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Achtes Kapitel

Am nächsten Tage hatte ich mit meinem Onkel eine Unterredung, die für den weiteren Verlauf der Geschichte einen wesentlichen Umschwung herbeiführen sollte.

Ich hatte mir nämlich eine Theorie zurechtgelegt, von der ich hoffte, daß sie den Weg zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens bahnen würde. Daß diese selbst zu einer völligen Rehabilitierung Herrn Durands führen müßte, davon war ich felsenfest überzeugt.

Nunmehr erklärte ich meinem Onkel, daß ich diese Theorie, deren Charakter ich nicht näher erklärte, dem Inspektor Dalzell vortragen wolle.

Einmal, sagte ich, ist der Inspektor von Anfang an mit diesem Verbrechen in Verbindung gestanden, und dann habe ich bemerkt, daß uns beide eine Sympathie verbindet, die mir eine freundliche Aufnahme meiner Ansicht verbürgt! –

Mein Onkel schüttelte den Kopf und sagte in bestimmtem Tone:

Du vergißt, daß inzwischen allerlei vorgefallen sein muß, was den Verdacht der Polizei befestigt hat. Denn sonst würde der Inspektor, dessen Nachsicht du rühmst, sich nicht entschlossen haben, jenen Herrn verhaften zu lassen. –

Hartnäckig beharrte ich bei meiner Absicht, ohne ihm jedoch meine Theorie auseinanderzulegen. Er schien auch gar keine Lust zu haben, sie zu erfahren, sondern schloß mit dem ungeduldigen Ausruf:

Wie willst du dieses Dunkel aufklären können, an dem ein Mann wie der Inspektor Dalzell gescheitert ist? Nicht einmal der Detektiv Gryce Sprich: Grais. würde sich in diesem Geheimnis zurechtfinden, und da meinst du junges, unerfahrenes Mädchen, zum Ziele zu gelangen?

Auf diese Frage erhielt mein Onkel keine Antwort, weil mich viel zu sehr der Gedanke beschäftigte, der bei der unwilligen Rede meines Onkels in mir aufgeblitzt war.

Wie, wenn ich statt zum Inspektor zu gehen, mich an den Detektiv Gryce wandte, der erst vor kurzem in einem Falle, wo die Polizei nicht mehr ein noch aus wußte, den richtigen Weg gefunden hatte? In diesem Augenblick beschloß ich, den berühmten Detektiv um seine Hilfe anzugehen, und so stimmte ich im Innern meinem Onkel nur bei, als er die Unterredung mit den Worten schloß:

Laß den Inspektor ruhig arbeiten und mach ihn durch deine Theorien nicht irre bei seinen Untersuchungen! Wenn Herr Durand unschuldig ist, wird sich seine Unschuld auch erweisen, und dies wird um so schneller geschehen, je weniger du den Inspektor mit deinen Theorien von der Arbeit abhältst! –

So kam es, daß ich, statt mich zum Inspektor zu begeben, zu einem freundlichen Herrn in älteren Jahren fuhr, von dem ich sofort aufs freundlichste empfangen wurde. Er geleitete mich in väterlicher Weise zu einem bequemen Sessel und bat mich mit einer altmodischen Verbeugung, es mir bequem zu machen. Hierauf erzählte er mir in kurzen Worten, er habe um diese Jahreszeit stets an der Gicht zu leiden, und bat mich, ich möchte entschuldigen, wenn er mit Rücksicht auf sein schmerzendes Bein vielleicht die gesellschaftlichen Formen ein wenig vernachlässige. Als ich ihm nun statt zu antworten einen Schemel zurechtrückte und ihm anriet, das Bein ohne Rücksicht auf konventionelle Aeußerlichkeiten hoch zu lagern, erklärte er:

Sie haben Ihren Kursus für Krankenpflege nicht umsonst mitgemacht, wie ich sehe, Fräulein Van Arsdale.

Er heftete hierbei seinen Blick auf einen elektrischen Knopf bei der Türe. Ich war über seine Rede so erstaunt, daß ich im Augenblick gar nichts zu sagen wußte. Woher wußte er, daß ich Krankenpflegerin war? Woher kannte er meinen Namen?

Sie sind erstaunt, fuhr Herr Gryce fort, ohne mich dabei anzublicken, woher mir Ihr Name bekannt ist. Die Sache erklärt sich auf die einfachste Weise. Ich habe der Gerichtsverhandlung beigewohnt, deren Ergebnis Sie hierherführt. Für Ihren Besuch danke ich Ihnen herzlich, da er mir einen Besuch bei Ihnen erspart, und dies ist mir gegenwärtig, solange mein Bein mir so üble Beschwerden bereitet, sehr angenehm.

.

Sie wollten mich besuchen, Herr Gryce? stammelte ich, von neuem überrascht. Mehr brachte ich nicht über die Lippen, da mir sein freundliches Lächeln verriet, daß mir von seiner Seite eine Hilfe zukommen sollte, die ich nirgends sonst gefunden haben würde. Und nochmals dankte ich im Innern meinem Onkel dafür, daß er mich, ohne es zu beabsichtigen, an diesen freundlichen, alten Herrn gewiesen hatte, zu dem ich schon beim ersten Blick instinktiv ein festes Zutrauen gefaßt hatte.

Sie werden das Nähere nachher erfahren, mein liebes Fräulein, sagte er nun. Soviel will ich Ihnen schon jetzt verraten: Dieser geheimnisvolle Fall hat mich von Anfang an interessiert, und trotzdem es gegenwärtig für mich das beste wäre, den Gebrechen des Alters (damit deutete er auf sein Bein) meine Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich mich ein wenig mit dieser Geschichte beschäftigt. Damit hängt auch der beabsichtigte Besuch bei Ihnen zusammen, Sie tapferes kleines Fräulein!

Er schwieg einen Augenblick lächelnd, dann ergriff er wieder das Wort.

Aber wir wollen, sagte er, die Angelegenheit in der richtigen Ordnung vornehmen. Darum bitte ich Sie, mir zu erklären, welche Ueberlegungen Sie mir anzuvertrauen haben. Nehmen Sie es mir nicht übel, Fräulein Van Arsdale, wenn ich Ihren Anschauungen meinen Widerstand entgegensetze. Nur so werden wir unsern Weg klar vor uns sehen. Ich stelle mich daher auf den Standpunkt der Polizei und nehme die Hypothese als richtig an, wonach Herr Durand schuldig ist. An Ihnen wird es liegen, die Unrichtigkeit dieser Hypothese zu beweisen. Beginnen Sie also, wenn ich bitten darf!

Mit diesen Worten lehnte er sich in seinem Sessel zurück und richtete sein Auge durchbohrend auf einen Blumenstrauß, der auf dem Tische stand. Ich mußte erst meine Gedanken sammeln, so sehr hatte mich die Hoffnung verwirrt, die der freundliche Mann wieder in mir geweckt hatte. Dann begann ich:

Die Polizei hält Herrn Durand trotz seines tadellosen Rufes für schuldig, weil sie die Möglichkeit nicht zugeben will, daß jemand schuldig sei, der bei seinen Bekannten wie in der Oeffentlichkeit eine solche Achtung besitzt, daß schon der bloße Gedanke an seine Schuld albern und beinahe beleidigend für das Land erscheint, für das er anerkanntermaßen eine Zierde bildet.

Glauben Sie? fragte der Detektiv nachdenklich. Aber bitte fahren Sie fort, Fräulein!

Ich bin mir wohl bewußt, fuhr ich fort, welchen Eindruck so kecke Worte machen müssen. Aber Sie werden mich verstehen, Herr Gryce, wie ich dazu komme. Ich bin es ja, die durch meinen Versuch, Herrn Durand zu rechtfertigen, ihn nur in seine schreckliche Lage gebracht hat. Dies treibt mich dazu, noch einmal den Versuch zu unternehmen, den einzigen Menschen, der außer Herrn Durand zu jener verhängnisvollen Zeit möglicherweise Zutritt zu Frau Fairbrother hatte, der Schuld an dem Verbrechen zu überführen. Wie könnte ich die Hände im Schoß ruhen lassen?

Gewiß, mein liebes Fräulein, gewiß, sagte Herr Gryce mit freundlichem Lächeln, aber ich fürchte, wir verlieren nur wertvolle Zeit, wenn Sie fortfahren, sich zu rechtfertigen. Bitte tragen Sie ruhig das vor, was Sie veranlaßt hat, mich aufzusuchen! –

Diese liebenswürdige Aufmunterung bewog mich, nunmehr geradenwegs auf mein Ziel loszugehen.

Meine Gründe mögen vielleicht nicht so schwerwiegend sein, sagte ich daher, wie jener Blutfleck auf Herrn Durands Hemd, aber ich muß sie Ihnen unterbreiten, so wie sie sind. Aber vor allem wird es notwendig sein, daß Sie für den Augenblick wenigstens die Aussagen des Herrn Durand als wahr betrachten. Wollen Sie dies tun?

Eigentlich widerspricht das unserer Abmachung, erklärte er lächelnd, aber ich will es versuchen.

Dann noch etwas, was noch schwieriger sein wird: ich möchte Sie bitten, ein wenig Vertrauen zu meiner Urteilskraft zu fassen. Ich sah den Mann, und er war mir unsympathisch, lange bevor noch jemand auch nur an das Drama dachte, das sich an jenem Abend abspielen sollte, oder irgend jemand in Verdacht geriet. Ich beobachtete ihn, wie ich andere beobachtete. Ich erkannte, daß er nicht zu dem Ball gekommen war, um Herrn Ramsdell eine Freude zu bereiten oder um sich selbst in der Gesellschaft zu vergnügen, sondern aus einem viel wichtigeren Grunde, und daß dieser Grund mit Frau Fairbrothers Diamant zusammenhing. Bevor sie den Schauplatz betrat, war er gleichgültig, ja fast mürrisch. In dem Augenblick aber, wo er ihrer ansichtig wurde, hellten sich seine Gesichtszüge in der auffallendsten Weise auf. Nicht weil sie ein schönes Weib war, denn er beehrte ihr Gesicht oder ihre prächtige Gestalt mit keinem Blicke. All sein Interesse häufte sich auf den großen Fächer, der hin und her bewegt, das wundervolle Juwel an ihrer Brust abwechselnd verbarg und enthüllte. Als sie zufällig den Fächer einen Augenblick herunterhängen ließ und er den großen Diamanten genau betrachten konnte, da wurde ich einer solchen Veränderung gewahr, daß ich davon höchlich überrascht wurde. Und hätte sich in jener Nacht nichts mehr ereignet, das dieses Weib und ihren Diamanten in den Vordergrund des Interesses stellte, so hätte ich doch die Ueberzeugung mit mir nach Hause genommen, daß sich hinter den Gefühlen, die er so offen zur Schau trug, ein Interesse von nicht geringer Bedeutung verbarg.

Wie phantasievoll, liebes Fräulein Van Arsdale, bemerkte der Detektiv. Interessant, aber phantastisch.

Ich weiß es, versetzte ich. Ich habe bis jetzt noch nicht den Boden der Tatsachen betreten. Aber die Tatsachen werden nicht auf sich warten lassen, Herr Gryce. –

Er war erstaunt. Offenbar war er nicht daran gewöhnt, ein Mädchen die Entscheidungen des Gerichtshofes kritisieren zu hören.

Nur zu, sagte er, ich freue mich, daß Sie nicht bloß Gefühle, sondern auch Tatsachen beisteuern können.

Frau Fairbrother, sagte ich, trug beim Ball den echten Diamanten, nicht die Fälschung. Davon bin ich überzeugt. Das Stück Glas oder was es war, das bei der Verhandlung ausgestellt wurde, war zwar ziemlich glänzend; aber es war nicht der funkelnde Stern, den sie auf der Brust trug, als sie auf dem Wege zum Alkoven an mir vorüberging.

Wie können Sie das beweisen? fragte Herr Gryce jetzt scharf, indem das Lächeln aus seinem Gesichte verschwand.

Das Interesse, das Herr Durand zeigte, die ausgesprochene Aufregung, in die er beim ersten Anblick des Steines geriet, bestärken in mir die Aussage, die er vor Gericht beschwor, wonach er in jenem Augenblick überzeugt war von der Echtheit und dem unermeßlichen Werte des Diamanten. Er ist, wie Sie wissen, bekannt als Sachverständiger für Edelsteine und muß sich sehr wohl bewußt gewesen sein, daß er durch dieses Geständnis seine Lage eher verschlimmern als verbessern würde. Diesen Diamanten trug sie also, als sie den verhängnisvollen Alkoven betrat und mit einem Lächeln aus dem Gesicht ihre Reize auf jeden wirken zu lassen sich anschickte, der in ihren Bereich kommen würde. Aber nun ereignete sich etwas. Bitte, lassen Sie es mich so schildern, wie ich mir's ausgedacht habe! Ein Ruf vom Fahrweg her oder ein kleiner Schneeball, der an das Fenster geworfen wurde, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann, der unten vor dem Hause stand und ihr den Zettel heraufreichte, den er an der Peitsche befestigt hatte. Ich weiß nicht, ob die Polizei diesen Mann ausfindig gemacht hat oder nicht. Darf ich fragen, Herr Gryce, ob Ihnen die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchung bekannt sind?

Er nickte.

Wenn es der Polizei gelungen ist –

Der Detektiv rührte sich nicht.

Ich nehme also an, fuhr ich fort, daß es ihr nicht gelang; daher kann ich in meinen Annahmen weiterfahren. Frau Fairbrother nahm das Papier entgegen. Vielleicht hatte sie es erwartet und setzte sich gerade aus diesem Grunde in den Alkoven; vielleicht aber war sie auch überrascht davon. Wahrscheinlich werden wir nie den wahren Sachverhalt über diesen Punkt feststellen können; aber was wir annehmen können und auch wollen – wenn Sie immer noch das Verbrechen vom Standpunkt der Erklärungen Herrn Durands aus betrachten wollen, – das ist der Umstand, daß die Mitteilung einen großen Eindruck auf sie machte und sie bewog, sich sobald wie möglich des Diamanten zu entledigen. Man hat sich zu folgender Lesart des Gekritzels geeinigt: »Nimm Dich in acht! Er hat die Absicht, zum Ball zu kommen. Mach Dich auf Schlimmes gefaßt, wenn Du ihm den Diamanten nicht gibst!« So lautete, oder wenigstens ähnlich, die Entscheidung, nicht wahr? Aber warum wurde ihr denn der Zettel überreicht, ohne daß der Satz vollendet ward? Eilte es so sehr, daß man keine Zeit mehr dazu hatte? Ich glaube es kaum. Ich halte eine andere Erklärung für richtiger, die mit verblüffender Deutlichkeit auf die Möglichkeit hinweist, daß die Person, auf die sich die unvollendete Mitteilung bezieht, nicht Herr Durand war, sondern eben ein gewisser anderer, dessen Name ich nicht zu erwähnen brauche. Und daß der Grund, warum es der Polizei mißlang, den Boten ausfindig zu machen, von dessen äußerer Erscheinung sie ja ziemlich genau unterrichtet war, daß dieser Grund darin zu suchen ist, daß man sich nicht unter der Dienerschaft eines gewissen distinguierten Besuchers unserer Stadt umgesehen hat.

Oh, fuhr ich in fieberhafter Eile fort, als ich sah, wie der Detektiv die Lippen zu einer zweifellos sarkastischen Bemerkung öffnete, ich weiß genau, was Sie mir zu erwidern sich veranlaßt sehen. Warum sollte ein Diener eine Warnung gegen seinen eigenen Herrn überbringen? Wenn Sie Geduld mit mir haben wollen, werden Sie es bald sehen, aber erst möchte ich noch klarlegen, daß Frau Fairbrother, nachdem sie diese Warnung, gerade bevor Herr Durand im Alkoven erschien, erhalten hatte, daß dieses rücksichtslose, ränkesüchtige Weib den Gegenstand loszuwerden trachtete, gegen den die Warnung gerichtet war, wenn wir die Auffassung beibehalten, die wir vorübergehend wenigstens als der Wahrheit entsprechend betrachten wollten. Ihrer Künste sich bedienend, und möglicherweise die Natur des Interesses, das ihr Herr Durand entgegenbringt, mißverstehend, händigt sie ihm den Diamanten ein, den sie in ihre zusammengerollten Handschuhe gesteckt hat. Und er nimmt sie arglos mit sich und knüpft so unbewußt selber das Band, das ihn unauflöslich an ein schreckliches Verbrechen kettet, das ein anderer begangen hat. Jener andere aber, das glaube ich wenigstens im innersten Herzen, ist der Mann, den ich wenige Minuten, bevor ich mich zum Speisesaal begab, unten bei der kleinen Treppe zum Alkoven an der Wand lehnen sah.

Ich schloß mit einem Seufzer. Es war mir fast unmöglich, die unbewegliche Miene des alten Herrn zu betrachten, der jetzt die trockene Bemerkung fallen ließ:

Entschuldigen Sie, Fräulein Van Arsdale, aber was Sie mir da erzählen, sind alles Hypothesen. Sie wollten mir doch eine Tatsache –

Gewiß, Herr Gryce, unterbrach ich ihn hastig, wenn Sie nur noch einen Augenblick mit mir Geduld haben wollen. Ich kann eine Entschuldigung für eine so ungeheuerliche Behauptung in Anspruch nehmen. Ich bin vielleicht die einzige Person, die Sie über eine gewisse Tatsache aufzuklären vermag, über die Sie sich sicher im Unklaren befinden. Herr Gryce, haben Sie eine Erklärung für die Scherben der zwei Kaffeetassen gefunden, die zu Füßen der Ermordeten lagen? Bei der Verhandlung hat sich dieses Geheimnis nicht aufgeklärt, wie ich bemerkt habe.

Bis jetzt noch nicht, rief er jetzt aus, indem sich mit einem Male sein Gesicht belebte, aber können Sie mir etwas darüber mitteilen?

Möglicherweise nicht! Aber das kann ich Ihnen sagen: Als ich an jenem Abend den Eingang zum Speisesaal erreichte, blickte ich noch einmal zurück und sah – ob es die Vorsehung war, die meine Augen leitete, das kann erst die Zukunft erweisen – Herrn Grey im Begriffe, von einem Servierbrett zwei Tassen zu nehmen, die irgend ein Kellner auf einem Tischchen gerade außen an der Türe zum Empfangssalon stehen gelassen hatte. Ich sah nicht, wohin er sie trug; ich erkannte nur, daß sein Gesicht dem Alkoven zugekehrt war. Und da sich keine andere Dame darin oder auch nur irgendwo in seiner Nähe befand, habe ich den kühnen Schluß gezogen, daß –

Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, fiel Herr Gryce hier ein: Sie haben wirklich gesehen, daß Herr Grey zwei Tassen nahm und sich dem Alkoven zukehrte, in dem Augenblick, der, wie wir alle wissen, so kritisch gewesen? Das hätten Sie längst der Polizei mitteilen sollen! Sie hätte ihn möglicherweise als Zeugen gebrauchen können. –

Ich schenkte kaum seinen Worten Gehör, so sehr war ich von meinem eigenen Gedankengang erfüllt.

Es waren, sagte ich, noch mehr Leute in der Halle, besonders in dem Teile, wo ich stand. Eben drang eine ganze Schar aus dem Billardzimmer, wo getanzt worden war, und es ist leicht möglich, daß er jenes abgeschlossene Gemach betreten und wieder verlassen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte zu frühe und viel zu deutlich seinen Mangel an Interesse an der allgemeinen Unterhaltung zu erkennen gegeben, als daß man wie bei seiner Ankunft auch jetzt noch jede seiner Bewegungen beobachtet hätte. –

Ich wollte in meinen Ausführungen noch weiterfahren, aber Herr Gryce unterbrach mich mit einer kleinen Handbewegung.

Sie geraten, sagte er sodann, indem er sein Bein scharf fixierte, wieder auf das Gebiet der Vermutungen und Annahmen, mein liebes Fräulein. Die Tatsache, die Sie zur Aufklärung dieser geheimnisvollen Geschichte beigetragen haben, ist recht interessant. Aber einen Beweis – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen jetzt wieder opponiere – einen Beweis haben wir nicht dafür, daß die Kaffeetassen, die Herr Grey holte, mit den zerbrochenen Tassen im Mordgemach identisch sind.

Aber –

Ich wollte ihm sagen, daß ich noch eine zweite, weit zwingendere Tatsache in Erfahrung gebracht hatte. Aber dieses Mal ließ er mich nicht reden, sondern unterbrach mich mit den Worten:

Erlauben Sie, Fräulein Van Arsdale, ich will damit nicht sagen, daß Ihre Beobachtung wertlos ist. Es müßten aber noch weitere Tatsachen hinzutreten, die die Identität der Tassen über allen Zweifel erheben würden. Sonst kann uns Ihre Beobachtung nichts nützen. –

Meine Hoffnung war, trotz meiner andern Beobachtung, wieder auf den Nullpunkt gesunken. Denn diese zweite Tatsache bot keinen weniger unvollständigen Beweis, als die bereits erwähnte.

Wer soll denn diese Tatsachen beibringen? fragte ich nun ganz verzweifelt.

Wahrscheinlich niemand, lautete die trockene Antwort. Aber ein Lächeln, das ich in dem Gesichte des Detektivs entdeckte, milderte die Grausamkeit seiner Erklärung, und sofort fügte er hinzu:

Zum Troste will ich Ihnen nun auch etwas erzählen, mein liebes Fräulein.

Gespannt hing ich an seinem Munde. Ich wagte kaum zu atmen.

Erst aber müssen wir einen Pakt miteinander schließen, setzte er hinzu. Sie müssen mir das tiefste Stillschweigen über meine Eröffnungen zusichern.

Ohne Bedenken schlug ich in seine Hand ein, indem ich sagte:

Wem sollte ich denn etwas davon verraten? Mein Onkel weiß ja nicht einmal etwas von dem, was ich Ihnen gesagt habe!

Gut, meinte er, indem wiederum ein Lächeln um seinen Mund und seine Augen spielte. Dann sagte er:

Ich habe Ihnen schon erklärt, daß ich die Absicht hatte, Sie aufzusuchen. Nun will ich Ihnen auch den Grund dazu verraten: ich werde Sie vielleicht zu meiner Assistentin machen. Wenn wir nun zusammen arbeiten wollen, müssen Sie auch wissen, warum es geschieht. Und nun zu der angedeuteten Tatsache. Ist Ihnen in den Untersuchungen der Polizei keine Lücke aufgefallen? –

Gewiß hatte ich Lücken bemerkt, aber in diesem Augenblick vermochte ich mich nicht mehr zu erinnern, welcher Art sie gewesen. Herr Gryce hatte sich mittlerweile erhoben. Mit Hilfe eines Stockes humpelte er zum Schreibtisch hinüber, entnahm ihm eine Zeitung und breitete sie vor mir auf dem Tische aus.

Aha, die Mordwaffe! rief ich aus.

Er nickte, ließ sich wieder auf seinen Stuhl nieder und sagte:

Sie sehen die Verzierungen des Griffs? Eine der Devisen hat meine besondere Aufmerksamkeit erregt.

Verständnislos betrachtete ich die Abbildung.

Es ist der Polizei nicht gelungen, fuhr er in sachlichem Tone fort, diese Waffe bis zu ihrem Besitzer zurück zu verfolgen. Warum hat man sich nicht in der Heraldik und unter den Devisen berühmter Häuser umgesehen? Wie naheliegend ist dieser Gedanke, aber wie oft auch kommt man zum Einfachsten zuletzt! Man würde, wie ich, gefunden haben, daß diese da in England nicht unbekannt ist. Ich kann Ihnen sagen, auf wessen Wappenschild sie häufig zu sehen ist, doch warne ich Sie, übereilte Schlüsse daraus zu ziehen, wenn dieser Umstand auch Ihre Gefühle in scheinbar unwiderlegbarer Weise zu bestätigen scheint. Ich habe nämlich mit leichter Mühe herausgefunden, daß diese Devise identisch ist mit der jener Familie, welcher der von Ihnen so stark verdächtigte Herr angehört.


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