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Neunzehntes Kapitel

Der Mond war aufgegangen, als das kleine Boot, in dem unser junger Detektiv mit Herrn Grey saß, mit leisen Ruderschlägen in der Bucht erschien und auf die sogenannte Fabrik Wellgoods zufuhr. Das vermutete Licht auf der Hinterseite des Hauses war nicht zu sehen. Alle Fenster waren dunkel bis auf die, in denen sich das Mondlicht spiegelte.

Sweetwater, vielleicht auch Herr Grey, fühlte sich schwer enttäuscht. Er hatte erwartet, auf dieser Seite Lebenszeichen zu entdecken. Aber dieser weitere Beweis für die Abwesenheit Wellgoods von seinem Hause ließ die Sache als verfehlt und aussichtslos erscheinen; vielleicht hätten sie besser daran getan und wären auf der Straße geblieben.

Das sieht schlecht aus, flüsterte er leise. Soll ich hineinfahren und eine Landung versuchen?

Fahren Sie noch etwas besser hinein. Ich würde mir gern das Haus näher betrachten. Ich glaube nicht, daß wir beobachtet werden. Es sind ja noch mehr Boote draußen. Wir sind nicht die einzigen. –

Rasch blickte Sweetwater um sich. Nicht weit vom Eingang zur Bucht bemerkte er eine Barkasse oder einen kleinem Dampfer, der dort vor Anker lag. Aber das war nicht alles. Zwischen dem Fahrzeug und ihrem kleinen Boot schwamm ein zweites, das nicht größer war als ihr eigenes, und ruhig im Mondlicht zu träumen schien.

Soviel Gesellschaft ist mir nicht lieb, murmelte er. Irgend etwas ist im Anzug, irgend was, an dem wir vielleicht nicht gerne teilnehmen.

Höchst wahrscheinlich, antwortete Herr Grey mit grimmiger Betonung. Aber wir dürfen uns nicht abschrecken lassen – wenigstens nicht bevor ich – – Der Rest des Satzes verlor sich in ein unverständliches Gemurmel.

Herr Grey schien sich einen Augenblick vergessen zu haben. – Rudern Sie näher hin, befahl er jetzt. Fahren Sie, wenn es möglich ist, dort in den Schatten bei den Felsen! Wenn das Boot für ihn bestimmt ist, wird er sich schon zeigen. Doch ist mir noch nicht ganz klar, wie er von der Uferbank an Bord gelangen will. –

Dies schien wirklich nicht ausführbar zu sein. Nichtsdestoweniger warteten sie geduldig mehrere Minuten lang, die Augen gespannt auf das Haus gerichtet. Das Boot hinter ihnen näherte sich nicht; auch bewegte sich nichts bei der Fabrik. Noch eine kurze Weile, da flammte plötzlich an einem Fenster, das sich im oberen Stockwerk des mittleren Baus befand, ein Licht auf. Aber es dauerte nur einen Augenblick. Dann war es verschwunden.

Sweetwater faßte das Licht als ein Signal auf. Und mit unmerklichen Bewegungen des Handgelenks fuhr er langsam der Küste zu, bis sie unmittelbar an der Ecke des Pfeilerunterbaus lagen.

Horch! –

Sweetwater hatte das Wort geflüstert. Beide lauschten angestrengt.

Herr Grey beobachtete die Barkasse, während Sweetwater sein Auge auf die dunkle, überwölbte Einfahrt gerichtet hielt, die jetzt allmählich in scharfen Umrissen unter jedem der Häuser frei wurde. In früheren Zeiten waren von diesen Lagern aus die Waren direkt in die Schiffe verladen worden. Das hatte er im Städtchen erfahren. Wie das geschehen war, hatte er sich bei dem Blick auf die Hausfront nicht vorstellen können. Aber jetzt glaubte er es zu verstehen. Bei Ebbe, oder noch besser bei mäßiger Flut, konnte man in die Gewölbe unter dem Hause hineinfahren, und wenn von da eine Treppe zu einer Falltüre hinaufführte, war das Geheimnis gelöst.

Dann aber waren das Boot, das Signal und – jawohl! – die Schritte, die sich auf einem Bretterboden vernehmen ließen, ebenfalls erklärt.

.

Ich höre nichts, flüsterte Herr Grey von seinem Platze herüber. Das Boot liegt noch dort, und die Ruder bewegen sich immer noch nicht.

Warten Sie nur einen Augenblick, gab Sweetwater zurück, als das undeutliche Geräusch von rasselndem Metall von oben her an sein Ohr schlug. –

Bücken Sie sich rasch; ich muß da unter das Haus fahren. –

Herr Grey wollte protestieren, und zwar aus sehr guten Gründen: es war kaum drei Fuß Raum zwischen ihnen und dem Gewölbe über ihren Häuptern.

Aber Sweetwater hatte die Tat so rasch dem Worte folgen lassen, daß ihm keine Wahl übrig blieb.

Es war hier stockdunkel. Herr Grey muß sich eigentümliche Gedanken gemacht haben, als er über das Heck hinausspähte, ohne eine Ahnung von dem, was sich jetzt ereignen würde, oder ob dieses plötzliche Eintauchen in die Finsternis eine Verfolgung oder Flucht bezweckte. Aber er brauchte nicht lange auf Aufklärung zu warten. Jeden Augenblick wurden die Schritte in dem Gewölbe über ihnen deutlicher; und während Herr Grey möglicherweise über seine Lage nachdachte, wandte er den Kopf, so gut er konnte, nach der Richtung dieses Geräusches und starrte mit weitaufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Da beugte sich Sweetwater zu ihm herüber und flüsterte:

Sehen Sie in die Höhe! Dort oben befindet sich eine Falltüre. In einer Minute wird sie aufgehen. Sehen Sie ihn genau an, aber sagen Sie kein Wort! Dann will ich Sie bestimmt wieder in Sicherheit bringen. –

Herr Grey wollte etwas antworten, aber seine Worte verloren sich in dem Gerassel von Ketten irgendwo über ihnen. Die Dunkelheit schien sich noch vertieft zu haben. Zu hören war wohl etwas, aber nichts zu sehen. Sie konnten aus den angestrengten Atemzügen, die sie vernahmen, auf die Gegenwart eines Mannes in der Nähe schließen; aber dieser Mann war offenbar in einem Zimmer mit geschlossenen Läden und ohne Licht. Herr Grey dachte sich, daß er wahrscheinlich nicht viel mehr erfahren würde, als er schon gewußt habe.

Da tauchte plötzlich, ganz unerwartet, für ihn wenigstens, ein Gesicht aus der Dunkelheit über ihnen auf – ein weißes Gesicht, in dem sich jeder Zug unheimlich scharf abzeichnete in dem hellen Lichte, das Sweetwater darauf geworfen hatte. Im nächsten Moment war das Gesicht oder vielmehr das Licht, das es verraten hatte, verschwunden.

Was ist das? Seid ihr es? tönte es in rauhen und nicht sehr ermutigenden Lauten herunter.

Die Antwort blieb aus. Sweetwater hatte sich bereits mit aller Kraft in die Ruder gelegt, und das kleine Boot schoß aus seinem gefährlichen Hafen hinaus.


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