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II.
In der Gelbsteinlagune.

In der riesigen Handelsmetropole Shanghai haben alle in China (und sogar die in andern Ländern des fernen Orients) missionierenden Genossenschaften ihre Vertretung, sog. Prokuren, zur Abwicklung der materiellen und finanziellen Geschäfte. Der Prokurator der Franziskaner, P. Deodat Janssen, mit seinem geschäftskundigen, unermüdlichen Gehilfen Br. Pazifikus Thomas (aus Pierrevillers b. Metz), hat sich von Anfang an mit väterlichem Wohlwollen der letzten Franziskuskinder angenommen, hat unsern Schwestern allezeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden und leistete auch jetzt uns Neulingen unschätzbare Dienste.

Dank seinen Bemühungen wartete unser sogar eine freudige Ueberraschung. Pater Tharsitius Kackeiser, einer unserer ehemaligen lieben Jungen von Grevenmacher, der es zum Franziskanerpater und sogar zum Missionär gebracht, hatte die Erlaubnis erhalten, von seinem in Nord-China gelegenen Missionsgebiet zur Begrüßung seiner ehemaligen Lehrerin und «Mutter» nach Shanghai kommen zu dürfen. Im Spätherbst 1923 war er von Luxemburg aus mit dem kürzlich ermordeten Pater Bruno bis nach Shanghai zusammengereist.

Noch ganz niedergeschmettert von den erwähnten tragischen Ereignissen in Ichang, seiner ehemaligen Mission, meinte Pater Janssen, wir könnten wohl kaum die Reise nach Hunan fortsetzen; denn unter den gegenwärtigen Umständen sei es wohl der kürzeste Weg in die Ewigkeit.

In Shanghai laufen nämlich alle Nachrichten aus dem weiten Reiche zusammen und das in einem solchen Kunterbunt, daß es recht schwer wird, die nüchterne Wahrheit von den wildschwärmenden Gerüchten orientalischer Phantasien zu unterscheiden.

Am zuverlässigsten erwiesen sich die persönlichen Berichte von Missionären, die aus den gefährdeten Gebieten kamen. So erzählte Schwester Euphrasia, die uns entgegengefahren war, es hätten Franziskanerpatres kürzlich zweimal die Reise nach Hunan gemacht, ohne auf dem Hin- und Herwege belästigt worden zu sein. Ein Lazaristenpater, der soeben in Shanghai ankam, und dessen Reise durch Hunan führte, bestätigte dasselbe. Auch der Willkommgruß des Missionsobern von Süd-Hunan erwähnte nichts von einer besonderen Gefahr.

Trotzdem wagte niemand, eine Entscheidung zu treffen, zumal diejenige nicht, welche die Verantwortung für das Wohl und Wehe ihrer Schwestern trug. Die Kriegsgerüchte mehrten sich mit jedem Tag. Daß Truppenverschiebungen zwischen Nord und Süd, gerade durch die Provinz Hunan, stattfanden, war ebenfalls außer Zweifel.

Was sollten wir tun? Wir beteten und beratschlagten.

Da setzte ein Telegramm unserm Zögern ein Ziel: «Schwester Salesia schwerkrank!». Am nächsten Tag fuhren wir mit dem englischen Dampfer «Shengking», der zwar an Größe, nicht aber an Komfort, dem «Porthos» nachstand, die 800 km weite Strecke stromaufwärts zu unserem ersten Heim auf chinesischem Boden, von wo wir übrigens besser als von Shanghai aus die Entwicklung der Ereignisse beobachten zu können hofften.

1. Das erste Grab.

Zur Gelbsteinlagune. – Bruder Tod. – Märtyrer der Sehnsucht. – Chinesisches Begräbnis. – Letzte Ruhe in Heilandsnähe.


Nach Hwangshihkang – «Gelbstein-Lagune» – richtete sich jetzt unser Sinnen und Sorgen, unser Bangen und Hoffen. Wie interessenlos sahen wir rechts und links jahrtausendalte, hochberühmte Städte sich an den Gestaden des Yangtzestromes emportürmen: Nanking, Wuhu, Kiukiang usw. Wie lange deuchte uns die Fahrt trotz des vorzüglichen Kurses der «Shengking».

Nur Hwangshihkang schwebte uns vor, das Städtchen am rechten Ufer des Stromes, ein sonst unbedeutender «Port of call», d. h. ein fakultativer Halteplatz für Dampfer, die nur gelegentlich ein wenig stoppen, rasch Reisende und Waren aufnehmen und abgeben und hurtig weitereilen.

Es ist dort nichts Europäisches zu sehen, es sei denn die vom rechten Ufer weithin den Strom beherrschenden Gebäude der katholischen Mission.

Dorthin war unser Herz vorangeeilt, dort in unser erstes liebes Heim auf chinesischem Boden, dorthin, wo sehnsüchtig eine Schwerkranke, eine Sterbende, vielleicht schon eine ... o nein, keine Leiche, Gott ist zu gut! – eine Tochter ihrer Mutter, eine Schwester ihrer lieben Mitschwestern wartet. Ob sie noch wartet?? – Jetzt noch? – bis wir kommen? –

Am Sonntag morgen, den 3. November, etwas vor 6 Uhr – es war noch dunkel – verlangsamte unser Dampfer seinen Kurs. Mehrere Sampans (d. h. «Dreiplanken», Bezeichnung für die plumpen chinesischen Kähne) ruderten auf uns zu, voran Pater Leo, der Obere der Mission, der mit einer Taschenlampe die nötigen Signale gab. Im Nu wurde die Schiffstreppe hinuntergelassen, wir stiegen in das nächste Boot, während die Missionsdiener das Gepäck abluden.

«Schwester Salesia? –» mehr wagten wir nicht zu fragen ... «Sie lebt noch und wartet auf Sie», erwiderte der Pater, «ich bin in der Nacht bei ihr gewesen».

Wir wußten genug. Sie lebte noch, – aber wie lange? –

Wie kam uns die Ruderfahrt ans Land unendlich langsam vor! Endlich auf einem schmalen Brett gelangten wir ans Ufer und wateten empor durch den nassen Sand. Viele Christen waren dort und brannten zu unserm Willkommgruß eine Menge Feuerkrackers ab. Doch unsere Gedanken waren sonstwo.

Drei Schwestern kamen auf uns zu mit tränenersticktem Gruß: «Schnell, schnell kommen!» –

Wir fragten nach nichts, hörten und sahen nichts! ...

In wenigen Minuten standen wir vor dem Missionsgebäude, wo das Herz-Jesu-Monument, die Lourdes-Grotte und die ganze Kirche in festlichem Lichtschmuck aufblitzten. War es nicht das Bild eines zum letztenmal auflodernden, erlöschenden Lebens?

Einige Sekunden später stand ich im Kranken-, nein, im Sterbezimmer. – Tränen auf einem leichenblassen Antlitze glänzten mir entgegen ... Nur stumme Tränen erwiderten den stummen Gruß.

O nein, er war nicht stumm, der Tränengruß. Unsere Herzen sprachen laut, ach, so laut und vertraut! Kind und Mutter verstehen sich auch ohne Worte! –

Die Schwestern gingen zur hl. Messe. Nach der hl. Kommunion kehrte ich ans Sterbebett zurück. Die Kranke, die schon tagelang nicht mehr sprechen konnte und oft längere Zeit ohnmächtig dalag, lebte etwas auf und lächelte.

Sie interessierte sich für die Nachrichten von daheim, die kleinen Liebesgaben ihrer Angehörigen, deren Briefe ich ihr vorlas. Sie freute sich über den Willkommgruß aus Hunan. Schon vor mehreren Tagen hatte sie wiederholt geäußert, es müßten jetzt große Opfer gebracht werden. Für die Neugründung würde die hiesige Kommunität verteilt werden, was gewiß nicht ohne Schmerzen sei. Sie habe daher ihr Leben dem Heiland angeboten für das Gelingen des Unternehmens, und ihr Opfer sei angenommen worden. Sie sagte das stets mit großer innerer Freude, trotzdem sie oft demütig gestand, es sei für unsere arme Natur schwer, mit Freuden zu leiden.

Bruder Tod!

Aber sie war reif für den Himmel durch ein jahrzehntelanges stilles Opferleben. Als sie vor drei Tagen die hl. Sterbesakramente empfangen, dankte sie laut dem Heiland für die vielen Gnaden, besonders die der letzten Krankheit, und wiederholte oft: «Sanctus, sanctus, sanctus!» – Um 11 Uhr sank sie wieder in sich zusammen. Zwei Priester verrichteten an ihrem Bette die liturgischen Sterbegebete, während welcher sie sanft hinüberschlummerte, etwas vor 12 Uhr, um bald das ewige Sanctus anzustimmen, wie wir getrost hoffen dürfen. –

Schwester Salesia Simon, geboren in Elvingen (Redingen), aus einer tief christlichen, kinderreichen Familie, war schon im Alter von 19 Jahren ins Kloster eingetreten. Ihrem Beispiele folgten später noch zwei ihrer Schwestern, von denen die jüngste in derselben Genossenschaft (der Luxemburger Franziskanerinnen, Belairstr.) eintrat, in der sie heute noch wirkt. Schon von Anfang ihres Ordenslebens an sehnte sie sich nach den Missionen. Endlich 1926 ging ihr Wunsch in Erfüllung, sie war bei den ersten sechs Glücklichen, die nach China zogen. Der himmlische Bräutigam, der des Menschen Leben nicht nach der Zahl der Jahre wertet, fand sie durch vieles Leiden geläutert und vorbereitet für die ihr bestimmte Krone. R.I.P.

Also ein Sterbefall, eine Leiche, ein bitterschweres Opfer, das brachte uns der erste Tag in unserm ersten Heim in China. Doch es war ein Opfer, verklärt durch das Licht des Glaubens, ein mächtiges Sursum corda, eine feierlich-ernste Mahnung, daß die Welt nicht auf den lichten Sonnenhöhen des Tabor, sondern in den nächtlichen Qualen der Oelbergsgrotte, in den schaurig finstern Marterstunden des Kalvaria erlöst wurde. Auch in den Missionen muß die Erlösungsgnade mehr durch Gebet, Opfer und Kreuze, als durch äußere Arbeit den Seelen vermittelt werden. Diesen Trostgedanken enthielten sämtliche Beileidsschreiben, die uns sofort von allen Seiten der Mission zugingen.

Der Apost. Präfekt Msgr. Espelage, schrieb uns:

«Jedes Opfer kostet Ueberwindung, besonders das Opfer eines Menschenlebens. Zuerst brachte es Jesus am Kreuze, und in Nachahmung dieses hehren Beispieles brachte es Schwester Salesia zum Wohle der Mission, und einst müssen wir es alle bringen. Sie und Ihre Schwestern haben an diesem Opfer teilgenommen, – wie auch ich. Was Gott will, wollen auch wir.

«Morgen werde ich ein feierliches Seelenamt für sie halten. Auch ersuche ich jeden Priester unserer Mission, eine heilige Messe für sie darzubringen. Alle andern hier wirkenden Missionsschwestern werden die heilige Kommunion und andere Gebete für sie aufopfern ...»

Aehnlich schreibt der Apostol. Administrator von Süd-Hunan, der sich, trotz des großen natürlichen Leids über den Verlust, für seine Mission besonderen Segen verspricht von der Fürbitte der lieben Toten, die, wie einst Moses, an der Schwelle des Landes ihrer Sehnsucht Gott das letzte Opfer brachte. –

Der Tod ist immer und überall eine schmerzlich bittere Sühne, die unsere sündige Natur dem beleidigten Schöpfer entrichten muß. Aber wie ganz anders erscheint das natürliche Opfer im übernatürlichen Lichte des Glaubens, im Leuchten der christlichen Hoffnung!

Martyrer der Sehnsucht!

Und – ich sah es mit Staunen und Trost zugleich – wie viel leichter ist erst das Sterben in den Missionen! Die Missionärin lebt ja nur noch einzig für Jesus und die Seelen. Bei ihrem Abschied von der Heimat hat sie großmütig alle Bande gelöst, die einen Menschen noch an die Erde fesseln können, und sich ganz dem göttlichsten aller Ideale hingegeben. Könnte sie noch mehr tun? Könnte Gott noch mehr von ihr verlangen? Trägt und nährt sie im Innersten ihrer Seele nicht den geheimen Wunsch, den nie ausgesprochenen und doch täglich glühenderen, ihren letzten Blutstropfen hinzugeben für Ihn, den Einziggeliebten? – «Martyrer der Sehnsucht» nennt die seraphische Missionspatronin alle Missionäre, auch die, welche unblutig und unbeachtet auf ihrem fernen Posten sterben.

Dazu kommt noch, wenn auch nur als mehr äußerlicher Trost, das in diesem Berichte schon erwähnte Band der Liebe, das, wie in den Glanztagen der Apostel- und Katakombenkirche, alle Missionäre in Freud und Leid vereint. Die aufopferndste schwesterliche Liebe umgibt die kranke Missionärin auf ihrem Schmerzenslager; der weitgehendste geistliche Trost und priesterliche Beistand ist ihr gesichert zu jeder Zeit, bei Tag und Nacht, bis zu ihrem letzten Atemzug, eine Gnade, die man in solchem Ausmaße in der Heimat nicht immer haben kann.

Selig, die in den Missionen sterben! möchte man ausrufen. Und das mag den Lieben in der Heimat, die Eines der Ihrigen dem Herrn als Missionsopfer dargebracht, zur Freude und Beruhigung dienen.

Die ganze Mission, nicht zuletzt die Christen und Katechumen, ja sogar viele wohlgesinnte Heiden nahmen an unserer Trauer den innigsten Anteil und bereiteten unserer heimgegangenen Mitschwester ein feierliches Begräbnis. Bekanntlich huldigen die heidnischen Chinesen dem Ahnenkult und bringen ihren Verstorbenen die größte Ehrfurcht und kostbarsten Opfer dar, als Ausdruck ihrer Nationaltugend, die in der kindlichen Pietät gipfelt.

Mit der Annahme des Christentums werden natürlich alle auf Aberglauben beruhenden Feierlichkeiten und Zeremonien aufgegeben. Aber die katholische Religion lehrt ihre Anhänger, ihre Sorgfalt und Liebe den abgeschiedenen Seelen im Fegfeuer zuzuwenden, was sie mit großem Eifer tun.

Chinesisches Begräbnis!

Die Leiche wurde nunmehr in einen großen monumentalen Sarg aus dicken Bohlen gebettet, der mit Sorghomark (dem Holundermark ähnlich), Papierstreifen und einer reichlichen Anzahl von Kalkpäckchen sorgfältig ausgepolstert ward. Alles geschah mit zarter Hand, mit größtem Ernst, mit heiliger Scheu, sodaß ich unwillkürlich an Joseph und Nikodemus dachte, die am Karfreitag ihrem göttlichen Meister diesen letzten Dienst erwiesen.

Am Morgen des 5. November trugen 10 Männer auf einem Gerüst von Stangen und Seilen die Leiche vom Oratorium zur Kirche, wohin wir 14 Schwestern sie mit brennenden Kerzen begleiteten. Das Gotteshaus war dicht mit Gläubigen gefüllt, ebenso die anstoßenden Gänge, und eine ganze Schar von Heiden schaute über die Mauer aufmerksam und ehrfurchtsvoll der Trauerzeremonie zu. Während der ganzen Feier knatterten Feuerfrösche und donnerten Böller, die nun einmal in China bei keinem freudigen oder traurigen Ereignis fehlen dürfen.

Nach den zwei Stillmessen war feierliches Begräbnisamt, worauf unter Befolgung des kirchlichen Ritus der Sarg von denselben Trägern zu Grabe getragen wurde. Alle Christen folgten mit brennenden Kerzen; wir Schwestern sangen abwechselnd mit den Priestern die liturgischen Gesänge, während das Volk laut in chinesischer Sprache betete. Es war eher ein Triumph- als ein Trauerzug.

Das Grab hatte man bereitet in einem kleinen Innenhöfchen, durch das die Schwestern zur Kirche zu gehen pflegen.

Dort angekommen entstand unter den Trägern eine kleine Diskussion, ein Hin- und Herreden, ein lebhaftes Gestikulieren. Es handelte sich darum, wie man den Sarg am schonendsten hinabsenken könnte.

Letzte Ruhe in Heilandsnähe!

Nach kurzer Ueberlegung war die teure Tote sanft in ihre letzte Ruhestätte gebettet.

Nachdem wir ihr etwas geweihte Erde, Weihwasser und – ich darf es wohl sagen – reichliche Tränen auf den Sarg gegeben, zogen wir uns in die Kirche zurück, während das Volk die Verblichene in seiner Weise ehrte.

Als wir am Mittag wieder vorbeikamen, grüßte uns an Stelle der dunkeln Grube ein hübsches Blumengärtchen – das Werk des Missionsbruders. War es nicht ein tröstliches Symbol, daß schon so bald nach dem Leide Blumen sproßten und blühten und nach der Sonne und Wonne des Himmels wiesen?

Als später in den verschiedenen Missionswerken der Weihnachtsbaum mit seinem schimmernden Lichtmantel die Christen froh vereinigte, legten in stiller Nacht unbekannte Hände duftende Tannenreiser auf das winterstarre Grab, und nach der Mitternachtsmesse brannte eine Christbaumkerze auf dem Leichenstein.

Nie konnte ich herausfinden, welch zarte Liebe unsere unvergeßliche Schwester Salesia so an unserer Weihnachtsfeier teilnehmen ließ. In abendlicher Dämmerstunde sangen wir dann im stillen Höfchen dem göttlichen Kinde ihre Lieblingslieder. Das war ihre Weihnachtsbescherung.

So ist auch ihr Grab, obwohl in fremder Erde, dennoch ein ganz privilegiertes Plätzchen, mitten im Klösterlein ihrer Mitschwestern, ganz in der Nähe des Tabernakels, wo der wohnt, der die Auferstehung und das Leben ist.

Auch diese Gunst hätte ihr die Heimat nicht bieten können.


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