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Sechzehntes Kapitel

Nach Herrn Greys Abreise überließ ich mich einem sehr ernsthaften Gedankengange. Eine Tatsache war mir nämlich aufgefallen, der ich mich bisher wegen meiner Vorurteile verschlossen hatte; jetzt aber konnte ich sie nicht länger unbeachtet lassen, mochte sie mich noch so sehr in Verlegenheit bringen oder mich zwingen, meine Ansichten über einen Umstand zu ändern, der eine der festesten Stützen für den Beweis gebildet hatte, durch den ich Herrn Durand zu retten hoffte. Fräulein Grey hegte zu ihrem Vater kein Mißtrauen, wie ich mir in den ersten Tagen meines Dienstes eingebildet hatte, wo ich mit ihren gegenseitigen Beziehungen noch nicht bekannt war. Dies geht schon aus der Art und Weise hervor, wie sich ihr Abschied gestaltete. Welcher Art auch immer seine Angst, seine Befürchtungen oder Gewissensbisse sein mochten, es war kein Anzeichen dafür vorhanden, daß sie ihm gegenüber etwas anderes empfand, als Liebe und Vertrauen. Aber die Liebe und das Vertrauen zu ihrem Vater standen im größten Gegensatz zu den Zweifeln, die sie, wie ich wenigstens glaubte, in der Mitteilung ausgedrückt haben sollte, die Frau Fairbrother im Alkoven eingehändigt wurde. Hatte ich mich demnach getäuscht, als ich ihr das Gekritzel zuschrieb? Es begann, den Anschein davon zu haben. Trotzdem es mir untersagt war, mit ihr über das verbotene Thema zu reden, so wußte ich doch ganz genau, daß sie nichts in der Welt davor bewahren könnte, wenn Frau Fairbrother tatsächlich einen Platz in ihren Gedanken ausfüllte.

Als ich jedoch eines Morgens Gelegenheit hatte, diesen Umstand über allen Zweifel zu erheben, gestehe ich, daß das vorherrschende Gefühl, das mich überkam, Schrecken war. Ich fürchtete, daß die Zerstörung dieses Glaubensartikels den Zusammenbruch meiner ganzen Ueberzeugung nach sich führen werde. Und doch gebot mir mein Gewissen, diesen Umstand kühn ins Auge zu fassen; hatte ich mir denn nicht mehr als einmal vorgeprahlt, mein einziger Wunsch sei, die Wahrheit festzustellen?

Am dritten Morgen gab nämlich Fräulein Grey ihren Wunsch kund, insgeheim etwas zu schreiben. Herr Gryce hatte ja früher um eine Probe ihrer Handschrift gebeten; ich selber hatte damals sehr ernsthaft darnach verlangt. Nun sollte sich mir offenbar diese Gelegenheit bieten, wenn ich ihre scheinbar zufälligen Bitten nicht zu argwöhnisch betrachtete und ein Auge zudrückte. An meiner Uhrkette hing ein kleiner Bleistift. Sie fragte mich, ob sie ihn sehen dürfte, ob ich ihn ihr für eine Minute geben wolle? Er sehe fast genau so aus, wie ein Bleistift, den sie besitze. Natürlich nahm ich ihn von der Kette ab; natürlich ließ ich ihn ein kleines Weilchen in ihrer Hand. Aber der Bleistift genügte ihr nicht. Ein paar Minuten später fragte sie nach einem Buch, um es anzusehen; ich zeigte ihr nämlich dann und wann Bilder.

Aber das Buch ermüdete sie; sie wollte es später betrachten.

Ob ich ihr nicht ein Stückchen Papier geben könne, um damit die Stelle zu bezeichnen, wo sie stehen geblieben sei – da zum Beispiel die Postkarte. Ich gab sie ihr. Sie steckte sie ins Buch. Ich fragte mich nun, da ich ihre Absicht völlig durchschaute, was für eine Ausrede sie wohl finden würde, um mich ins andere Zimmer zu schicken. Sehr bald fand sie einen Grund; mein Herz schlug mächtig, als ich sie mit dem Bleistift und der Karte allein ließ. Ein sanftes Lachen aus ihrem Munde zog mich wieder in ihr Zimmer zurück. Sie hielt die Karte in der Hand.

Sehen Sie! Ich habe ihm ein paar Worte geschrieben. Sie gutes, gutes Fräulein! Wie ich Ihnen danke, daß Sie es erlauben! Sie brauchen nicht so zu erschrecken. Es hat mir nicht das geringste geschadet. –

Ich wußte es! Ich wußte, daß eine solche Betätigung ihr viel eher nützen als schaden würde; sonst hätte ich wohl einen Einwand gefunden, sie davon abzuhalten. Ich gab mir Mühe, unbefangen auszusehen. Da sie mir offenbar das Papier reichen wollte, näherte ich mich ihr und nahm es entgegen.

Die Adresse sieht sehr zittrig aus, lachte ich, ich denke. Sie müssen die Karte noch in einen Umschlag stecken.

Ich blickte darauf, – ich konnte nicht anders; ihr Auge ruhte auf mir, und ich konnte mich nicht einmal auf den Schlag vorbereiten, den mir die Schrift versetzen würde, ob sie nun der Warnung vom Ball glich oder nicht.

Sie glich ihr nicht im geringsten; sie war so sehr davon verschieden, daß es unmöglich war, dem Mädchen noch einen Augenblick länger die Zeilen zuzuschreiben, die nach Herrn Durands Aussage Frau Fairbrother veranlaßt hatten, ihren Diamanten abzunehmen.

Was gibt's denn? rief sie aus. Sie sind so schrecklich blaß geworden! Befürchten Sie, daß uns der Arzt schelten wird? Es hat mir bei weitem nicht so geschadet, wie der Umstand, daß ich hier liegen soll, und dabei weiß, was er für ein einziges Wort von mir geben würde.

Sie haben recht, und ich bin eine Törin, erwiderte ich mit Anstrengung all meiner Kräfte. Ich wäre froh – es freut mich, daß Sie diese Zeilen geschrieben haben. Ich werde die Adresse auf einen Umschlag abschreiben, die Karte hineinstecken und sie mit der nächsten Post befördern.

Besten Dank, murmelte sie und gab mir meinen Bleistift mit schelmischem Lächeln zurück. Jetzt kann ich ruhig schlafen. Wenn Papa zurückkehrt, müssen meine Wangen wieder Farbe haben. – – –

Und sie berechtigte zu der Hoffnung, daß ihre eigenen Wangen blühender aussehen würden, als die meinen, da mein Gewissen mir am Herzen nagte.

Die Theorie, die ich mit solcher Sorgfalt aufgebaut hatte, die Theorie, die ich trotz seines Widerstandes dem Inspektor hatte einreden wollen, begann mit dem Sturze eines ihrer wichtigsten Pfeiler langsam in meinen Gedanken abzubröckeln. Wenn die Warnung nicht in der Weise erklärt werden konnte, wie ich es getan, dann lag in meinem Beweise eine Schwäche, die durch nichts wieder gut gemacht werden konnte. Wie würde ich imstande sein, das dem Herrn Inspektor oder auch nur Herrn Gryce einzugestehen, wenn ich je wieder so glücklich oder unglücklich wäre, sie zu sprechen?

.

Ich fühlte mich aufs äußerste beschämt, und ich konnte keinem einzigen meiner früheren Argumente Beweiskraft zuschreiben. Ich verfiel von einem Extrem ins andere, schrieb dem Herrn Grey tadellose Rechtschaffenheit zu und sah ein, daß er zu allen seinen Handlungen ehrenwerte Gründe gehabt habe, wenn sie mir auch noch nicht erklärlich seien. Da ging die Türe auf, und er trat selber ein. Augenblicklich schwand noch der letzte Schatten eines Zweifels aus meiner Seele. Ich hatte nicht erwartet, ihn so bald zurückkehren zu sehen.

Er war froh, wieder zurück zu sein. Das sah ich sofort. Aber sonst schien keine Freude sein Inneres zu bewegen. Ich hatte gedacht, nach seiner Rückkehr – wenn er überhaupt zurückkehrte! – würde in seinem Auftreten und Benehmen eine Aenderung vor sich gegangen sein. Aber die Veränderung, die ich an ihm bemerkte, war keine erfreuliche, selbst als er sich dem Bett seiner Tochter näherte und fand, daß es ihr weit besser ging.

Dies fiel auch ihr auf, und fragend blickte sie ihn an. Er mied ihren Blick und schickte sich an, das Zimmer wieder zu verlassen, da hielt ihn ein schmeichelnder, liebevoller Ruf von ihr zurück. Er kam wieder an ihre Seite und beugte sich über sie.

Was gibt es denn, Vater? fragte sie. Du siehst müd und bekümmert aus –

Nein, nein, ich fühle mich ganz wohl, beteuerte er hastig. Aber du! Bist du wirklich so gesund, als du aussiehst?

Gewiß. Jeden Tag fühle ich mich besser. Warte nur! Ich kann bald im Bette aufsitzen. Gestern habe ich bereits ein Paar Worte gelesen. –

Er warf mir einen unruhigen Blick zu und schaute dann auf ein Tischchen, wo ein Buch lag.

In einem Buch?

Jawohl – – und Arthurs Briefe. –

Der Vater lächelte, richtete sich auf, tätschelte sie zärtlich auf den Arm und eilte dann ins Nebenzimmer.

Fräulein Grey folgte ihm liebevoll mit den Augen. Dann hörte ich sie einen leisen Seufzer ausstoßen. Vor wenigen Stunden noch hätte dies in meiner argwöhnischen Brust tiefe Zweifel geweckt. Aber jetzt sah ich alles in einem anderen Lichte und war nicht länger mehr geneigt, diese kleinen Anzeichen töchterlicher Bekümmernis und Sorge zu übertreiben oder falsch auszulegen. Erleichtert und glücklich im bessern Teil meiner Seele, gab ich mich rückhaltlos der Freude über meine jetzige Gemütsstimmung hin und suchte in den verborgensten Tiefen meines Charakters die Geduld zu finden, die ich so sehr nötig hatte.

Da wurde plötzlich wieder jeder Gedanke und jedes Gefühl in die größte Verwirrung gebracht, als ich von Herrn Gryce die Mitteilung erhielt, es sei etwas vorgefallen, was ihn veranlasse, mich zu bitten, den Versuch mit dem Stilett sofort anzustellen.

Eine derartige Ironie des Schicksals überstieg doch alles, was mir in meinen bangsten Träumen erschienen war. Ich ließ den Brief aus der Hand sinken und fragte mich, ob es nicht meine Pflicht sei, den Detektiv zu verständigen, welchen Irrtum ich in meiner Theorie entdeckt hatte.

Aber in diesem Briefchen hieß es ausdrücklich, ich solle den Versuch noch am selben Tage anstellen. Da blieb mir zu Ueberlegungen oder Besprechungen keine Zeit mehr übrig. Daher nahm ich den Brief wieder vor, um die Einzelheiten zu studieren, die er über die Ausführung des Versuchs enthielt. Er sollte unter veränderten Bedingungen angestellt werden, vor allem sollte er nicht in der Bibliothek neben dem Krankenzimmer, sondern um die Essenszeit im Speisezimmer des Herrn Grey und zwar in meiner Gegenwart stattfinden. Sollte dann zufällig Herr Grey empört sein, wenn er diese bekannte Waffe neben seinem Gedeck vorfände, so konnte der Fehler auf den Kellner geschoben und vorgeschützt werden, dieser habe es aus Versehen getan und das Stilett irrtümlicherweise auf seinen Tisch, statt auf den des Inspektors Dalzell, der das angrenzende Zimmer innehabe, gelegt. Immerhin war ich es immer noch, die die Waffe auf den Tisch legen sollte. Mit welchen Vorsichtsmaßregeln und unter welchen Umständen, wird erzählt werden.

Glücklicherweise stand die Stunde für den Versuch sehr nahe bevor.

Ich weiß nicht, wie ich sonst die Selbstüberwindung aufgebracht hätte, die fortwährend notwendig war, meiner lieben Patientin, die mich von ihren Kissen aus betrachtete, ins Antlitz zu schauen. Auf ihre Schönheit hatte sich eine Wolke gelagert, die vor der Rückkehr ihres Vaters nicht vorhanden gewesen war.

Und erst der Vater! Ich hörte ihn in der Bibliothek mit einer Rastlosigkeit auf und ab gehen, die mir mit meiner eigenen ängstlichen Ungeduld und mit meinen nagenden Zweifeln seltsam übereinzustimmen schien.

Was für Befürchtungen quälten ihn? Warum hatte sich sein Gesicht so bewölkt, warum war sein Benehmen so verlegen, wenn er von Zeit zu Zeit die Türe, die die beiden Zimmer verband, aufstieß und einen bangen Blick hereinwarf und sich dann alsbald wieder zurückzog, ohne ein Wort zu äußern? Ahnte er, daß eine Krisis herannahte, daß ihm eine Gefahr drohte und zwar von meiner Seite? Nein. Wenigstens nicht das letztere. Denn nicht ein einziges Mal streifte sein Blick mich, sondern er ruhte nur auf seiner Tochter. Daraus schloß ich, daß ich mit seiner inneren Erregung nichts zu tun hatte. Insofern konnte ich also ohne Furcht vorgehen; ich brauchte keine Angst vor ihm zu haben, sondern bloß vor dem Ereignis. Aber davor fürchtete ich mich, und das hätte jeder getan, der während dieser peinlichen Augenblicke das Gesicht Fräulein Greys gesehen und die Schritte des ruhelosen Mannes im Nebenzimmer gehört hätte.


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