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XXXV.

Am nächsten Morgen in Paris angelangt, begleitete Benois Estelle vor allem nach Hause, worauf er sich gegen zehn Uhr zum Staatsanwalt Bolvin begab.

Dieser vernahm schweigend das Geheimnis, welches ihm auf sein Ehrenwort anvertraut wurde. Als Benois geendet hatte, blickte ihn Bolvin an.

»Ich sagte Ihnen seiner Zeit bereits,« sprach er, »daß das Geheimnis mit der Witwe zusammenhänge; jedenfalls ist es ein ebenso seltener als merkwürdiger Fall. Bedauerlich ist die Sache aber insofern, als ich keinen Weg sehe, um Frau von Bertolles der öffentlichen Meinung gegenüber zu rechtfertigen.«

»Nichts liegt ihr ferner, als ein solches Verlangen,« erwiderte Benois kalt. »Sie ist über die sogenannte öffentliche Meinung erhaben. Ich hatte Ihnen versprochen, Ihnen von der Wahrheit Mitteilung zu machen, wenn es mir gelingen sollte, dieselbe zu entdecken. Ich bin also gekommen. Andererseits wollte ich die Unschuld der Witwe in den Augen des Mannes nachweisen, der sie zuerst verdächtigte.«

»Sie zürnen mir,« sagte Bolvin bedauernd, »und ich fürchte, daß mir auch Frau von Bertolles nicht verzeihen wird. Indes –«

»Frau von Bertolles verzeiht immer,« sprach Benois und erhob sich von seinem Platz.

Nach einer Pause blickte Bolvin seinen Gast fest an.

»Hätten Sie nicht die Güte, ihr zu sagen, daß ich sie demütig um Verzeihung bitte und es, wenn sie es mir gestatten wollte, mir zur Ehre anrechnen würde, sie persönlich um Entschuldigung zu bitten?«

»Ich werde es ihr sagen,« erwiderte Benois und verließ den Staatsanwalt, um ohne Aufenthalt zum Bahnhofe zu fahren. Nachmittags war er bereits daheim angelangt.

Seine Mutter, die er telegraphisch benachrichtigt hatte, harrte schon ungeduldig seiner, obgleich sie ihre Ungeduld sorgfältig hinter ihrer heiteren Ruhe zu verbergen suchte. Als sie endlich in dem großen Speisezimmer allein blieben, welches zu dieser Jahreszeit von üppigen Schlingpflanzen beschattet wurde, deren Ranken sich bei jedem Windhauche leise bewegten und sich gegen die Fensterscheiben rieben, rückte Theodor seinen Stuhl näher an den seiner Mutter und berichtete ihr ausführlich die tragische Geschichte dieser unglücklichen Familie.

Frau Benois hörte ihn mit zusammengepreßten Lippen bis zu Ende an, ohne ihn zu unterbrechen. Die Stickerei war ihren Händen entglitten, und nicht die geringste Bewegung verriet die in ihr auftauchenden Gedanken. Als die Erzählung zu Ende war, blickte sie ihren Sohn mit den schönen, lebhaften Augen an, die von einem Tränenschleier überzogen waren.

»Du sagst, sie habe jener unglücklichen Person verziehen?« fragte sie sanft.

»Vollkommen und gänzlich ungezwungen. Sieh, Mutter, du weißt nicht, wie gut sie ist! So gut wie – du!«

Die Mutter ließ sich von diesen Worten nicht blenden, sondern nahm ihre Stickerei wieder zur Hand.

»Sie will aus dem Vermögen der Familie Bertolles ein Asyl gründen?« fuhr sie dann fort. »Das ist lobenswert, und sie tut wohl daran; doch was gedenkt sie mit dem Gelde ihres Vaters, das heißt mit dem des Gatten ihrer Mutter, zu tun?«

»Das weiß ich nicht; sie sagte mir bloß, daß ihr dieses Vermögen verhaßt sei.«

»Sie muß es der Familie Brunaire zurückerstatten. Man findet immer nahe oder entfernte Verwandte, doch ihr kommt dieses Geld nicht zu.«

»Siehst du, Mutter, sie denkt genau ebenso.«

Frau Benois strickte ruhig einige Maschen weiter; dann hielt sie wieder inne.

»Ich habe alles sehr wohl verstanden, mein Sohn, was du mir mitgeteilt hast,« sprach sie. »Sie ist eine sehr wackere, rechtschaffene Dame, und ich vermag ihr meine Achtung nicht zu versagen. Aber umsonst, ihre Mutter hat sich gegen ihre Pflichten vergangen. Gerne hätte ich in ihr meine Schwiegertochter gesehen, wenn gegen ihre Familie nichts einzuwenden wäre. Ueber den General Bertolles mag man sprechen, was man will, das kümmert mich nicht. Dies ist aber etwas anderes. Auf eine solche Wendung, mein Kind, war ich nicht vorbereitet.«

»Mutter!« sprach Theodor ungemein sanft. »Sie ist unschuldig!«

»Ich sage nicht, daß sie es nicht ist; doch die Sache ist mir peinlich, im höchsten Grade peinlich, mein Sohn.«

»Mutter,« begann Theodor abermals und so liebevollen Tones, daß seine Worte nichts vorwurfsvolles an sich hatten; »du hast mich gelehrt, was meine Pflicht ihr gegenüber sei, als ich ungerecht und voreingenommen war.«

»Schweige,« sprach die Mutter sanft, »ich weiß es.«

Ein leiser Wind ließ die gelben Ranken des Efeus gegen die Fensterscheiben pochen, als hätten sie Einlaß verlangt. Ein Vogel schlug mit seinem Flügel an die eine Scheibe, daß es leise klirrte. Der Vogel flog weiter und ließ sich singend auf einem Zweige nieder.

»Mutter,« sprach Benois wieder, »sie steht allein, verlassen in der Welt da, allein mit ihren Toten, in einem Hause, welches von schrecklichen Erinnerungen für sie erfüllt ist, – und trotz des bedeutenden Vermögens, welches ihr eigen ist, besitzt sie kein Heim.«

Mit einem Kopfnicken deutete die alte Frau an, daß sie dies wisse und verstehe.

»Sie hat niemanden aus Erden außer mir, niemanden, der sie lieben und trösten würde. Ich habe mir gedacht, daß wir jetzt zu zweien an ihrer Seite sein werden, ich dachte, du werdest ihre Mutter sein, statt jener, die niemals ihre Mutter gewesen, und sie werde dich lieben voll Zärtlichkeit und Ehrerbietung. Würdest du nicht einwilligen, sie als deine Tochter anzunehmen, ich glaube, sie würde sterben vor Kummer und Schande, doch hätte sie darum kein verdammendes Wort für dich, Mutter; so edel und gütig ist ihr Herz.«

»Doch du würdest mich verdammen?« fragte die Mutter, und ihr Blick schien in die Tiefe seiner Seele zu dringen.

»Ich würde für sie leiden, Mutter; härter leiden, als ich es auszudrücken vermöchte, denn ich liebe sie, wie mein Vater dich geliebt hat. Aber verdammen könnte ich dich nicht, denn was du tätest, tätest du nur der Ehre der Familie wegen.«

»Dir gilt jener Schandfleck gar nichts?« fragte die alte Frau strengen Tones.

»Mir gilt er nichts, denn Estelle hat nichts von ihrer Mutter in sich. Vom Scheitel bis zur Sohle, mit Geist und Seele ist sie eine echte Bertolles. Und in der Familie Bertolles war stets Ehre und Rechtschaffenheit daheim.«

Frau Benois antwortete nicht.

Draußen hatte der kleine Vogel sein Lied unterbrochen. Eigensinnig kehrte er immer wieder zu dem Fenster zurück, mit Schnabel und Flügel gegen dasselbe stoßend und immer wieder vor dem Hindernis zurückschreckend. Dann flatterte er davon.

Frau Benois stand auf und öffnete das Fenster. Sie wartete einen Augenblick auf die Rückkehr des kleinen Vogels. Als sie aber merkte, daß er endgültig weggeflogen sei, neigte sie sich hinaus und blickte umher.

Vor ihren Augen dehnte sich das in Sonnenlicht gebadete Tal aus. Aus dem durchwärmten Erdboden, den blühenden Rosen, von den Wiesen strömte ihr Duft, strotzende Lebenskraft entgegen, welche ihr altes Herz zu verjüngen schien. Sie gedachte ihrer jungen Jahre, an ihre Liebe zu ihrem Gatten, an die zahlreichen Freuden, welche ihr Sohn ihr bereitet, der stets zu jedem Opfer für sie bereit gewesen.

Geräuschlos verließ sie das Zimmer, während ihr Sohn, vor dem Tische sitzend, voll unendlichen Mitleids und unsäglicher Zärtlichkeit Estellens gedachte, die jetzt allein in ihrem Palaste weilte, überall allein, immer allein und allein bleiben wird, bis seine Mutter sie als Tochter aufnimmt.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und Frau Benois trat wieder ein. Sie hatte ihre Haube abgelegt und den für die Sonntagsmessen bestimmten Spitzenhut aufgesetzt. Und mit dem schweren Seidenmantel, der in dichten Falten um ihre Schultern hing, war sie nicht mehr die Weinbäuerin, sondern eine schöne alte Frau aus der Provinz.

»So wollen wir sie uns holen!« sprach sie zu ihrem Sohne, der sie in seine Arme schloß.


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