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Neuntes Kapitel

Als Herr Gryce mir das Ergebnis seiner heraldischen Studien mitteilte, schien sich im ersten Augenblick das ganze Zimmer um mich zu drehen. Aber meine Genugtuung über die Uebereinstimmung dieses Umstandes mit meiner Ueberzeugung war so groß, daß ich nicht, wie ich im ersten Moment befürchtete, die Besinnung verlor, sondern im Gegenteil mit einem Male den ganzen Hergang des Verbrechens klar vor Augen zu haben vermeinte.

Herr Gryce war daher nicht wenig erstaunt, als ich ihn nunmehr in fieberhafter Aufregung bat, er möchte meinen weiteren Vermutungen freundliches Gehör schenken.

Nachsichtig willfahrte er meiner Bitte und forderte mich auf, sie zu äußern.

Wenn das Verbrechen, fuhr ich in fieberhafter, fliegender Hast fort, von dem Täter begangen wurde, damit er in den Besitz des Diamanten gelangte, muß die Ueberraschung schrecklich für ihn gewesen sein, als er ihn nicht bei seinem Opfer vorfand. Nun war es, wenn meine ganze Theorie nicht von Grund aus falsch ist, die Absicht Herrn Greys, diesen Stein zu erlangen. Niemand beobachtete ihn, wie ich, als der Inspektor mit dem wiederentdeckten Juwel in der Halle erschien. Herr Grey verriet Erstaunen, äußerste Spannung, und schließlich gelangte er zu dem Entschluß, sich zu der kleinen Gruppe zu begeben mit dem Ersuchen, ihm den Diamanten zu zeigen. Warum wollte er ihn in die Hand nehmen? Und warum ließ er ihn, nachdem er ihn erhalten, fallen, einen Diamanten, der soviel wert sein sollte, wie das Vermögen eines Durchschnittsmenschen? Weil er durch einen Schrei aufgeschreckt wurde, den er als einen, in der Familie bekannten, todverkündenden Geisterruf zu bezeichnen beliebt hat? Glauben Sie daran, Herr Gryce? Ist es faßlich, daß ein solcher Schrei heutigentags in einer derartigen Gesellschaft sich hören läßt, wenn er anders nicht von seinen eigenen Lippen kam? Er ist ein Bauchredner! Er kehrte der Gruppe den Rücken zu, so daß sein Gesicht abgewendet war. Wir sind alle diskret und rücksichtsvoll gewesen und vorsichtig in unseren Auslegungen des seltsamen Vorfalls. Aber es gibt sicher viele, die die Berechtigung solcher abergläubischer Befürchtungen in Frage ziehen; und manche werden daran zweifeln, ob ein solcher Laut ohne menschliche Betätigung, und zwar eine sehr frevelhafte Betätigung, möglich ist. Herr Gryce, ich bin zwar nur ein Kind in Ihren Augen, und ich fühle, daß meine Stellungnahme in dieser Angelegenheit kühn ist; das empfinde ich vielleicht noch mehr als Sie. Aber ich würde dem Mann nicht mehr ins Auge blicken können, den ich ohne Absicht in seine jetzige nicht beneidenswerte Stellung zu bringen mithalf, wenn ich Ihnen verschweigen würde, daß nach meiner Ansicht dieser Schrei eine Täuschung war und von dem Herrn selbst ausgestoßen wurde, der eine Entschuldigung suchte, um den Stein fallen zu lassen? Und warum soll er gewünscht haben, den Stein fallen zu lassen? Weil er einen Betrug im Sinne hatte. Weil er dadurch Gelegenheit fand, den echten Stein durch einen falschen zu ersetzen. Hat denn niemand eine Veränderung im Aussehen des Steins bemerkt, von diesem Augenblick an? Besaß er noch dasselbe Feuer wie zuvor?

Herr Gryce gab mir keine Antwort auf meine Frage, sondern erwiderte in ernstem Tone:

Sie vergessen, daß der Stein gefaßt ist. Wollen Sie behaupten, daß dieser Herr von bekanntem Namen und politischer Bedeutung das verabscheuungswürdige Verbrechen mit dem Vorsatz geplant hat, der nötig war, um ein genaues Gegenstück zu dem Schmuck anfertigen zu lassen, den er höchstwahrscheinlich niemals zuvor gesehen hat? Sie würden ja einen Cagliostro oder noch etwas Schlimmeres aus ihm machen, Fräulein Arsdale! Ich fürchte, Ihre Theorie wird durch ihr eigenes Gewicht umfallen.

Aber meine Gefühle, Herr Gryce, warf ich ein, sagen mir, daß ich recht habe.

Meine Gefühle behaupten gerade das Gegenteil, versetzte er. Trotzdem ich eigentlich noch scheinbare Stützen für Ihre Auffassung beibringen kann! Doch vergessen Sie nicht, daß Ihre Gefühle aus einer sehr liebenswürdigen Ursache entspringen, während die meinigen das Ergebnis einer langjährigen Erfahrung sind.

Wie? fragte ich atemlos. Sie haben noch weitere Stützen für meine Auffassung der Sachlage ausfindig gemacht?

Gewiß, mein liebes Fräulein, erwiderte er. Und doch bin ich in meinen Schlußfolgerungen äußerst vorsichtig. Ich könnte sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, daß Herr Grey nur wegen des Diamanten nach Amerika herübergekommen ist. Ich habe mir aus England eine Liste der ersten Diamantensammler auf telegraphischem Wege erbeten, und wer meinen Sie, stand an dritter Stelle?

Ich wagte es nicht, die Frage zu beantworten.

Niemand anders, erklärte er, als Herr Grey. Und doch! Und doch! fügte er kopfschüttelnd hinzu.

Jetzt zweifelte ich keinen Augenblick mehr an der Richtigkeit meiner Schlußfolgerungen, denn ich hatte ja meinerseits eine wichtige Entdeckung gemacht, die ich ihm nun anvertrauen wollte.

Darum ergriff ich, bevor er von neuem seinem Zweifel Ausdruck zu geben vermochte, das Wort und sagte voller Eifer:

Nun habe ich Ihnen auch noch etwas anzuvertrauen, Herr Gryce. Die Wärterin, die Fräulein Grey pflegt, besuchte im Spital den gleichen Kurs mit mir. Wir sind eng befreundet miteinander. An sie wagte ich mich wegen eines Punktes zu wenden. Herr Gryce – hier dämpfte ich unwillkürlich meine Stimme –, in der Nacht, wo der Ball stattfand, wurde aus diesem Krankenzimmer eine Mitteilung abgesandt, die Fräulein Grey in aller Eile niederschrieb, während sich die Wärterin im angrenzenden Zimmer aufhielt. Der Bote war der Kammerdiener Herrn Greys, und sein Ziel das Haus, in dem ihr Vater sich als wichtiger Gast befand. Sie behauptet, der Zettel sei für ihn bestimmt gewesen, aber ich habe mir erlaubt anzunehmen, daß der Diener die Sache anders darstellen würde. Meine Freundin hat nicht gesehen, was die Kranke geschrieben hat. Aber sie behauptet, daß wenn ihre Kranke mehr als zwei Worte niederschreiben konnte, das Ergebnis ein unleserliches Gekritzel gewesen sein müsse. Sie sei nämlich zu schwach gewesen, um einen Bleistift halten zu können, und außerdem sei ihr Augenlicht zu geschwächt, daß sie nichts dabei habe sehen können. –

Nun war an Herrn Gryce die Reihe, erstaunt zu sein. Zum ersten Male während dieser Unterredung richtete er seinen Blick forschend auf mich.

Die Polizei hat angenommen, sagte er nun, daß die Mitteilung im Dunkel, von einer aufgeregten Person geschrieben sei; ich habe mich dieser Meinung angeschlossen, aber –

Ich sagte nichts; der unvollendete Satz war beredt genug.

Hat Ihre Freundin Ihnen gesagt, fragte der Detektiv weiter, daß Fräulein Grey mit einem Bleistift und auf ein kleines Blättchen unliniertes Papier geschrieben hat?

Jawohl, Herr Gryce, der Bleistift lag auf dem Nachttisch; das Blatt war aus einem ebenfalls dort liegenden Buch herausgerissen. Sie steckte den Zettel nicht in einen Umschlag, sondern gab ihn offen dem Diener mit. Der Diener ist ein alter Mann und war in das Zimmer gekommen, um ihre Anordnungen entgegenzunehmen.

Das alles hat die Wärterin gesehen? Hat sie das Buch noch?

Nein, es wurde am folgenden Morgen beim Aufräumen hinausgenommen. Es war eine Broschüre, wie ich glaube. –

Der Detektiv sann eine Weile nach, bis er wieder das Wort ergriff.

Wie heißt die Krankenpflegerin? fragte er weiter.

Henriette Pierson.

Teilt sie Ihre Zweifel?

Das kann ich nicht sagen.

Haben Sie sie öfters aufgesucht?

Nein, nur dieses einzige Mal.

Ist sie verschwiegen?

Durchaus. Ueber diesen Gegenstand wird sie das tiefste Schweigen bewahren, wenn sie nicht durch Sie zum Sprechen gezwungen wird.

Und Fräulein Grey?

Ist immer noch krank, zu krank noch, als daß man sie durch Fragen belästigen dürfte, insbesondere über ein so delikates Thema. Aber sie befindet sich auf dem Wege der Besserung. Die Befürchtungen ihres Vaters, die er bei jener denkwürdigen Gelegenheit geäußert hat, waren schlecht begründet, Herr Gryce. –

Langsam schüttelte Herr Gryce sein graues Haupt. Er blickte mich jetzt nicht mehr an, trotzdem ich zitternd vor Erwartung vor ihm stand. War er in irgend einer Hinsicht zu meiner Anschauung bekehrt worden, oder suchte er einfach nach dem empfehlenswertesten Weg, mich und meine schreckliche Theorie loszuwerden? Ich konnte aus seinem Gesichtsausdruck seine Absicht nicht ablesen. Daher ward ich sehr schwach und kleinmütig, als er sich mir plötzlich wieder zuwandte und bemerkte:

Ein Mädchen, das so krank ist, wie nach Ihrer Erklärung Fräulein Grey es war, muß etwas sehr Dringendes im Sinne gehabt haben, wenn sie unter so schwierigen Umständen eine Mitteilung niederzuschreiben und an ihr Ziel zu befördern versuchte. Nach Ihrer Auffassung hatte sie eine Ahnung von den Absichten ihres Vaters und wollte Frau Fairbrother davor warnen. Aber sehen Sie nicht ein, daß ein solches Vorgehen bei Leuten von ihrer Stellung widersinnig, ja einzigartig sein würde? Wir müssen irgend eine andere Erklärung für das scheinbar geheimnisvolle Benehmen Fräulein Greys ausfindig machen. Und ich muß den Verbrecher anderswo suchen, als in der Person eines der bekanntesten englischen Staatsmänner. –

Diese Aeußerung versetzte mich in so tiefe Niedergeschlagenheit, daß ich nicht mehr die Kraft fand, etwas dagegen einzuwenden. Herr Gryce starrte lange auf den Teppich, ohne etwas zu sagen. Endlich aber schien er zu einem Ergebnis zu gelangen. Er erklärte:

Trotz seiner Unschuld aber ist Herr Grey in irgend einer Weise mit der Sache verknüpft. Daher werde ich auf alle Fälle bei dem Plane verharren, den ich Ihnen selber vorgelegt haben würde, wenn Sie nicht so freundlich gewesen wären, mir den Weg zu Ihnen zu ersparen. –

Nunmehr entwickelte er mit einigen wenigen Worten diesen Plan und schloß mit einer ernsten Mahnung.

Gerne versprach ich, ihr Folge zu leisten. Blieb mir doch die Hoffnung, daß sich das Dunkel schließlich, und zwar mit meiner Hilfe, noch aufklären würde!

Ich werde nichts ohne Ihr Geheiß unternehmen, erklärte ich. Ich bin mir wohl bewußt, welche Gefahren diese Untersuchung in sich birgt und welches Unheil entstehen müßte, würde unser Versuch bekannt werden, ehe wir genügend Beweise in der Hand halten, ihn zu rechtfertigen.

So haben Sie denn Geduld, liebes Fräulein. Ich werde Ihnen und mir selbst über gewisse Punkte Klarheit zu verschaffen suchen, und wenn – (ich wagte kaum zu atmen) – wenn der geringste Zweifel übrig bleibt, werden wir uns wieder sprechen und –

Die Veränderung, die in mir vorging, und die er wohl bemerkte, verhinderte ihn, seinen Satz zu vollenden. Er wandte sich mir mit einiger Strenge zu und erklärte:

Es sind neunhundertundneunundneunzig Chancen gegen eine einzige vorhanden, daß meine nächste Nachricht an Sie lauten wird: Machen Sie sich auf Herrn Durands Verurteilung gefaßt. Nur eine unendlich kleine Chance bleibt für das Gegenteil übrig. Wenn Sie trotzdem Ihren Glauben auf sie setzen, dann kann ich Ihren Mut nur bewundern und das große Vertrauen, das Sie zu Ihrem unglücklichen Geliebten hegen! –

Mit dieser halben Ermutigung mußte ich mich zufrieden geben. So groß war der persönliche Einfluß dieses Mannes, daß ich – trotz all der Bestätigungen meiner Ansichten, die ich bei ihm erhalten – weniger zuversichtlich von ihm wegging, als ich bei ihm eingetreten war. Und in dem Hangen und Bangen, das sich aus dieser Unterredung für mich ergab, mußte ich noch viele Tage verweilen, bis ein unerwartetes Ereignis eintrat.


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