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Elftes Kapitel

Dies ist Ihre Patientin, – deine neue Pflegerin, mein liebes Kind. Wie sagten Sie, daß Ihr Name sei? Fräulein Ayers?

Jawohl, Herr Grey, Alice Ayers.

Oh, welch hübscher Name! –

Diese liebenswürdige Begrüßung von seiten der Kranken verursachte mir das erste Herzklopfen. Ich mußte, trotz meines Versuchs, dagegen anzukämpfen, erröten.

Da doch einmal ein Wechsel eintreten mußte, freue ich mich, daß man mir Sie als Krankenpflegerin zugeteilt hat, fuhr sie mit schwacher, aber doch wohltönender Stimme fort, und ich erblickte eine magere Hand, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte.

Ganz verwirrt vom Sturm meiner Gefühle, näherte ich mich dem Bette, um die dargebotene Hand zu ergreifen. Auf einen solchen Empfang war ich nicht gefaßt. Ich hatte nicht erwartet, daß mich irgend ein Band der Sympathie an die hochgeborene Engländerin knüpfen und mir so meine Aufgabe erschweren könnte. Als ich aber dastand und ihr in das abgemagerte liebe Gesichtchen blickte, da erkannte ich, daß ich sehr leicht dieses freundliche und herzliche Wesen liebgewinnen könnte. Ich fürchtete mich, den Herrn an meiner Seite anzusehen, als ob ich an ihm etwas entdecken könnte, das mich in Verlegenheit bringen, und diesen Versuch, den ich mit so festen Vorsätzen unternommen hatte, für mich in eine Qual verwandeln und ihn wirkungslos für den Mann machen würde, den ich dadurch zu retten hoffte. Als ich aufblickte und zum ersten Male die scharfen blauen Augen Herrn Greys fragend auf mich gerichtet sah, wußte ich nicht mehr, was ich denken oder wie ich mich benehmen sollte. Er war so groß und kräftig gebaut und sah zugleich so geistvoll aus; ich fühlte, daß ich ihn mit entschiedener Achtung betrachtete, und ich vergaß die Gründe meines Hierseins und den Verdacht, den ich gegen ihn hegte. Und doch hatte dieser Verdacht die Hoffnung mit sich geführt, die Hoffnung für mich und für meinen Geliebten, der nie dem Schimpf entgehen könnte, selbst wenn er seine Strafe abgesessen haben würde, wenn er die Sühne für dieses schreckliche Verbrechen bezahlt hätte, nun, wo die einzige andere Person, die möglicherweise mit dem Verbrechen im Zusammenhang stehen konnte, sich als ein feiner Mann mit einer klaren offenen Seele erwies, wie er mir bei dieser ersten Zusammenkunft erschien.

.

Ich erkannte sehr bald, daß sich seine Befürchtungen mir gegenüber darauf beschränkten, ob ich mich in meinem neuen Heime wohl fühle; daher dachte ich nicht mehr an meine Zweifel und begegnete dem Vater wie der Tochter mit jener ruhigen Zuversicht, die meine Stellung hier erforderte.

Das Ergebnis freute und bekümmerte mich zu gleicher Zeit. Da es mein erster praktischer Fall in der Krankenpflege war, fühlte ich mich glücklich; aber wenn ich daran dachte, daß mein Hauptzweck so kühn und unaussprechlich war, fühlte ich mich unglücklich und elend und nicht mehr ganz so sicher in meiner Ueberzeugung, die mir bisher so sehr zum Trost gereicht hatte.

Ich war infolgedessen nur unvollständig gefeit gegen die Prüfungen, die meiner harrten, als Herr Grey mich etwas später am gleichen Tage in das angrenzende Zimmer rief und mir nach der Erklärung, daß er gerne für ungefähr eine Stunde ausgehen würde, mich fragte, ob es mir unangenehm sei, allein bei meiner Kranken zurückzubleiben.

O nein, Herr Grey, begann ich, aber dann hielt ich, heimlich bestürzt, inne. Ich fürchtete mich davor, allerdings nicht wegen der Kranken, sondern wegen meiner eigenen Stellung. Mein Gott, wenn ich mit ihr allein im Zimmer bliebe, würde ich meine Gefühle nicht verraten? Würde sich nicht die Versuchung, ihren armen, kranken Geist auszuforschen, stärker erweisen, als meine Pflicht, die ich als Wärterin ihr gegenüber hatte? –

Meine Stimme klang zögernd, aber Herr Grey beachtete es nicht; seine Gedanken waren zu sehr mit dem beschäftigt, was er selbst sagen wollte.

Bevor ich gehe, sagte er, habe ich Sie um etwas zu ersuchen, Ihnen eine Warnung zu erteilen. Ich bitte Sie, weder jetzt noch später Zeitungen in das Zimmer meiner Tochter zu bringen oder zuzulassen, daß irgend jemand welche mitbringt. Gerade gegenwärtig steht zu viel Aufregendes darin. Es ist, wie Sie wissen, ein schrecklicher Mord in dieser Stadt passiert. Wenn sie nur die Ueberschrift lesen oder den Namen Fairbrother vernehmen würde – den – den sie kennt, so wäre die Wirkung auf sie äußerst nachteilig. Sie ist nicht allein durch ihre Krankheit, sondern auch von Natur aus sehr empfindlich. Wollen Sie darauf acht geben?

Ich werde darauf acht geben, antwortete ich.

Es war so anstrengend für mich, diese Worte auszusprechen, ja überhaupt in der Gemütsverfassung etwas zu sagen, in die mich die unerwartete Anspielung auf dieses Thema stürzte, daß ich unglücklicherweise seine Aufmerksamkeit erregte. Mit einem fragenden, zweifelnden Blick betrachtete er mich, als er mit scharfer Betonung fortfuhr:

Sie müssen überhaupt dieses Thema in seiner ganzen Ausdehnung als in unserer Familie verpönt betrachten. Nur heitere Gegenstände passen in ein Krankenzimmer. Wenn meine Tochter versucht, irgend welche andere Gegenstände einzuführen, so müssen Sie sie unterbrechen. Lassen Sie sie von nichts reden, was ihre baldige Wiederherstellung aufhalten könnte. Das ist die einzige Instruktion, die ich Ihnen zu geben habe; alle andern müssen von ihrem Arzte kommen.

Ich gab irgend etwas zur Antwort, wobei ich mich anstrengte, möglichst wenig Erregung an den Tag zu legen. Er schien davon befriedigt zu sein, denn sein Gesicht klärte sich wieder auf, und er bemerkte freundlich:

Sie haben für Ihre Jugend einen sehr vertrauenerweckenden Blick. Ich werde keine Sorge haben, solange Sie bei ihr sind, und ich hoffe, daß Sie immer bei ihr sein werden, wenn ich es nicht kann – jeden Augenblick, verstehen Sie! Sie darf keine Minute mit den schwatzhaften Dienstboten allein gelassen werden. Wenn ein Wort von jenem Verbrechen, von dem alle Leute zu sprechen scheinen, in Ihrer Gegenwart erwähnt würde, müßte ich Sie, so sehr ich das bedauern würde, tadeln. –

Diese Erklärung war mir wie ein Schlag, aber ich hielt mich tapfer, nur daß ich vielleicht errötete, aber nicht in dem Maße, daß es einen andern Verdacht in ihm hätte erregen können, als daß ich durch seine Rede in meiner Eigenliebe verletzt worden sei.

Sie soll gut behütet werden, sagte ich. Sie können sich auf mich verlassen, daß ich jede Andeutung über das Verbrechen von ihr fernhalten werde.

Er verbeugte sich, und ich wollte mich bereits zurückziehen, da hielt er mich durch eine Bemerkung zurück, die er in einem Tone aussprach, als fühle er, daß eine Erklärung notwendig sei:

Ich war an dem Ball anwesend, sagte er, an dem das Verbrechen stattfand. Natürlich hat es einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; das gleiche wäre bei ihr der Fall, wenn sie davon erführe.

Gewiß, murmelte ich, indem ich mich fragte, ob er noch etwas sagen würde, und wo ich den Mut hernehmen sollte, hier stehen zu bleiben und ihm zuzuhören, wenn er es täte.

Es ist das erste Mal, daß ich in Berührung mit einem Verbrechen gekommen bin, fuhr er mit einer bei seiner zurückhaltenden Art kaum natürlichen Breite fort. Ich hätte nichts dagegen, wenn mir dieses Erlebnis erspart geblieben wäre. Ein Drama, mit dem man auch nur in so lockerer Weise verknüpft wird, übt eine nachhaltige Wirkung auf die Stimmung aus.

O gewiß, gewiß, murmelte ich, indem ich unwillkürlich nach der Türe blickte. Wußte ich das nicht selber? War ich nicht selbst dort gewesen, ich, die kleine Person, auf die er herunterblickte, ohne das Geschick zu ahnen, das uns beide vereinigte, und – was mir noch überwältigender vorkam – ohne sich davon träumen zu lassen, daß das unsichere kleine Ding, dem er jetzt in die Augen schaute, vielleicht sein größter Feind und die Person war, die er in der ganzen Welt am meisten zu fürchten hatte.

Aber seiner freundlichen Tochter war ich nicht feindselig gesinnt, und die Erleichterung war echt und aufrichtig, die ich in meinem Innern fühlte, als ich sah, daß ich durch mein eigenes Versprechen sogar von der entferntesten Verbindung mit ihr auf diesem verbotenen Gebiete abgeschnitten war.

Aber der Vater! Was sollte ich von dem Vater denken? Ich konnte nur einen Gedanken hegen, so achtenswert erschien er mir von jedem Standpunkt aus betrachtet, mit Ausnahme dieses einzigen, wo ich an seine allzu offensichtlichen Beziehungen zu diesem Verbrechen dachte.

Langsam verstrichen die Stunden des Nachmittags. Bald beobachtete ich das Gesicht meiner schlafenden Patientin, die im süßen Frieden ruhte. Ihre Züge waren oder schienen mir zu kindlich, als daß sie in ihrem Geiste solche Zweifel beherbergen könnte, wie sie in der Warnung, die ich ihr zuschrieb, laut wurden. Bald versuchte ich wieder eine andere Hypothese zu finden, die die Beziehungen dieses Mannes von so bedeutendem Rufe zu einem Verbrechen des Raubmordes anders erklären sollte, als auf dem Wege der Schuld. Aber ich gelangte zu keinem Ergebnis.

Auch in der darauffolgenden Nacht nahmen meine Zweifel kein Ende. Sie erneuerten sich mit noch größerer Stärke am folgenden Tage, als ich Zeuge der Blicke ward, die von Zeit zu Zeit zwischen dem Vater und der Tochter ausgewechselt wurden. Blicke voller Zweifel und Fragen auf beiden Seiten, wenn sie auch nicht gerade solche Zweifel oder Fragen zu betreffen schienen, wie sie meinem Argwohn entsprochen hätten. Diesen Eindruck hatte ich wenigstens, und so verharrte ich nahezu zwei Tage bei meinem Zögern und vertiefte mich in meine Pflichten. Als ich aber eines Abends unerwartet mit Herrn Grey zusammentraf, erwachten alle meine Zweifel mit erneuter Kraft angesichts des Ausdrucks ungewöhnlicher Furcht oder, richtiger ausgedrückt, Angst, der ihm auf dem Gesichte stand und seine Züge, für mein ungewohntes Auge wenigstens, beinahe unkenntlich machte.

Er saß an einem Schreibtisch, augenscheinlich über einer Zeitung, die er seit Stunden nicht berührt zu haben schien, in Träumereien versunken. Als er bei einer von mir verursachten Bewegung auffuhr und meinem Auge begegnete, hätte ich beschwören können, daß seine Wange kreideweiß, seine sonst so stramme Haltung wie gebrochen aussah, und der ganze Mann das Opfer eines schweren und geheimen Entsetzens war, das er vergebens zu bemeistern oder verbergen trachtete. Als ich ihm sagte, was ich ihm mitzuteilen hatte, bemühte er sich, seine Fassung wieder zu erlangen, aber ich hatte ihn ohne seine Maske überrascht, und so konnte mich sein ruhiges Gesicht und sein besonnenes Benehmen nicht wieder täuschen.

Meine Pflicht fesselte mich meist an Fräulein Greys Lager, aber man hatte mir ein kleines Zimmer über dem Gange drüben angewiesen. Nach diesem Zimmer zog ich mich sehr bald nach diesem Vorgange zurück, um mich auszuruhen und mit mir über das kleine Erlebnis ins klare zu kommen.

Denn trotz dieser Beobachtung und meiner nunmehr unerschütterlichen Ueberzeugung verlangte mein Plan Schlauheit und Festigkeit. Der unbeschreibliche Zauber, die Höhe der Bildung und Vornehmheit des Benehmens, die Herr Grey, wie seine Tochter besaßen, übten ihre Wirkung aus. Ich fühlte mich schuldbeladen – wie beschwert. So sicher meine Ueberzeugungen begründet waren, die Kraft zum Handeln ließ mich im Stiche. Wie konnte ich sie wiedererlangen? Indem ich an Anson Durand und seine gegenwärtige elende Lage dachte!

Anson Durand! Oh, wie meine Gefühle in Aufruhr gerieten, als ich in meinem Zimmerchen allein war und dieser Name mir über die Lippen kam. Anson Durand, den ich für unschuldig hielt, den ich liebte, aber den ich jeden Augenblick betrog, welchen ich in tatenlosem Zögern verstreichen ließ. Was sollte das bedeuten, daß der hochwohlgeborene Herr Grey ein hervorragender Staatsmann, ein mit Ehren überschütteter, mit allen Titeln ausgestatteter und allem Anscheine nach ein hochintelligenter Mann, wenn meine Patientin lieb, schön und herzlich zu mir war! Besaß nicht auch Anson Eigenschaften, die in ihrer Art ebenso hervorragend waren, besaß er nicht ebenso unbestreitbare Rechte und auf mich mehr Ansprüche, als irgend ein anderer? Ich zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche und las ihn aufmerksam durch. Es war die einzige Mitteilung, die ich von seiner Hand besaß, der einzige Brief, den er mir je geschrieben. Ich hatte ihn wohl schon hundertmal gelesen, aber als ich mir noch einmal seinen wohlbekannten Inhalt wiederholte, da fühlte ich, wie mein Herz stark und fest in dem Entschlusse wurde, der mich zu dieser Familie geführt hatte.

Dann steckte ich den Brief wieder ein, öffnete meine Reisetasche und entnahm ihrem innersten Versteck einen Gegenstand, den ich kaum in der Hand hatte, als ein instinktives Gefühl der Unruhe mich furchtsam zum Fenster und zur Türe schauen ließ, trotzdem ich das erstere verhängt, die letztere zugeriegelt hatte. Es war mir, als ob ein anderes Auge, außer dem meinigen auf den Gegenstand blickte, den ich so vorsichtig in der Hand hielt; als ob wenigstens die Wände mich beobachteten; und das daraus entspringende Gefühl glich so genau dem Schuldbewußtsein, daß ich mir noch einmal im Innern die Versicherung geben mußte, daß ich nicht einen ehrlichen Menschen der Strafe überführen, ja nicht einmal einen schlechten davor bewahren, sondern einzig und allein der Wahrheit zum Siege verhelfen wollte. Ich konnte mir keine größere Schmach denken, als es die sein mußte, wenn ich aus übertriebener Feinfühligkeit oder Rücksicht den Mann zu retten versäumte, der sein Vertrauen in mich gesetzt hatte.

Der Gegenstand in meiner Hand war nichts Geringeres als das Stilett, mit dem Frau Fairbrother ermordet worden war. Die Polizei hatte es Herrn Gryce und der Detektiv mir zu einem bestimmten Zwecke anvertraut. Die Zeit, es zu diesem Zwecke zu benützen, war gekommen oder stand wenigstens nahe bevor; ich fühlte, daß ich mir die notwendigen Mittel und Wege überdenken mußte.

Ich befreite das Stilett von dem Papier, in das es verpackt war und untersuchte es mit großer Sorgfalt. Bis jetzt hatte ich nur Abbildungen davon gesehen; nunmehr lag es selbst in meiner Hand. So unangenehm mich der Anblick berührte, mich, ein schwaches Weib, das wohl Wunden zu heilen, aber keine zu schlagen im Sinne hatte, so zwang ich mich doch zu vergessen, warum das Ende des Stahls rostig war, und sah mir hauptsächlich die Devise an, mit der der Griff verziert war.

Das war also der Wahlspruch des Greyschen Hauses! Wie immer die Sache enden mochte, diese historische Devise würde mir stets als Entschuldigung übrig bleiben.

Ich hatte den Auftrag, die Waffe insgeheim auf den Schreibtisch des Herrn Grey zu legen, in einem Augenblick, wo er sie sicher erblicken würde und ich ihn beobachten könnte. Wenn er beim Anblick dieses verhängnisvollen Stahls sich verraten, wenn er, meine Anwesenheit nicht ahnend, Ueberraschung und Schrecken zeigen würde, dann wußten wir, wie wir vorzugehen hatten; die Gerechtigkeit wäre dann von ihren Fesseln befreit, und die Polizei könnte sich ihm ohne Umstände nähern. Das war eine heikle Aufgabe. Ich war mir völlig bewußt, wie heikel sie war, als ich das Stilett unter meinem Wärterinnenschurz verbarg und mich anschickte, den Gang zu überschreiten. Würde ich die Bibliothek beleuchtet vorfinden? Würde ich eine Gelegenheit haben, mich seinem Schreibtisch zu nähern? Oder würde ich diesen Zeugen eines weltberühmten Verbrechens in Fräulein Greys Zimmer tragen müssen? Würde ich dazu verurteilt, an dem Bette des unschuldigen Mädchens zu sitzen, während das Stilett seine brutalen Umrisse auf meine Brust abdrücken würde, und dabei den unschuldigen Augen begegnen und auf die freundlichen Fragen Antwort geben zu müssen, die dann und wann über ihre hübschen Lippen kamen?

Die Zimmer waren so angeordnet, daß es notwendig war, durch die Bibliothek zu gehen, um das Schlafzimmer meiner kleinen Patientin zu erreichen.

Vorsichtig, aber immerhin so laut auftretend, daß es nicht den Eindruck der Heimlichkeit machen sollte, überschritt ich daher den Gang und drückte die Türe auf. Das Zimmer war leer. Herr Grey war nicht bei seiner Tochter, und ich konnte durch das Zimmer hindurchgehen, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden. Aber niemals hatte ich eine Aufgabe unternommen, die mehr Mut erforderte und die meinem natürlichen Instinkte so zuwiderlief. Jeder Schritt, den ich vordrang, war mir unausstehlich, aber der Gedanke an meine Liebe zu dem Manne, für den ich diese Schritte unternahm, half mir vorwärts. Nur, als ich den Stuhl erreichte, in dem Herr Grey gewöhnlich saß, fand ich, daß es leichter ist, eine Handlung zu planen, als sie auszuführen. Familiensinn und häusliche Tugenden haben von jeher einen größeren Eindruck auf mich gemacht, als die Berühmtheit eines Mannes. Die Stellung dieses Mannes in seinem Vaterland, seine ersprießliche Tätigkeit daselbst, ja sogar sein Ruhm als Staatsmann und Denker waren Tatsachen für mich, aber Tatsachen, unter denen ich mir nicht viel vorstellte. Seine väterlichen Gefühle, der Raum, den seine Tochter in seinem Herzen einnahm, diese Vorzüge dagegen waren für mich Wirklichkeiten, die ich verstehen konnte und vor allem schätzte; und davon, nicht von seiner gesellschaftlichen Stellung, erzählte mir dieser Sitz, sein Lieblingsplatz. Wie oft hatte ich ihn hier stundenlang sitzen sehen, das Auge auf die Tür geheftet, hinter der sein Liebling krank darniederlag! Sogar jetzt war es mir leicht, mir sein Gesicht ins Gedächtnis zurückzurufen, wie ich es bisweilen durch den Spalt der plötzlich geöffneten Tür erblickt hatte, und ich fühlte das schwere Keuchen meiner Brust, das Beben meiner Hand, als ich das Stilett hervorzog und mich anschickte, es auf den Platz zu legen, wo es sein Auge erblicken mußte, wenn er das Lager seiner Tochter verließ.

.

Aber rasch fuhr meine Hand unter meine Schürze zurück und kam wieder leer zum Vorschein. Ein Stoß von Briefen lag vor mir auf dem Schreibtisch, der oberste trug meine Adresse und außerdem in einer Ecke die Aufschrift: »Wichtig«. Ich kannte nicht die Handschrift, aber ich hatte das Gefühl, daß ich diesen Brief öffnen und lesen mußte, bevor ich mich oder denjenigen, der hinter meinem Rücken stand, durch dieses verzweifelte Unternehmen kompromittierte.

Ich warf einen Blick hinter mich. Als ich sah, daß die Türe Fräulein Greys geschlossen war, nahm ich den Brief an mich und eilte damit in mein Zimmer zurück. Wie ich angenommen hatte, kam der Brief von Herrn Gryce, und als ich ihn las, erkannte ich, daß ich ihn keinen Augenblick zu früh erhalten hatte. In absichtlich harmlosen Worten, deren Sinn ich indes nicht mißverstehen konnte, unterrichtete er mich, daß einige unvorhergesehene Tatsachen ans Licht gekommen seien, die alle früheren Verdachtsgründe vernichteten und die kleine Ueberraschung, die ich geplant, überflüssig machten.

Der Brief enthielt keine Anspielung auf Herrn Durand. Doch lautete der letzte Satz:

Lassen Sie alle Ihre Sorgen fahren und widmen Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit und Sorgfalt Ihrer Patientin!


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