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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Und der Mann? Wer war es? War es Wellgood? Oder Sears? Oder wer sonst? Sicher ein Mann, der dieses Weib geliebt hatte; das fühlten wir alle aus dem leidenschaftlichen Tone des Ausrufs heraus.

Aber wie kam der Mann hierher? Und warum erschien auf Herrn Greys Zügen eine solche Empörung? Warum auf des Inspektors Antlitz solches Erstaunen?

Diese Fragen konnten nicht ohne weiteres beantwortet werden. Herr Grey ging auf den Mann zu und berührte seine Schulter.

Bleiben Sie da, sagte er, wir wollen miteinander reden!

Der Mann, der seiner Kleidung und Erscheinung nach sehr wenig in diese Prunkräume zu passen schien, erholte sich von seinem Entsetzen und schickte sich an, dem Engländer zu folgen. In diesem Augenblick brachte der Kellner die Suppe herein. Herr Grey schickte ihn weg.

Tragen Sie die Suppe wieder ab, sagte er. Ich habe erst ein Geschäft mit diesem Herrn zu erledigen, bevor ich esse. Ich werde klingeln, wenn ich Sie brauche.

Herr Grey ging zur Türe, die zum Nebenzimmer führte, und machte sie zu.

In diesem Augenblick sah ich, wie der Inspektor zu mir hereinschaute und mich scharf fixierte. Ich verstand seinen Wink und nahm mich zusammen, um für das Bevorstehende gerüstet zu sein. Für was? Es war noch nicht möglich, das zu entscheiden.

Aber bereits im nächsten Augenblicke wurde es mir klar. Herr Grey wandte sich, ohne meine Anwesenheit noch zu beachten – – der Grund dafür lag wohl in seiner großen Aufregung – dem anderen zu, sobald er die Türe geschlossen hatte. Er packte ihn am Kragen und schrie ihn an:

Fairbrother, Sie feiger Geselle, warum rufen Sie nach Ihrer Frau? Sind Sie denn nicht bloß ein Dieb, sondern auch ein Mörder?

Dieser Mensch sollte Fairbrother sein? Wer war es dann, der schwer krank in den Bergen bei Santa Fé lag und nur langsam wieder zu genesen schien? Sears? In diesem Augenblick hielt ich alles für möglich.

Mittlerweile hatte Herr Grey den anderen ebenso rasch fahren lassen, als er ihn gepackt hatte. Er nahm das Stilett vom Tisch, wo er es vor wenigen Minuten hingeworfen und rief: Erkennen Sie das Stilett? –

.

Da erkannte ich den Schuldigen.

In einem Schweigen verharrend, das deutlicher redete als jeder Schrei, starrte der Mann, der der Gatte der Ermordeten sein sollte, der Mann, auf den keine Spur eines Verdachts gefallen, und von dem alle glaubten, er sei zur Zeit des Verbrechens Tausende von Meilen vom Schauplatz entfernt gewesen, auf die Waffe, die ihm Herr Grey vor die Augen hielt; über sein Gesicht huschten alle Zeichen der Angst, des Entsetzens und der entdeckten Schuld, die ich in meiner Verblendung auf denselben Versuch hin in dem ehrlichen Gesichte des Herrn Grey zu erblicken erwartet hatte!

Das Erstaunen darüber hielt mich an meinen Platz gefesselt. Ich war in einem solchen Zustand der Betäubung, daß ich kaum die Scherben zu meinen Füßen bemerkte. Aber der andere sah sie. Er wandte sein Gesicht von dem Stilett ab, das ihm Herr Grey immer noch vor die Augen hielt, deutete auf das zerbrochene Porzellan und murmelte:

Das hat mich dazu gebracht, mich zu verraten – das Klappern des Porzellans! Ich kann es nicht mehr ertragen, seit – –

Er hielt inne, biß sich auf die Lippe und blickte plötzlich herausfordernd um sich.

Seit Sie im Alkoven des Ramsdellschen Hauses die Tassen vor Ihrer Frau fallen ließen, vollendete Herr Grey mit bewundernswerter Geistesgegenwart.

Ich sehe, daß ich kein Talent zu Erklärungen habe, erwiderte der andere mit grimmiger Betonung und bitterem Sarkasmus. Dann, als er sich der ganzen Schwierigkeit seiner Lage bewußt wurde, nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, wie ich ihn nie zuvor erblickt hatte; er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus, die er Herrn Grey übergab.

Der Großmogul, erklärte er ohne weiteren Kommentar.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Herr Grey die Schachtel und warf einen Blick auf ihren Inhalt.

Auch mir war es möglich, zu sehen, was die Schachtel enthielt: es war der große Diamant der Frau Fairbrother!

Herr Grey nickte befriedigt und steckte den Edelstein sorgfältig in die Tasche. Als er hierauf seinen Blick wieder dem Manne vor ihm zuwandte, brach dieser leidenschaftlich los:

Darum habe ich sie nicht getötet. Es geschah, weil sie mir Trotz bot, weil sie mir ihre Unbotmäßigkeit offen ins Gesicht schleuderte. Ich würde es wieder tun, doch – – Hiebei hielt er inne; dann fügte er mit veränderter Stimme und gänzlich verändertem Benehmen hinzu: Sie sind entsetzt über meine Verworfenheit. Sie wissen nicht, was ich für ein Leben hinter mir habe. – Hierauf meinte er ein wenig boshaft:

Sie hatten mich wegen des Stiletts im Verdacht. Es war ein Fehler, das Stilett zu benützen; sonst aber war der Plan ausgezeichnet. Ich zweifle daran, ob Sie wissen, wie ich meinen Weg in den Alkoven fand, möglicherweise unter Ihren Augen; sicherlich unter den Augen von vielen, die mich kannten.

Nein, ich weiß es nicht, entgegnete Herr Grey. Es genügt, daß Sie hineingegangen sind, und daß Sie Ihre Schuld eingestehen. – –

Dann streckte Herr Grey die Hand aus, um zu klingeln.

Nein, es genügt nicht, erklärte der andere. Seine Stimme klang trotzig und befehlend. – Klingeln Sie nicht, noch nicht! Ich möchte Ihnen verraten, wie ich die kleine Geschichte arrangierte. –

Er blickte um sich und griff dann nach einem kleinen Servierbrett auf einem Nebentisch. Rasch befreite er es von den Sachen, die darauf standen und wandte sich wieder uns zu; seine Miene und sein Benehmen waren unterwürfig und so seinem natürlichen Auftreten entgegengesetzt, daß wir ihn kaum noch erkannten. Entschuldigen Sie meine schwarze Halsbinde, sagte er untertänig und hielt das Servierbrett vor Herrn Grey hin.

Es war Wellgood!

Das Zimmer drehte sich um mich. Also er, der große Finanzmann, der vielfache Millionär, der Gatte der wunderbaren Margarete, war im Ramsdellschen Hause als Kellner im Dienste Jones' aufgetreten!

Herr Grey verriet keine Ueberraschung, aber er winkte mit der Hand, worauf der andere augenblicklich das Brett wegstellte und wieder sein gewohntes Aussehen annahm.

Ich sehe, daß Sie verstehen, rief er. Ich bin selber Gast auf manchem Ball in jenem Haus gewesen; dieses Mal zog ich es vor, als Kellner zu erscheinen. So kam ich und ging ich, und kein Mensch hat es gemerkt. Wissen Sie, man sieht da so viele Kellner herumgehen und Eis anbieten, daß ich nicht die geringste Aufmerksamkeit auf mich zog, als ich den Alkoven betrat und wieder verließ. Ich sehe nie auf die Kellner, wenn ich einen Ball besuche; ich blicke nie höher, als auf die Servierbretter. Kein Mensch hat auf etwas anderes geblickt, als auf mein Servierbrett. Das war eine gute Berechnung. So konnte ich Sie denn auch durch jenen geheimnisvollen Schrei erschrecken. Unter dem Brett hielt ich das Stilett verborgen. Als ich sie erstach, fuhr sie mit den Händen in die Höhe und traf dabei das Brett. So fielen die Tassen zu Boden. Seither kann ich es nicht mehr anhören, wenn Porzellan zerbricht. Ich habe sie geliebt –

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, dann faßte er sich wieder.

Das gehört nicht hierher, murmelte er. Sie haben mich gezwungen, heute hier zu erscheinen. Das habe ich getan. Ich wollte Ihnen nur Ihren Diamanten zurückerstatten. Er hat keinen Wert mehr für mich. Aber das Schicksal hat mehr von mir verlangt. Die Ueberraschung hat mir mein Geheimnis entrissen. Diese junge Dame hat mir mit ihrer verflixten Ungeschicklichkeit eine Schlinge um den Hals geworfen. Aber denken Sie nicht daran, die Sache weiter zu verfolgen! Ich habe mich nicht ohne Vorsichtsmaßregeln zu dieser Unterhaltung eingefunden. Wenn ich dies Hotel verlasse, werde ich es als freier Mann tun. –

Mit einer seiner plötzlichen Veränderungen, die mir so überraschend und unerklärlich vorkamen, wandte er sich an mich, machte mir eine Verbeugung und sagte höflich: »Wir wollen die junge Dame nicht länger aufhalten.« –

Im nächsten Augenblick schon blitzte ein Revolver in seiner Hand.

Der Augenblick war kritisch. Herr Grey stand genau in der Schußlinie, und der verwegene Mensch, dessen Willkür und Gewalt er so ausgeliefert war, stand kaum einen Fuß von der Türe, die zum Gange führte. Als er seinen zum Aeußersten entschlossenen Blick und seinen Finger am Drücker bemerkte, erwartete ich, daß Herr Grey zurückprallen und der Mann entkommen würde.

Aber Herr Grey wankte nicht; er rührte sich nicht und ließ kein Wort verlauten. Angefeuert durch seinen Mut raffte ich mich zusammen. Dieser Mensch sollte nicht entkommen, noch Herr Grey Schaden erleiden. Der Revolver, der ihn bedrohte, mußte auf mich selber gerichtet werden. Das war ich dem schuldig, dessen Ehre ich so schwer, wenn auch insgeheim angegriffen hatte.

.

Ich brauchte ja nur zu schreien, den Inspektor zu rufen; aber da fiel mir ein, daß wir ja nunmehr unser Geheimnis bei uns behalten und Herrn Grey verheimlichen müßten, daß er beobachtet worden und im Augenblick selber von der Polizei umringt war; dies brachte mich von meiner Absicht ab, und so warf ich mich zwischen die Waffe und ihn, und rief, indem ich den Finger auf den Knopf der Klingel legte, ich würde das ganze Haus zusammenrufen, wenn er eine Bewegung mache.

Der Revolver war jetzt auf mich gerichtet. Ueber das Gesicht dahinter huschte ein Lächeln; bevor es seinen Höhepunkt erreicht hatte, drückte ich auf den Knopf.

Fairbrother zuckte zusammen, ließ die Waffe sinken und sagte:

Tapferes Mädchen! –

Ich werde nie seine Stimme vergessen. Dann sprang er mit einem Satz zur Türe. Dort rief er, die Hand auf der Klinke, zurück:

Ich bin schon tiefer in der Patsche gewesen! –

Aber darin irrte er sich; als er die Türe aufriß, prallte er mit dem Polizei-Inspektor zusammen.


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