, als man nach den unausweichlichen Umarmungen Platz genommen, »ich wollte es keinen Augenblick versäumen, dir die Neuigkeit zur Kenntnis zu bringen, die unser ganzes Haus mit Freude erfüllt. Deine beiden Freundinnen, die Gespielinnen deiner Kinderjahre, haben sich mit zwei wackeren Herren verlobt. Der eine ist unser Gutsnachbar vom Lande, der andere ist Leutnant im zehnten Husarenregiment. Meine beiden Töchter sind zufrieden und meine zwei zukünftigen Schwiegersöhne geradezu entzückt. Die beiden Hochzeiten sollen an einem Tage gefeiert werden.«

»Genehmigen Sie meine aufrichtigen Glückwünsche,« sagte Estelle.

Sie blickte dabei ihre einstigen Spielgefährtinnen an, die tatsächlich zufrieden zu sein schienen, und richtete einige sympathische Worte an sie. Die Töchter sind ja schließlich unschuldig daran, daß ihre Mutter so überaus vorsichtig ist.

Ueberrascht bemerkte sie, daß die Mädchen mit zeremonieller Höflichkeit antworteten, die von der ehemaligen Vertraulichkeit sehr weit entfernt war.

Eine Flut von Erinnerungen stürmte über Estelle herein. Diese Freundinnen hatte sie vor sechs oder sieben Monaten verlassen. Dort hatten sie sich in ihrem Mädchenzimmer eifrig um sie bemüht; die eine befestigte ihr eine Blume im Haar, die andere war beim Anlegen eines Schmuckstückes behilflich, indem sie ihren Rollen als Brautjungfern möglichst gerecht zu werden suchten und so gut es anging, den Neid zu verbergen trachteten, der – bei der älteren nämlich, denn die Jüngere war ihr in Wirklichkeit ergeben – hinter der Außenhülle der zärtlichsten Freundschaft lauerte.

Wie lange all das her war! Wenn inzwischen zwanzig Jahre verflossen wären, wenn die herrlichen Locken ihres Hauptes, wie bei Frau v. Montelar, dem Schnee des Greisenalters Platz gemacht hätten, so hätte der Abgrund nicht tiefer und breiter sein können.

Rasch hatte Estelle diese Eindrücke verscheucht und die Traurigkeit, die sich ihrer bemächtigen wollte, war verschwunden, um einem geringschätzenden Stolz Platz zu machen.

»Seid glücklich, meine Lieben,« sprach sie leichthin. »Das Glück kennt keine allgemeinen Regeln; jedermann gründet sich das seinige nach eigenem Ermessen. Ich hoffe, das eurige wird leicht und von Dauer sein.«

Auf den beiden jugendfrischen Gesichtern erschien ein pflichtgemäßes Lächeln, beide Mäulchen sprachen zwei oder drei unverständliche, doch jedenfalls mit der Gelegenheit harmonierende Worte, und beide Augenpaare wendeten sich der Mama zu, die noch etwas zu sagen haben mochte.

»Die beiden Vermählungen werden am 29. gefeiert,« sagte die Baronin mit einiger Unruhe. »Es ist recht bedauerlich, daß dir deine Trauer nicht gestattet, zugegen zu sein. Doch in die Kirche könntest du vielleicht kommen?«

Mein Gott! sagte sich Estelle im stillen, wie sehr sie sich fürchtet, ich könnte die Einladung annehmen! Sie würde eine entschiedene Zusage verdienen; doch von meiner Seite ist sie nicht des leisesten Aergers würdig.

»Auch dort werde ich nicht sein können,« sprach sie laut. »Meine Tante ist sehr leidend. Der 29. ist doch heute über acht Tage, wie? Ich glaube nicht, daß sie bis dahin so weit hergestellt sein wird, um die Zeremonie mit ansehen zu können, und ohne sie verlasse ich das Haus niemals.«

»Du hast vollkommen recht,« sagte Baronin Polrey sichtlich erleichtert. »So leid es uns auch tut, daß du nicht zugegen sein wirst, können wir deine Beweggründe nur billigen.«

Sie erhob sich, um zu gehen. Estelle begleitete sie bis in die Vorhalle. Hier bemerkte die ältere der beiden Töchter:

»Aber meine Ausstattung wirst du doch besichtigen? Sie wird Montag und Dienstag ausgestellt sein. Zwar ist sie nicht so reich wie die deinige, doch immerhin sehenswert.«

»Ja,« sagte die Mutter unbehaglich, »du könntest an einem Vormittag oder gegen vier Uhr nachmittag vorsprechen. Zu dieser Zeit werden wir gewiß allein sein.«

Estelle lächelte. Diese unschuldige kleine Unverschämtheit hätte sie vor einigen Monaten tief verletzt; heute aber erschien ihr dieselbe in ihrer Erbärmlichkeit unwiderstehlich lächerlich.

»Seien Sie beruhigt,« erwiderte sie. »Ich werde mich zu einer Zeit einfinden, da ich sicher bin, niemanden anzutreffen. Es ist noch nicht so lange her, daß ich Ihr Haus verließ; ich kenne noch die dort herrschenden Gebräuche.«

»Du weißt doch, es ist nur deiner Trauer wegen,« sagte die Jüngere, vor Scham über die Worte der Mutter errötend.

»Ich weiß ja das, mein Herz,« erwiderte Estelle und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich danke dir für deine wohlmeinenden Absichten. Und Ihnen, Baronin, danke ich für Ihren Besuch. Bitte, empfehlen Sie mich dem Baron.«

Als die drei Damen im Wagen saßen, schalt die Mama ihre unüberlegte Tochter aus, die auf ein Haar einen großen Bock geschossen hätte.

»Kannst du dir vorstellen, welche Wirkung es gehabt hätte, wenn sie um fünf Uhr mit einem Male inmitten unserer Gäste erschienen wäre?« schloß sie ihre Ermahnungen.

»Aber sie muß doch sehen, was wir bekommen,« erwiderte die Tochter trotzig. »Ihre Ausstattung war ja schließlich auch nicht viel schöner, so reich sie auch sein mag.«

»Sie hat sehr gut geantwortet,« sprach Odelle dazwischen, »und sehr viel Takt bewiesen. Wenn ich verheiratet bin, werde ich sie besuchen.«

»Das wirst du nicht tun!« warf die ältere Schwester heftig ein.

»Wenn es mein Gatte nicht verbietet, so werde ich sie besuchen; du wirst schon sehen!« entgegnete die kleine Rebellin. »Und wenn mein Gatte so feige wäre, es mir zu verbieten, so könnte ich ihn nicht mehr lieben! Estelle war sehr gut zu mir, so lange wir bei den Nonnen weilten, und ich habe sie sehr lieb. Ich werde niemals glauben, daß sie etwas Schlechtes zu begehen vermag; nein, niemals!«

»Genug!« sprach die Baronin jetzt ruhig. »Regt euch nicht auf, meine Kinder, denn dadurch werden eure Gesichter rot, und wir müssen vor Tische noch zehn oder zwölf Besuche abstatten.«

Estelle verhandelte mit ihrer Tante die Frage, ob sie die erzwungene Einladung der Baronin annehmen solle oder nicht, und es wurde beschlossen, den Besuch abzustatten. Und so überschritt sie am nächsten Dienstag gegen zehn Uhr vormittags zum ersten Male nach ihrer Vermählung die Schwelle des Hauses, welches während zehn Jahre ihr Heim gewesen oder gewesen zu sein schien.

Tief bewegt sah sie diese Räume wieder, welche heute ebenso reich geschmückt waren, wie zu ihrer Vermählung. Vor einigen Monaten war sie hier von einem Tische zum anderen geeilt, um mit den Fingern all die aufgehäuften Seiden- und Spitzengegenstände zu betupfen, genau so wie heute ihre alten Freundinnen. Mit welch kindischer Freude hatte sie die Falten ihres Brautkleides gestreichelt und sich an dessen Pracht ergötzt! Sie erinnerte sich, daß sie am letzten Abend, da sie sich allein im Zimmer befand, welches sie nicht mehr betreten kann, vor dem Spiegel die ihr von ihrer Mutter hinterlassenen Geschmeide um den nackten Hals gelegt hatte; wie hatten die Edelsteine auf dem Schnee ihres jungen Busens geleuchtet, wie die Diamantensterne zwischen den dunklen Locken gefunkelt!

Die leuchtende Vision dieser letzten Momente ihrer Mädchenfreiheit ließ die Tränen in ihre Augen treten, während sie mit bebender Hand die zarten Bänder berührte, welche die einzelnen Leinwandbündel zusammenhielten.

»Estelle,« flüsterte mit einem Male eine fast noch kindliche Stimme in ihr Ohr, »wenn ich verheiratet bin, werde ich dich besuchen. Du wirst mich doch empfangen?«

Estelle wandte sich hastig um und sah Odellens von Liebe funkelnde Augen auf sich gerichtet.

»Dich?« fragte sie, von Freude und Zärtlichkeit erfaßt. »Liebst du mich denn noch immer?«

»O gewiß! Du wirst meinen Verlobten sehen. Er ist sehr lieb, und ich habe ihn sehr gerne. Er ist ein sehr guter Mensch, und du wirst ihn auch liebgewinnen. Du wirst uns doch zum Frühstück besuchen, nicht wahr? Sieh, dieses Gedeck werde ich dir zu Ehren auflegen. Dieses ist das schönste!«

Und sie deutete auf einen kleinen Tisch, welcher mit silbernem Geschirr und Damastzeug bedeckt war.

Estelle warf einen Blick um sich. In einer entlegenen Ecke des Salons beratschlagte Baronin Polrey mit ihrer Tochter und der Näherin. Estelle schloß das schmächtige junge Mädchen in die Arme und küßte leidenschaftlich das kleine Gesicht, welches in diesem Augenblicke ideal schön war.

»Du bist ein lieblicher Engel,« sprach sie leisen Tones, »und ich werde dich stets der Worte wegen lieben, die du jetzt gesprochen. Gott segne dich, mein kleines Mädchen, für deine Güte und lohne es dir tausendfach im Himmelreich. Heute hast du dasselbe getan, als wenn du einem verschmachtenden Armen einen erfrischenden Trunk gereicht hättest.«

»Du kommst also?« fragte das Mädchen, das noch ein halbes Kind war und diese Worte nur halb verstanden hatte.

»Ja, wir werden einander wiedersehen, so oft du willst. Doch jetzt nicht.«

Sie trat von Odelle zurück und auf die Baronin zu, die sich ihr näherte. Worte über Worte, heuchlerische Höflichkeitsphrasen – und Estelle von Bertolles verließ für alle Zeiten das Heim ihrer Mädchenjahre.

Als sie allein in ihrem Wagen saß, fühlte sie sich so aufgeregt, daß sie in Tränen ausbrach. Während sie ihre Tränen trocknete, die ihr so überaus wohl taten, tauchte neben Odellens Bild auch das Benois' vor ihrem geistigen Auge auf.


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