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Vierzehntes Kapitel

Erst als der Inspektor noch verschiedene andere Befehle erteilt und sich dann leise mit Herrn Gryce besprochen hatte, bat er mich, wieder in sein Büro zu kommen. Herr Gryce lächelte, als unsere Blicke sich begegneten, aber er und der Inspektor spielten so wenig als ich auf das an, was sich eben ereignet hatte. Nichtsdestoweniger verstanden wir uns.

Als ich mich wieder gesetzt hatte, nahm der Inspektor unsere Unterhaltung genau an dem Punkte wieder auf, wo sie unterbrochen worden war.

Die Beschreibung, die ich Ihnen gerade vorlesen wollte, fuhr er fort, – – darf ich sie Ihnen jetzt mitteilen?

Gewiß, gerne, sagte ich, es ist die Wellgoods, nicht wahr? –

Er gab mir keine Antwort, nur warf er mir einen eigentümlichen Seitenblick zu, dann nahm er das Papier vom Schreibtisch und las mir das Folgende vor:

Alter fünfundfünfzig, sieht aber wie ein Sechziger aus. Mittlere Größe, unbedeutende Züge, Kopf mit Ausnahme eines Kranzes von dünnem Haar kahl. Kein Bart. Nase groß. Mund breit und schlaff. Augen halb geschlossen, bisweilen mit eigentümlichem Blicke. Keine besonderen Kennzeichen an Gesicht oder Gestalt mit Ausnahme seiner tiefen Runzeln und einer kaum bemerkbaren schiefen Lage der rechten Schulter.

Erkennen Sie darin Wellgood? fragte er dann plötzlich.

Seine Gestalt ist mir nur ganz schwach in der Erinnerung, antwortete ich zweifelnd. Aber der Eindruck, den ich von dieser Beschreibung erhalte, stimmt nicht genau mit dem Eindruck, den mir der Kellner bei dem kurzen Augenblick, den ich ihn gesehen habe, machte.

Das haben mir auch schon andere gesagt, bemerkte er, indem er sehr enttäuscht aussah. Die Beschreibung rührt nämlich von Sears her und wurde mir von einem Mann übermittelt, der bekannt mit ihm war. Wenn nun die verschiedenen Beschreibungen miteinander übereinstimmen würden, hätten wir es leicht. Aber die wenigen Personen, die Wellgood gesehen haben, geben ganz verschiedene Angaben über seine Gesichtszüge, ja selbst über seine Haarfarbe. Es ist erstaunlich, wie oberflächlich die meisten Menschen in ihren Beobachtungen sind, selbst wenn sie tagtäglich mit dem Gegenstand dieser Beobachtung in Berührung kommen. Herr Jones behauptet, der Mann habe graue Augen, eine dunkle Perücke, eine fleischige Nase und ein ausdrucksloses Gesicht gehabt. Seine Hausfrau dagegen sagt aus, seine Augen seien blau, sein Haar, ob er eine Perücke trug oder nicht, hellbraun und sein Blick unruhig und durchdringend gewesen; dieser Blick habe ihr immer angst gemacht. An seine Nase erinnert sie sich nicht mehr. Beide stimmen, wie übrigens alle anderen, darin überein, daß er keinen Bart getragen habe, nur Sears erklärte das Gegenteil, aber ein Bart kann leicht beseitigt werden. Und alle behaupten, sie würden ihn sofort wieder erkennen, wenn sie ihn sehen würden. So liegen die Dinge. Selbst Sie können mir keine bestimmte Beschreibung geben, ich meine, eine Angabe, die so zuverlässig oder unzuverlässig wäre, wie die Sears'? – –

Ich schüttelte den Kopf. Wie die anderen hatte ich das Gefühl, ich würde ihn wieder erkennen, wenn ich ihn sehen würde, aber mehr als das vermochte ich nicht zu sagen. Der Mann schien mir so wenig Besonderes an sich zu haben. Der Inspektor, der vielleicht gehofft hatte, daß all diese Angaben mein Gedächtnis unterstützen würden, zuckte mit den Achseln und machte gute Miene zum bösen Spiel.

Da ist nichts zu machen, sagte er, wir werden eben Geduld haben müssen. Ein einziger Tag kann die ganze Sachlage verändern. Wenn wir einen dieser beiden verhaften können – –

Er unterbrach sich, da er einzusehen schien, daß er ein Wort zuviel gesagt hatte, und wandte sich nun an Herrn Gryce mit der Frage, ob er mir noch etwas zu sagen hätte. Dieser antwortete:

Wenn Sie mit den Ausführungen über Ihr Untersuchungsfeld zu Ende sind, möchte ich noch einige Worte über das meinige sagen! –

Diese Bemerkung versetzte mich in Erstaunen. Sie bewies mir, daß, obschon er meinen Versuch verschoben hatte, er doch, trotz all des Vorgefallenen, einen Zusammenhang Herrn Greys mit dem Geheimnis nicht für aufgehoben ansah. Er hielt immer noch die Teilung in der Untersuchungsarbeit aufrecht, die er mit dem Inspektor vereinbart hatte, bevor all diese neuen Tatsachen bekannt geworden waren. Und ohne Umschweife fragte er mich nun, ob es mir gelungen sei, eine Probe der Handschrift Fräulein Greys zu erhalten. Ich mußte dies leider verneinen, da alles mit der größten Sorgfalt entfernt worden sei.

Aber es ist möglich, daß mir bald eine Probe in die Hände fällt, setzte ich hinzu. Ich habe nicht vergessen, wie wichtig sie für diese Untersuchung ist.

Sehr richtig, bemerkte Herr Gryce. Die Zeilen, die der Frau Fairbrother vom Fahrweg aus übermittelt wurden, bilden den zweitwichtigsten Anhaltspunkt, den wir besitzen. – –

Der Inspektor, der den Detektiv mit wachsendem Erstaunen angeblickt hatte, öffnete den Mund zu einer Bemerkung, er sprach sie aber nicht aus.

Ich fragte nicht, was der wichtigste Anhaltspunkt war. Ich wußte es. Es war das Stilett.

Sonderbar, daß niemand die Handschrift erkannt hat, bemerkte ich.

Nunmehr ergriff der Inspektor das Wort wieder.

Fünfzig Personen haben Beispiele von Handschriften eingesandt, sagte er, die jener gleichen sollen. Handschriften von Leuten waren dabei, die nie von den Fairbrothers gehört hatten. Sie machen sich keine Vorstellung, unter welch schwierigen Bedingungen die Polizei arbeitet. Allein diese Seite des Falls hat uns schon unendliche Mühe und Arbeit verursacht!

Ich weiß es nur zu gut, erwiderte ich seufzend. Aber ich glaube, daß wir uns in dieser Hinsicht nicht mehr den Kopf zu zerbrechen brauchen, erklärte der Inspektor, indem er sich an Herrn Gryce wandte.

Glauben Sie, Herr Inspektor? fragte dieser mit rätselhaftem Lächeln.

Der Inspektor sah überrascht aus. Sie wollen also Ihre Spur weiter verfolgen, Herr Gryce? fragte er sehr höflich. Aus dem Ton seiner Frage konnte ich die Hochachtung vor der Urteilskraft des Detektivs heraushören.

Dies gab mir den Mut ein, meine eigene Meinung zu äußern, bevor Herr Gryce noch antwortete.

Herr Inspektor, sagte ich, Sie werden mich für sehr hartnäckig halten, aber alles, was Sie über Sears gesagt haben, alles, was ich von ihm vernommen habe, alles das kann mich noch nicht von der völligen Sinnlosigkeit meines eigenen Verdachts überzeugen. Im Gegenteil muß ich gestehen, daß er sich eher noch befestigt hat. Dieser Verwalter, der sicher ein zweifelhafter Mensch ist, mag ja Gründe gehabt haben, Frau Fairbrother den Tod zu wünschen, ja er mag sogar seine Hand dabei im Spiele gehabt haben. Aber welche Beweise haben Sie dafür, daß er selbst den Alkoven betrat, den Mord beging oder den Diamanten raubte? Ich habe mich bemüht, einen solchen Beweis zu finden, aber meine Bemühung war vergeblich.

Ich weiß es, ich weiß es. Nur Geduld, das wird schon kommen. Ich wenigstens glaube es. Was glauben Sie, Herr Gryce?

Nur, was ich weiß, antwortete dieser lakonisch.

Wollen Sie uns dann vielleicht sagen, meinte der Inspektor, was Sie vermuten, damit wir Übereinkommen, wie wir die Untersuchung weiterzuführen haben!

Ich spreche nicht gerne Vermutungen aus, erwiderte Gryce. Aber es würde mich interessieren, welche Gedanken sich dieses Fräulein hier gemacht hat.

Halten wir uns und das Fräulein nicht zu lange damit auf? warf der Inspektor ein.

Ich glaube nicht, versetzte der Detektiv, eine Diskussion kann zur Klärung der Sachlage nur beitragen.

Also, bitte, Fräulein Van Arsdale! sagte der Inspektor höflich. – Aus seinem ganzen Benehmen ersah ich indes, daß er über den Wert dieser Diskussion anders dachte, als der Detektiv. Doch der ermunternde Blick des Herrn Gryce gab mir den Mut ein, meine Meinung in folgender Weise zu äußern:

Ich weiß, ich sollte eigentlich nichts mehr sagen; ich weiß auch, daß es nur ein Nachteil für mich ist, wenn ich es trotzdem tue, aber ich kann mir nicht helfen, Herr Inspektor, ich muß reden, wenn ich sehe, wie Sie den paar indirekten Anhaltspunkten, die den verdächtigten Sears betreffen, eine solche Wichtigkeit beilegen, und dabei die direkten Beweisgründe vergessen, die wir gegen einen gewissen Herrn besitzen, dessen Namen ich nicht zu erwähnen brauche. – –

War ich zu weit gegangen? Hatte meine Anmaßung nicht alle Grenzen überstiegen? Würde er nicht einen sehr berechtigten Aerger über mich an den Tag legen? Nein; er lächelte nur. Es war ein rätselhaftes Lächeln, das ich nicht ganz verstand, aber er lächelte wirklich.

Sie wollen damit sagen, erwiderte er, daß, trotzdem Sears möglicherweise mit dem Verbrechen in Verbindung steht, die unbestreitbaren Beziehungen des Herrn Grey damit doch bestehen bleiben? Und Sie finden, daß der Umstand, daß Wellgoods Hand zur Zeit oder um die Zeit, wo der falsche Stein untergeschoben wurde, mit der Hand Herrn Greys in Berührung kam, auch nicht dazu beiträgt, Herrn Grey vom Verdachte zu entlasten, daß er der Urheber dieser Fälschung ist? – –

Der Inspektor schaute mich sehr ruhig an und sagte:

Ich dachte, daß ein mehrtägiger Aufenthalt am Lager des Fräulein Grey in der Gesellschaft eines so feingebildeten und ehrenwerten Mannes, wie ihr Vater einer ist, Sie von diesem schändlichen Verdachte befreien würde.

Ich wundere mich nicht darüber, daß Sie das dachten, entgegnete ich erregt. Und Sie wären noch mehr davon überzeugt, wenn Sie wüßten, wie freundlich er sein kann, und wie er um alles, was um ihn vorgeht, besorgt ist.

Aber ich kann nicht über die Tatsachen hinwegkommen. Alle weisen, so scheint mir wenigstens, nach ein und derselben Richtung.

Alle? Sie haben gehört, was hier in diesem Zimmer berichtet wurde – – ich sah es in Ihren Blicken – – wie der Mann, der den Verwalter letzte Nacht in seinem eigenen Zimmer belauschte, ihn von Liebe und Tod mit Frau Fairbrother sprechen hörte. »Küssen, was ich gehaßt? Das ist fast so schlimm, als zu töten, was ich geliebt!« So oder ganz ähnlich lauteten seine Worte.

Jawohl, ich habe es gehört, erklärte ich. Aber heißt das, daß er sie wirklich ermordet hat? Können Sie ihn auf solche Worte hin überführen?

Das wird sich zeigen. Was ferner Wellgoods Teilnahme an der Geschichte betrifft, so glauben Sie, daß sie auf den Zeitpunkt beschränkt blieb, wo der Stein Herrn Grey entglitt. Welchen Beweis haben Sie dafür, daß der Austausch, von dem Sie glauben, daß er in jenem Augenblick stattfand, nicht von Wellgood vorgenommen wurde? Er kann den Stein leicht ausgetauscht haben, während er zu Herrn Grey hinüberging.

Herr Inspektor! rief ich hitzig, da mir diese Annahme geradezu absurd vorkam: Er soll das getan haben! Ein Kellner oder, wie Sie meinen, Herrn Fairbrothers Verwalter soll einen Gegenstand bei sich gehabt haben, der so schwer zu beschaffen ist, wie diese Nachahmung eines großen Diamanten? Klingt diese Annahme nicht ebenso unglaublich, wie irgend eine, die ich selber Ihnen gegenüber ausgesprochen habe?

Möglicherweise, meinte der Inspektor. Aber der ganze Fall ist voll von unglaublichen Umständen. Der unglaublichste jedoch ist der, daß Sie, ein so gutherziges Mädchen, sich darauf versteifen, die schwerste Schuld einem Manne zuzuschieben, von dem Sie gestehen, daß Sie ihn bewundern, und dabei wären Sie gewiß sehr zufrieden, wenn sich herausstellen würde, daß er völlig unschuldig an dem großen Verbrechen ist. –

Da fühlte ich, daß ich mich rechtfertigen mußte.

Herr Durand hat sich keiner solchen Rücksichtnahme erfreuen dürfen, sagte ich.

Ich weiß es, mein Kind, ich weiß es; aber das ist etwas anderes.

Der Inspektor sagte dies in ernstem Ton und fuhr dann fort:

Würde es nicht gut sein, sich damit abzufinden und mit der neuen Wendung im Verlauf der Angelegenheit zufrieden zu sein, ohne weiterhin auf Ihrem Verdacht gegen Herrn Grey zu bestehen?

Das war ein wenig hart aus gedrückt. Und ich empfand es auch, trotz des Lächelns, mit dem er seine Worte milderte. Nur das Vertrauen, das ich zu seiner Rechtschaffenheit als Mensch wie als Beamter besaß, gab mir die Kraft zu antworten.

Ich rede ja, sagte ich, frei von der Leber weg. Sie sind so gütig mit mir gewesen, Sie haben mich so freundlich angehört, daß ich Ihnen offen alles beichten wollte, was mir auf dem Herzen lag. Und es geschah nur, um mich selbst zu erleichtern. Erinnern Sie sich, wie ich trotz meiner aufrührerischen Gedanken mit jenem Manne unter ein und demselben Dache leben muß? Ich glaube, ich würde beruhigt in sein Haus zurückkehren, wenn Sie mir noch eine Bemerkung gestatten würden. Es ist die letzte.

Der Inspektor runzelte die Stirne, dann lächelte er und sagte, indem er Herrn Gryce einen Blick zuwarf:

Sprechen Sie! Ich bin gewiß nachsichtig. – – –

Er hatte das richtige Wort gefunden: nachsichtig, das war er. Er ließ mich reden, hatte mich von Anfang an reden lassen, aus reiner Freundlichkeit. Er hatte nicht das geringste Vertrauen zu meinem Verstand oder zu meiner Logik. Aber das schreckte mich nicht ab. Ich wollte meinen Geist von den Gegenständen befreien, die so schwer darauf lasteten. Ich wollte keine elenden Reste des Zweifels in meinem Innern mitnehmen; damit sie wieder anfingen zu gären und ihr böses Spiel mit mir in den schlaflosen Nächten zu treiben, die mir noch bevorstanden. So nahm ich ihn beim Wort.

Ich möchte Sie nur noch eines fragen, sagte ich. Für den Fall, daß Sears schuldig an dem Verbrechen ist: Wer schrieb dann die Warnung, und wo verschaffte sich der Mörder das Stilett mit der Greyschen Devise auf dem Griff? Und der Diamant? Immer wieder der Diamant! Sie vermuten, daß er es ebenfalls war, der ihn stahl; daß er sich dachte, eine Nachahmung des Steines könnte sich bei diesem Feste nützlich erweisen; daß er sich eine solche verschafft habe, eine genaue Nachahmung des Steins, der Fassung u. s. f., er, der niemals, soweit in Erfahrung zu bringen war, irgend welches Interesse für den Diamanten der Frau Fairbrother bezeigte, sondern sich nur für ihre eigene Person interessierte. Wenn Wellgood nun Sears und Sears der Mann ist, der den echten Stein mit dem falschen vertauschte, dann nahm er den Austausch im Interesse der Frau Fairbrother, nicht in seinem eigenen vor. Aber ich glaube gar nicht, daß er an der Fälschung beteiligt ist. Ich glaube, aus allem geht hervor, daß es Herr Grey war, der die Unterschiebung ausführte.

Ein neuer Daniel, murmelte der Inspektor lächelnd.

Auch Herr Gryce, der der Unterhaltung mit ernster Miene gefolgt war, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Nur weiter, kleine Advokatin! bemerkte der Inspektor.

Aber trotz seines Versuchs zu scherzen, glaubte ich zu bemerken, daß er, wie es sehr natürlich war, die Unterhaltung gerne beendet hätte.

Daher beeilte ich mich nunmehr auch mit dem Rest meiner Ausführungen, ich suchte mich kürzer zu fassen, und in der Eile überstürzten sich beinahe meine Worte.

Denken Sie an die vollendete Ausführung der Imitation, sagte ich, die sich sogar bis auf die Einzelheiten der Fassung erstreckt! Dies läßt auf einen Plan – verzeihen Sie, wenn ich mich selber wiederhole – – – auf Vorbereitungen, auf die Kenntnis der Steine und ganz besonders dieses Diamanten schließen. Der Verwalter Herrn Fairbrothers mag wohl das Juwel gekannt haben, vielleicht sogar sich im allgemeinen auf Edelsteine verstanden haben, aber er müßte ein Narr gewesen sein, diese Kenntnis auszunützen, um sich ein Kleinod anzueignen, das er nirgends verkaufen konnte. Ein Sammler dagegen, ein Mann, dem der bloße Besitz eines eigenartigen, unschätzbaren Juwels Freude macht – ja, das ist ganz etwas anderes! Ein solcher könnte vielleicht ein derartiges Verbrechen begehen; es sind verschiedene ähnliche Beispiele bekannt. – –

Hier hielt ich inne, um Atem zu schöpfen. Der Inspektor benützte diese Gelegenheit, um zu sagen:

Mit anderen Worten stellen Sie sich die Sache so vor: Der Engländer faßte, in der Absicht, seine Spuren zu verwischen, den schlauen Gedanken, sich eine solche Imitation zu verschaffen und sie zur Verfügung zu haben, für den Fall, daß sie in dem tollkühnen und unheilvollen Unternehmen, das Sie ihm zuschreiben, von Nutzen sein könnte. Da er erkannte, daß er selbst zur Ausführung seines Planes nicht fähig sei, übertrug er sie einem Menschen, von dem er irgendwie erfahren hatte, daß er einen geheimen Groll gegen den gegenwärtigen Besitzer des Diamanten hegte, einem Menschen, der Gelegenheit gehabt hatte, das Juwel zu sehen und die Fassung zu studieren. Diese Fälschung trug Herr Grey bei sich, als er den Ball besuchte. Im Vertrauen auf seine scheinbar unangreifbare Stellung überfiel er Frau Fairbrother im Alkoven und würde sich hier des Diamanten bemächtigt haben, wenn er ihn noch an ihrer Brust vorgefunden hätte, wo er ihn kurze Zeit zuvor in all seiner Pracht gesehen hatte. Aber das Juwel war nicht mehr da. Die Warnung, die sie empfangen – Sie schreiben diese Warnung der Tochter zu, was erst noch zu beweisen wäre –, hatte sie veranlaßt, sich des Diamanten auf die Weise zu entledigen, wie es Herr Durand geschildert hat. So kam es, daß er ein nichtswürdiges Verbrechen begangen hatte, ohne eine Entschädigung dafür einzuheimsen. Später indes entdeckte er zu seiner großen Ueberraschung und vielleicht auch Befriedigung den Diamanten in meinen Händen. Da ihm ein Weg einfiel, auf dem er noch in seinen Besitz gelangen konnte, bat er mich darum, hielt ihn einen Augenblick in der Hand, und dann ließ er ihn fallen, nicht den echten Edelstein, sondern den falschen, indem er den echten zurückbehielt. Um die allgemeine Aufmerksamkeit von sich abzulenken, benützte er ein fast unglaubliches Mittel. Dieses ist in klaren Worten Ihre Auffassung der Sachlage, wenn ich nicht irre. –

Erstaunt über die Klarheit, mit der er meine Gedanken erfaßt und ausgedrückt hatte, antwortete ich:

Jawohl, Herr Inspektor, so stelle ich mir die Sache vor.

Gut! Dann ist es ganz recht, daß Ihre Anschauung genau formuliert worden ist. Jetzt werden Sie sich erleichtert fühlen und Ihre ganze Aufmerksamkeit Ihrer Pflicht zuwenden können. – Dann fügte er hinzu: Trotzdem Sie Ihre Ansicht nach allen Seiten überlegt haben, scheinen Sie vergessen zu haben, daß unter solchen Umständen Herr Grey der letzte gewesen wäre, die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Betrug zu lenken, während er doch nach Ihrer Ansicht gerade auf die Güte der Imitation seinen Plan gebaut hätte. Nicht einmal das Vertrauen auf seine gesellschaftliche Stellung würde ihn zu einem derartigen Schritte bewogen haben.

Glauben Sie? stammelte ich. Er war doch als Kenner berühmt und genoß den Ruf, die seltensten Steine in den Händen gehabt zu haben. Er wußte, daß der Betrug bald entdeckt würde, und daß es von Nachteil für ihn wäre, ihn nicht erkannt und dann verraten zu haben, was er in der Hand hielt.

Wie gekünstelt Ihre Erklärung klingt, mein liebes Fräulein, wie gequält! Gerade so phantastisch wie die anderen! Sie erträgt es nicht, in Worte übersetzt zu werden. Ich will noch weiter gehen; Sie sind ja ein gutes Mädchen und werden sich von mir die Wahrheit sagen lassen. Ich glaube nicht an Ihre Theorie; ich kann es nicht tun. Von Anfang an war es mir nicht möglich. –

Er schaute zu Herrn Gryce hinüber, aber dieser war so sehr in die Betrachtung seiner Schuhe vertieft, daß der Inspektor fortfuhr:

Aber wenn Sie recht haben und Herr Grey in die Angelegenheit verwickelt ist, werden Sie finden, daß sich die Geschichte mit dem Diamanten nicht so glatt abgewickelt hat, wie Sie glauben.

Da kann ich Ihnen nur beistimmen, bemerkte da der Detektiv ohne aufzublicken.

Wenn das Juwel, fuhr der Inspektor fort, sich gegenwärtig im Besitze des Herrn Grey befände, wäre er weniger von Sorgen bedrückt, als er es nach Ihren Angaben tatsächlich ist. Dasselbe wäre der Fall, wenn es mit seinem Einverständnis in den Händen Wellgoods wäre und er Aussicht hätte, den Stein in Bälde zu erhalten. Aber wenn er ohne sein Einverständnis, ohne sein Wissen, und ohne daß er hoffen kann, ihn bald zu erwerben, sich in Wellgoods Händen befindet, dann können wir seine gegenwärtigen Sorgen und die wachsende Unruhe, die er bekundet, wohl verstehen.

Das ist richtig, murmelte ich.

Wenn wir ferner finden, fuhr der Inspektor fort und warf mir einen zwar humorvollen Blick zu, hinter dessen Humor sich indes wirklicher Ernst versteckte, wenn wir bei der Verfolgung der neuen Spur entdecken, daß Herr Grey mit diesem Wellgood oder diesem Sears verhandelt hat; oder wenn Sie ausfindig machen sollten – – Sie haben ja Gelegenheit, diesen Umstand zu erfahren – – daß er für einen dieser beiden ein ungewöhnliches Interesse an den Tag legt, so wird die Sache anders aussehen. Aber zunächst besteht unsere Aufgabe. darin, den einen oder anderen dieser Leute ausfindig zu machen. Wenn wir Glück haben, werden wir entdecken, daß der Kellner und der Verwalter ein und dieselbe Person sind, trotzdem sie so verschieden auszusehen scheinen. Einem Gauner, wie dieser Sears nach seinem gestrigen Verhalten einer ist, würde es nicht schwer fallen, sich unkenntlich zu machen.

Sie haben recht, gab ich zu. Sicherlich ist es ein Verbrecher. Wenn er vielleicht auch an der Ermordung Frau Fairbrothers nicht beteiligt war, hat wenig gefehlt, daß er an Ihrem Detektiv einen Mord beging.

Der Inspektor schaute mir einen Augenblick fest ins Gesicht, wobei ein Lächeln um seinen Mund huschte. Dann wandte er sich an Herrn Gryce mit den Worten:

Nun, Herr Gryce, was sagen Sie zu unserer Diskussion? Hat sie zur Klärung der Sachlage beigetragen?

Ich glaube: ja, versetzte der Detektiv. In einem Punkte scheinen wir beide einer Meinung zu sein, wenn wir dieses tapfere Fräulein hier jetzt bitten, zu ihrer Patientin zurückzukehren. Wir haben sie lange genug aufgehalten!

Also, mein liebes Fräulein, meinte nun der Inspektor, Sie haben jetzt die Gründe erfahren, warum Herr Gryce Sie gebeten hat, den beabsichtigten Versuch aufzugeben.

Vorderhand aufzugeben! berichtigte Herr Gryce und setzte hinzu, indem er sich erhob:

Verlieren Sie also den Mut nicht, Fräulein Van Arsdale. Sie sehen, daß wir beide damit beschäftigt sind, Licht in das Dunkel zu bringen – – – jeder auf seinem besonderen Untersuchungsgebiet!

Kaum hatte ich indes das Büro des Inspektors verlassen, als dieser scherzhafte Ton einer sehr ernsten Beratung der beiden Männer Platz machte, wie mir später der Inspektor erzählt hat.

Herr Gryce erklärte, daß er aus der Sachlage trotz allem und allem auf eine Verbindung des Herrn Grey mit dem Falle schließen müsse.

Der Inspektor, der sich wohl bewußt war, daß der berühmte Detektiv ein solches Urteil nicht ohne ganz bestimmte Gründe abgab, widersprach ihm nicht. Und so kamen denn die beiden überein, daß jeder in der übernommenen Richtung weiterarbeiten sollte. Ja, Dalzell hatte eine so große Hochachtung vor der Tüchtigkeit des Detektivs, daß er ihm auf seine Bitte sogar den Detektiv Sweetwater zur Verfügung stellte.

Ich kann mir, sagte Herr Gryce, keinen diskreteren und vorsichtigeren Mitarbeiter als ihn verschaffen, und Sie wissen ja, daß gerade mein Anteil an der Untersuchung die größte Diskretion und Vorsicht erheischt.

Darauf setzte er sich an den Schreibtisch, schrieb ein Briefchen, gab es dem Inspektor, der es mit zweifelnder Miene durchlas, und versiegelte es. Der Inspektor klingelte und übergab dem alsbald erscheinenden Beamten das Briefchen mit dem Befehle:

 

Ueberbringen Sie diesen Brief sofort dem Detektiv Sweetwater!

Der Inhalt des Schreibens war folgender:

 

Begeben Sie sich zum St. Regis Hotel und nehmen Sie dort irgend eine Stelle an. Suchen Sie sich nach und nach zu einer Stellung emporzuarbeiten, die es Ihnen ermöglicht, alles zu erfahren, was in den Zimmern des Herrn Grey vorgeht. Wenn der Herr – die Frauen gehen uns nichts an – ausgeht, so folgen Sie ihm. Wir müssen sein Geheimnis erfahren; aber er darf nicht ahnen, daß es uns interessiert. Völlige Diskretion in jeder Hinsicht! Wenn Sie entdecken, daß das Geheimnis von keinem Interesse für uns ist, haben Sie es völlig und für immer zu vergessen. Vergessen Sie nicht, sich mit einer Blendlaterne zu versehen! Alle Meldungen sind bei mir zu erstatten.

Ebenezer Gryce.


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