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IV.

In einem großen Saale des Palastes wurde die Bahre errichtet, auf welcher der reichgeschmückte Leichnam Raymond de Bertolles' lag.

Nachdem Jean seine Durchsuchung mit größter Sorgfalt vorgenommen, legte er seinem verblichenen Gebieter die neue Uniform an, welche er heute Morgen zum ersten Male am Leibe gehabt, worauf man ihn auf die Bahre hob.

Das Gesicht des jungen Kriegers war nicht verzerrt, und die Träne seiner Gattin war gar bald auf dem Augenlid getrocknet. Man hätte glauben können, er schlafe, wenn die fest zusammengepreßten Lippen keinen so strengen Ausdruck gezeigt hätten.

Die Blumen, welche anläßlich der Vermählung das Haus an allen Punkten schmückten, waren in künstlerischer Gruppierung hinter dem Katafalk angebracht worden, wo sie eine ganze lebende Wand bildeten: doch war das Gemach außerdem auch noch ganz mit Blumen ungefüllt und nur ein breiter Weg für die Ab- und Zugehenden aufrechterhalten worden.

Die hoch flackernden Flammen der Armleuchter warfen einen goldenen Schein auf den Purpurteppich, welcher die Stufen des Katafalks bedeckte. Benois – denn er hatte alles angeordnet – wollte schwarze Draperien vermieden wissen: möge Raymond während der wenigen Stunden, die er noch in dem Palaste seines Vaters zubringen wird, doch die volle Pracht der Vermählungsfeierlichkeiten genießen.

Ein Priester und zwei Nonnen beteten neben dem Entschlafenen. Benois aber suchte in Gemeinschaft mit Jean und Bolwin, dem Stellvertreter des Oberstaatsanwalts, in Raymonds Zimmer eingeschlossen, nach dem Briefe, von welchem der treue Diener bereits gesprochen, und welcher, wie er sagte, ganz ohne Zweifel die Ursache des Todes seines Gebieters gewesen.

Alles war bereits durchsucht worden. Es war eine Qual, mit anzusehen, wie die Hand des Vertreters des Gesetzes, eines Fremden, jedes, selbst das geheimste Versteck öffnete und schonungslos durchstöberte.

Man fand nichts weiter als Familienreliquien, alte Briefe, welche General Bertolles an seine Gattin gerichtet, Korrespondenzen, welche er mit Freunden, teils noch lebenden, teils seither bereits verstorbenen, geführt, im übrigen aber gar nichts, was als Erklärung dieses eigentümlichen Selbstmordes hätte dienen können.

»Der Brief langte mit den übrigen zugleich an; er befand sich unter denselben,« wiederholte Jean zum zehnten Male zornig. »Sicherlich hat ihn der Herr Rittmeister verbrannt. Niemals wird man erfahren können, wer der Schurke war.«

»Was konnte denn jener Brief Ihrer Ansicht nach enthalten haben?« fragte Staatsanwalt Bolvin, die hellen, durchdringenden Augen auf den Diener heftend.

»Davon habe ich keine Ahnung! Doch habe ich gesehen, wie ihn der Herr Rittmeister las, und da erschrak ich vor ihm. Niemals noch hatte ich einen solchen Ausdruck auf einem menschlichen Gesicht wahrgenommen! Sofort schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß er sich ein Leid antun werde. Ach, wäre ich doch nur im Zimmer geblieben!«

»Kennen Sie niemanden, der einen Grund haben konnte, Herrn Bertolles Kummer zu bereiten oder ihn vielleicht zu erschrecken?«

»Nein, niemanden! Er war das leibhafte Ebenbild seines Vaters, den auch jedermann liebte; und dennoch ermordete man ihn, – sofern er sich nicht selbst erschoß.«

Der junge Anwalt betrachtete Jean neugierigen Auges, worauf ihn Benois mit einigen Worten über den tragischen Tod des Generals Bertolles in Kenntnis setzte.

»In der Tat merkwürdig,« erwiderte Bolvin.

Und zerstreut betrachtete er die auf dem Schreibtische gebliebenen Visitenkarten und Briefe: plötzlich aber setzte er sich nieder und begann mit größter Sorgfalt die Umschläge zu besichtigen und die Karten und Briefe je nach ihren Umschlägen zu ordnen, soweit die Gleichheit oder Einheitlichkeit der Handschriften dies ermöglichte.

Benois sah seinem Vorgehen aufmerksam zu und half ihm auch, wo es nottat, indem er ihm mitteilte, woher dieser oder jener Brief gekommen sein mochte.

Nachdem man dies beendet hatte, blieb ein leerer Umschlag übrig.

»Hier ist der Umschlag jenes Briefes,« sprach der Anwalt; »ich hätte nicht gedacht, daß er so aussehen würde.«

Merkwürdig erregt betrachtete Benois den Umschlag. Dieses gewöhnliche Papier hatte die Todesbotschaft enthalten? Auch er hätte es sich anders vorgestellt.

»Offenbar ist eine Frau im Spiele,« sagte Bolvin, den Umschlag besichtigend.

»Eine Frau? Das glaube ich nicht. Ich kenne das Leben meines armen Freundes, und so erscheint mir diese Voraussetzung als unzulässig.«

»Es gibt so mancherlei Frauenangelegenheiten,« erwiderte der Anwalt ruhig. »Ich behaupte ja nicht, daß die Sache auf die Rache einer verlassenen Geliebten zurückzuführen sei; doch sollte es mich sehr wundernehmen, wenn sich hinter diesem Geheimnis nicht eine Frau verbirgt. Kannte Ihr Freund niemanden in Laval?«

»In Laval?« wiederholte Benois sinnend. »Nein, ich glaube nicht.«

»Lag er dort niemals in Garnison?«

»Nein,« erwiderte Benois bestimmt.

»Besitzt das Haus Bertolles dort keinerlei Verbindungen? Ist niemand unter den Dienstleuten, dessen Verwandten oder Bekannten dort wohnen? Der Brief wurde, wie der Poststempel besagt, in Laval zur Post gegeben. Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß er vielleicht aus Paris jemandem dorthin geschickt wurde, um von Laval aus mit der Post nach Paris befördert zu werden. Derlei pflegt wiederholt vorzukommen und erschwert das Recherchieren ganz ungemein. Wir müssen also in Erfahrung bringen, ob sich in der Umgebung der Familie nicht jemand befindet, der in Laval seine Verbindungen hat. Sie, Jean, beschäftigen sich auch hiermit, aber geschickt und klug.«

Benois machte sich einige Notizen, während auch Herr Bolvin etwas notierte.

Der Diener gehorchte und schritt leise hinaus.

»Mein Herr,« sprach jetzt der Anwalt zu Benois, der sich ihm gegenübergesetzt, »könnten Sie mir nicht sagen, welches die Gefühle waren, welche Bertolles für seine Gattin empfand?«

Von dem Moment an, da sich Benois von dem Tode seines Freundes überzeugt hatte, dachte er fortwährend daran, daß man ihm diese Frage vorlegen werde, und er fragte sich, welche Bedeutung seiner Antwort beigelegt werden könnte.

Jetzt, da die Frage tatsächlich an ihn gerichtet wurde, blickte er den Fragenden an und sah, daß er es mit einem zweifellos rechtschaffenen Menschen zu tun habe.

»Es war die heißeste und aufrichtigste Liebe, welche er seiner Gattin entgegenbrachte,« erwiderte er daher ohne jedes Zögern.

»Sind Sie dessen sicher?«

»Vollkommen. Noch eine Viertelstunde vor der Katastrophe sagte er es mir selbst.«

»Ah! Er sprach also von ihr?«

»Noch dazu voll heißer Liebe.«

»Wie erklären Sie es also, daß die zerrissene Photographie seiner Gattin in den Kamin geriet?« fragte Bolvin, gedankenvoll die einzelnen nicht verbrannten Stücke des Bildes betrachtend, die er gesammelt und zur Seite gelegt hatte.

»Das vermag ich gar nicht zu erklären,« erwiderte Benois aufrichtig.

Die beiden Männer schwiegen eine Welle. Der Anwalt betrachtete bald die Stücke des Bildes, bald den Briefumschlag, als wollte er durch diese »Konfrontierung« die leblosen Gegenstände zu einem Geständnisse veranlassen.

»Und die Frau? Könnten Sie mir nicht sagen, welche Gefühle sie für ihren Gatten empfand?« fragte er dann.

Benois antwortete nicht sofort. Seine Aussage war von solcher Bedeutung, daß deren volle Tragweite erwogen werden mußte, bevor er auch nur ein Wort äußerte.

»Sie wissen es vielleicht nicht?« fragte Bolvin in einem Tone, der Benois in einer Weise berührte, als hätte man ihm ein Messer durch das Herz gestoßen.

»Doch, ich weiß es; ich denke nur nach darüber, wie ich Ihnen die Sache derart erklären könnte, daß Sie einen zutreffenden Begriff von derselben erhalten. Ich kann nichts Besseres tun, als Ihnen das mit meinem Freunde Raymond geführte letzte Gespräch vollinhaltlich mitzuteilen. Sie werden aus demselben einen besseren Schluß ziehen können, als aus meiner Ansicht.«

Und so gut es eben ging, wiederholte er das Gespräch, welches der Anwalt mit größter Aufmerksamkeit anhörte.

»Sie können hieraus ersehen,« fügte er zum Schlusse erläuternd hinzu, »daß mein Freund Raymond trotz der heißen Liebe, die er für seine Gattin empfand, sich in bezug auf die Gefühle derselben keinerlei Täuschung hingab. Er nannte sie gutherzig, und dieser Gutherzigkeit hatte er es zu verdanken, daß die junge Dame seine Gattin wurde, denn es ist nicht zu leugnen, daß sie für ihn warme Freundschaft empfand.«

»Wie benahm sie sich als Braut ihm gegenüber?«

»Ich kam bis heute nur wenig zusammen mit ihr. Ihr Benehmen war ein zärtliches, heiteres und ruhiges. Sie schien mit einem Worte glücklich zu sein, daß sie Raymonds Gattin werden konnte.«

»Frau Bertolles ist eine geborene Brunaire, nicht? Ist das eine gute Familie? Sind ihre Eltern noch am Leben?«

»Der Vater starb kurze Zeit nach der Geburt des Mädchens; die Mutter überlebte ihn mit acht Jahren.«

»Sie ist demnach eine Waise. Sie wurde in einem Kloster erzogen. Eine Freundin ihrer Mutter sorgte für sie, nicht? All dies habe ich bereits gehört. Es war also keine sogenannte Geldheirat?«

»Von gar keiner Seite.«

»Wie alt ist die junge Frau?«

»Etwa zwanzig Jahre alt.«

Der Anwalt dachte nach und fragte dann:

»Und kannte sie niemanden in Laval?«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte Benois.

»Möchten Sie sie nicht hierherbitten lassen? Ich würde sie selbst aufsuchen, denke aber, daß es Frau Montelar wegen besser sein wird, hier mit ihr zu sprechen.«

Benois schritt durch die auf den Korridor führende Tür hinaus und fragte die nächstbeste Dienerin, welcher er begegnete, wo er Frau Bertolles finden könne. Er erhielt zur Antwort, daß sie im Totenzimmer sein dürfte.

Benois begab sich in dasselbe. Die große Wanduhr verkündete die elfte Stunde.

Der Priester und die Nonnen beteten noch immer; von den Bewegungen ihrer Lippen allein hätte man den Wortlaut der Psalmen herablesen können. Etwas entfernter kniete Estelle auf einem Betschemel und betete andächtig.

Sie hatte ein weißes Hauskleid an, da sie gar keinen schwarzen Anzug daheim hatte, und mit gefalteten Händen, mit angstvoll fragendem Gesichtsausdruck blickte sie auf den starren Leichnam des Mannes, der kaum einen halben Tag lang ihr Gatte gewesen. Weshalb liegt er jetzt da, kalt, regungslos, während sie sich doch beide in dem für sie vorbereiteten weichen Neste befinden könnten? Tränen traten ihr ins Auge, ein Zittern erfaßte ihre Lippen, als sie den Mann da sah, dem sie mit dem Wunsch Gattin geworden, er möge glücklich sein, dessen Liebe zu erwidern sie fest entschlossen war, sobald sich ihre Seele geöffnet haben würde, die jetzt noch geschlossen war.

»Es ist nicht meine Schuld,« sagte sie sich, »daß ich ihn nicht anders zu lieben vermochte. Ich kann nichts dafür. Er war mir ein lieber Freund, und ich weiß nicht, ob er auch mein geliebter Gatte hätte sein können. Man kann ja dem Gatten treu sein, ihn gütig und zärtlich behandeln, ohne darum mit heißer Liebe an ihm hängen zu müssen. Ich wurde sicherlich nicht zur Liebe geboren. Und dessenungeachtet hätte ich sein Leben zu einem glücklichen zu gestalten vermocht.«

Die Schritte Benois' weckten sie aus ihrem Sinnen. Man hatte sie zumindest schon zehnmal damit gestört, daß man Befehle und Weisungen von ihr erbat, denn Frau Montelar war derart in ihrem Schmerze versunken, daß sie die an sie gerichteten Fragen nicht einmal beantworten konnte.

»Hätten Sie die Güte, Madame, mir für einen Augenblick zu folgen?« fragte Benois leisen Tones.

Estelle erhob sich, und von einem leisen Unbehagen erfaßt, ging sie ihm nach. Es hatte sie höchst peinlich berührt, daß Benois vor dem Leichnam ihres Gatten sie mit so forschenden Blicken betrachtet.

Als Benois im Korridor weiterschritt, hielt ihn Estelle an.

»Wir gehen in jenes Zimmer?« fragte sie.

»Ja, gnädige Frau. Der Anwalt möchte Sie um einige Aufschlüsse bitten.«

»So gehen wir,« sagte Estelle ruhig.

Sie trat in das Zimmer. Ihre Schönheit, Vornehmheit und Eleganz überraschten Bolvin, der sich achtungsvoll vor ihr verneigte.

Aufrechtstehend erwartete sie die Fragen, die man an sie richten sollte, ohne zu beachten, daß ihr Bolvin einen Stuhl anbot und ihn dadurch zwingend, gleichfalls zu stehen.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame,« sprach Bolvin, »doch möchte ich Sie nur fragen, ob Sie nicht jemanden kennen, gleichviel, ob nur oberflächlich oder genauer, und sei es aus der untersten oder der obersten Stufe der Gesellschaft, der entweder selbst in Laval wohnt oder Bekannte oder Verwandte dort wohnen hat?«

»In Laval?«

»Ja, oder in der Umgebung. Bitte, denken Sie nach.«

Estelle senkte den Kopf, suchte lange in ihrem Gedächtnis, blickte dann Bolvin frei ins Auge und sagte:

»Nein, Herr Anwalt; ich kenne dort niemanden und war auch selbst niemals in der Gegend.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau; das wollte ich bloß wissen,« sprach der Anwalt und verbeugte sich.

Estelle verließ das Gemach, nachdem sie mit einem Kopfnicken geantwortet. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, blickte der Anwalt Benois an und sagte:

»Der Brief, welcher die Ursache des Selbstmordes war, klagte Frau Bertolles vor ihrem Gatten an.«

»Oder verleumdete sie,« erwiderte Benois.

»Ich will es hoffen,« sagte Bolvin kalt.


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