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Dreizehntes Kapitel

Ich erlaubte mir keine Bemerkung zu den Eröffnungen des Inspektors, trotzdem mein Herz fieberhaft pochte. Herr Gryce musterte mit großem Interesse die Tapete, als ob ihn die Unterhaltung nichts anginge.

Ich fühlte, daß ich die Absichten und Gedankengänge des Inspektors noch nicht genügend verstand, um zu sprechen. Meine Zurückhaltung schien ihn zu erfreuen. Auf jeden Fall blickte er mich noch freundlicher an, als er fortfuhr:

Dieses Sears müssen wir habhaft werden, da er zum wenigsten ein wichtiger Zeuge ist. Man sucht ihn an allen Orten, und wir hoffen, vor heute abend etwas über seinen Aufenthaltsort zu erfahren, das heißt, wenn er sich in dieser Stadt aufhält. Mittlerweile sind wir alle – – ich bin überzeugt Sie auch! – – froh, daß wir einen hochgestellten Herrn, wie Herrn Grey, nicht belästigen müssen.

Herr Gryce nickte gedankenvoll, sagte aber nichts.

Und Herr Durand? fragte ich daher. Was für einen Nutzen hat er von diesem Zwischenfall?

Er wird die weitere Entwickelung abwarten müssen. Ich sehe keine andere Möglichkeit, mein liebes Fräulein. –

Er sagte das in freundlichem Tone. Aber ich ließ das Haupt sinken.

Ich fühlte, daß das ewige Abwarten ihn und mich zu Tode foltern würde. Herr Gryce, der meine Verzweiflung bemerkte, streichelte mir die Hand und sagte: Verlieren Sie den Mut nicht, Sie haben genügend erfahren, um zu sehen, daß es nie klug ist, etwas erzwingen zu wollen. –

Dann fügte der Inspektor selbst, möglicherweise, um mich zu ermutigen, hinzu: Es bleibt mir noch ein geringfügiger Umstand zu erzählen, der Sie interessieren dürfte. Er betrifft den Kellner Wellgood, der, wie Sie sich erinnern, von Sears empfohlen war. Bei meiner Unterhaltung mit Jones stellte sich heraus, – damals allerdings für mich, wie für ihn ein sehr geringfügiger Umstand –, daß der Kellner, der herbeieilte und den Diamanten aufhob, den Herr Grey fallen gelassen hatte, eben dieser Wellgood war. Dies hat vielleicht nichts zu bedeuten. Jones wenigstens legte diesem Umstand keine Bedeutung bei – aber ich möchte Sie doch davon unterrichten, da ich Ihnen eine Frage vorlegen möchte, die damit zusammenhängt. Sie lächeln?

Habe ich gelächelt? gab ich harmlos wieder. Ich weiß nicht, warum.

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ich hatte immer darauf gewartet, warum der Inspektor mich mit all diesen Entdeckungen, ja mit seinen innersten Gedanken beehrte. Jetzt erkannte ich es. Er wollte ein Gegengeschenk!

Sie waren in jenem Augenblick auf dem Schauplatze, fuhr er fort, indem er mich einen Augenblick forschend ansah, und Sie müssen den Mann gesehen haben, als er das Juwel aufhob und Herrn Grey wieder einhändigte. Haben Sie sein Gesicht beobachtet?

Nein, Herr Inspektor, antwortete ich, ich war viel zu weit mit meinen Gedanken abwesend, außerdem beobachtete ich damals Herrn Grey.

Das ist schade. Ich hoffte schon, Sie könnten uns über einen wichtigen Punkt Auskunft geben.

Was ist das für ein Punkt, Herr Inspektor?

Ob die folgende Beschreibung auf ihn zutrifft.– – Er griff nach einem anderen Zettel und war schon im Begriff, mir seinen Inhalt laut vorzulesen, da ereignete sich ein Zwischenfall. Ein Mann erschien an der Türe.

Kaum hatten die beiden Herren ihn erkannt, da schienen sie meine Gegenwart völlig zu vergessen und widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Ankömmling. Vielleicht war daran die äußere Erscheinung des Mannes schuld, der aussah, als sei er rasch gelaufen oder Zeuge eines ungewöhnlichen Vorfalles gewesen. Auf jeden Fall sprang der Inspektor bei seinem Eintritt auf und öffnete bereits den Mund zu einer Frage, da erinnerte er sich noch rechtzeitig an meine Anwesenheit. Ich schaute mich um, wohin ich mich zurückziehen könnte, ohne daß er mich dazu aufzufordern brauchte. Da stieß Herr Gryce die Tür zu einem Nebenzimmer auf und bat mich, dort Platz zu nehmen, da sie einen Augenblick mit dem Manne zu sprechen hätten.

Ich folgte natürlich seinem Ersuchen, aber nicht ohne ihm einen bittenden Blick zuzuwerfen. Offenbar tat der Blick seine Wirkung, da seine Miene sich veränderte, als er die Tür wieder zuzog. Würde er die Tür ganz schließen und mich so von der Unterhaltung ausschließen, die mich sicherlich so nahe als sonst jemand auf der weiten Welt anging? Oder hatte er meine Wißbegierde erkannt, die Notwendigkeit, zu erfahren, wie meine Aussichten standen, und würde er mich an dem Berichte des Mannes teilnehmen lassen?

Aengstlich beobachtete ich die Türe. Die Klinke bewegte sich langsam, zu langsam, als daß die Türfalle hätte einschnappen können. Würde er sie vollends zudrücken? Nein. Er ließ sie, wie sie war. Die leiseste Erschütterung des Fußbodens würde den Spalt erweitern, ohne daß das Zurückschnappen der Türfalle gehört werden würde, davon war ich überzeugt. Aber ich brauchte nicht darauf zu warten, um die gewünschte Gelegenheit zu erhalten. Die Männer im Büro begannen zu reden, und zu meiner unaussprechlichen Erleichterung konnte ich jedes Wort der Unterhaltung vernehmen, der ich nunmehr meine vollste Aufmerksamkeit zuwandte.

Nachdem der Inspektor seinem Erstaunen über das Aussehen des Ankömmlings Ausdruck gegeben, brach der letztere in die Worte aus:

Eben bin ich mit Mühe dem Tode entronnen! Davon werde ich Ihnen nachher berichten. Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, daß der Mann, den wir suchen, sich in der Stadt aufhält. Ich habe ihn gestern nacht gesehen, oder wenigstens seinen Schatten, was schließlich dasselbe ist. – Ich war dort, in jenem Haus in der sechsundachtzigsten Straße, in dem Haus, das alle für verschlossen hielten. Er kam dazu, und – –

Halt! Haben Sie ihn? unterbrach ihn der Inspektor.

Nein. Es ist eine lange Geschichte, Herr Inspektor – –

Erzählen Sie sie! – Die Stimme des Inspektors klang trocken. Er war augenscheinlich enttäuscht.

Tadeln Sie mich noch nicht, Herr Inspektor, bemerkte der andere. Es ist ein geriebener Bursche. Die Sache hat sich so zugetragen: Sie wünschten die Photographie des Verdächtigen und eine Probe seiner Handschrift. Ich konnte mir keinen passenderen Ort denken, wo ich dies finden könnte, als sein eigenes Zimmer in Herrn Fairbrothers Haus. Infolgedessen verschaffte ich mir die nötige Vollmacht, und gestern abend zu vorgerückter Stunde machte ich mich auf den Weg. Ich ging allein – – ich bin immer ein Egoist gewesen – – und ergriff keine weitere Vorsichtsmaßregel, als daß ich dem an der Ecke stationierten Polizisten eine oberflächliche Erklärung gab, dann eilte ich dem Haus entlang zum hinteren Eingang, der auf die siebenundachtzigste Straße führt. Das Fairbrothersche Haus besitzt drei Haustüren, wie Sie jedenfalls wissen: Zwei auf die sechsundachtzigste Straße, das große Hauptportal und einen kleinen Eingang, der direkt mit der Treppe im Turm in Verbindung steht, und eine Tür an der siebenundachtzigsten Straße. Zur letzteren hatte ich einen Schlüssel bei mir. Ich glaube nicht, daß mich irgend jemand das Haus betreten sah. Es regnete, und die Vorübergehenden waren zu sehr damit beschäftigt, sich die Schirme über den Kopf zu halten, als daß sie einem Menschen ihre Aufmerksamkeit geschenkt hätten, der sich in einem Hauseingang versteckte.

Ich trat also ein, schloß sorgfältig die Tür hinter mir ab und stieg die erste kurze Flucht von Stufen hinan, um, wie ich wußte, so die Haupthalle zu erreichen. Ich hatte mir einen Plan vom Innern des Hauses verschafft und ihn vor meiner Expedition ziemlich genau studiert. Trotzdem wußte ich, daß ich mich verirren könnte, wenn ich mich nicht ans hintere Treppenhaus hielt, das mich zum Zimmer des Verwalters führen mußte. Trotz der geschlossenen Läden und dicht zusammengezogenen Vorhänge war es im Innern des Hauses nicht völlig dunkel; und da ich eine gewisse Abneigung gegen den Gebrauch meiner Laterne verspürte, da ich meine Schwäche für hübsche Sachen kannte und wußte, wie schwer es mir sein würde, an so vielen schönen Zimmern vorüberzugehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen, stieg ich die Treppe hinan und ließ mich vom Geländer führen. Als ich den dritten Stock erreicht zu haben glaubte, hielt ich inne. Da es hier sehr dunkel war, lauschte ich erst ganz instinktiv, dann zündete ich mein Licht an und blickte mich um.

Ich befand mich in einem großen Korridor, der so leer war, wie ein Kreuzgang in einem alten Kloster, und auch so verlassen aussah. Wohin ich schaute, bemerkte ich glatte Türen, da oder dort auch einen offenen Durchgang. Ich war in großer Verlegenheit. Ich hatte keine Idee, welches das gesuchte Zimmer war, und es ist keine angenehme Sache, um Mitternacht in einem verlassenen Hause unbekannte Zimmer zu durchsuchen, während der Regen in Strömen herniederfließt und der Wind in einem halben Dutzend großer Kamine eine Höllenmusik aufführt.

Aber es mußte trotzdem geschehen, und der Reihe nach drückte ich die Türen vorsichtig auf, bis ich zu einer kleinen, engen Tür kam, die auf die Treppe im Turme ging. So orientierte ich mich. Sears' Zimmer sollte ja neben dieser Treppe liegen. Nun war es nicht mehr schwierig, die richtige Tür zu finden. Ich schloß rasch die Türe, die auf die kleine Treppe ging, ab, wandte mich Sears' Zimmer zu und öffnete die Türe.

Ich hatte mich in meinen Berechnungen nicht getäuscht: es war das Zimmer des Verwalters, und sofort ging ich auf den Schreibtisch zu. –

Und Sie fanden? hörte ich den Inspektor fragen.

Meist abgeschlossene Schubladen. Aber ein Schlüssel an meinem Bund paßte zu verschiedenen Schlössern, und mein Messer half bei den übrigen nach. Hier sind die Proben von seiner Handschrift, die ich gesammelt habe. Ich frage mich, ob Sie daraus viel entnehmen können. Ich habe im ganzen Zimmer nichts Verdächtiges bemerkt, aber es ist richtig, daß ich nicht Zeit hatte, seine Koffer zu durchsuchen; einer davon sah sehr interessant aus – – alt wie die Arche Noahs und – –

Sie hatten keine Zeit? unterbrach ihn der Inspektor. Warum hatten Sie keine Zeit? Was ereignete sich denn? Wer störte Sie?

Das will ich Ihnen erzählen, Herr Inspektor. – Der Ton, in dem der Mann das sagte, versetzte mich und vielleicht sogar den Inspektor in Aufregung. –

Ich kam eben von dem Schreibtische und blickte mich im Zimmer um, das so schmucklos und ohne Verzierungen wie meine Handfläche war, ja keine Spur von Bequemlichkeit aufwies, da hörte ich ein Geräusch, das nicht von dem Regen oder dem Sturme herkam; dieses Geräusch hatte ich keinen Augenblick aus dem Gehör verloren. Es klang unangenehm, dieses Geräusch; es hatte so etwas Schlangenhaftes an sich, und so schloß ich augenblicklich meine Blendlaterne. Hierauf schlich ich eilends aus dem Zimmer, da ich nicht gerne in eine Falle gehe.

Im Gange war es dunkler als je, oder es kam mir wenigstens so vor. Ich kroch den gleichen Weg zurück, den ich gekommen war. Als ich zu einer Säule gelangte, beschloß ich, mich dahinter zu verstecken. Denn das Geräusch, das ich vernommen hatte, beruhte auf keiner Täuschung. Außer mir war noch jemand im Hause, der die kleine Treppe im Turm heraufkam und Zündhölzchen anzündete, als er näher kam. Wer konnte es sein? Ein Detektiv vom Distriktsquartier? Schwerlich. Er würde mit einer Laterne, statt mit Zündhölzern ausgerüstet sein, um seinen Weg zu finden. Ein Einbrecher? Nein. In einem so reichen Hause stieg ein Einbrecher nicht zum dritten Stocke empor. Also wohl ein Polizist, der mich beim Betreten des Hauses beobachtet hatte, und dem es auf irgend eine Weise gelungen war, mir zu folgen. Ich wollte abwarten. Mittlerweile behielt ich meinen Platz hinter der Säule und wartete, da ich nicht wußte, welchen Weg der Eindringling nehmen würde.

Wer er sein mochte, er war offenbar erstaunt, die Türe von der Treppe zum Gang geschlossen zu finden, denn er strich ein weiteres Zündholz an, als er diese Tür öffnete. Hier erblickte ich zum ersten Male den Lichtschein. Und wenn es mir auch nicht gelang, den Mann selbst zu sehen, so zeichnete sich doch sein Schatten mit aller Schärfe an der Wand ab.

Der Schatten aber war ganz geeignet, meinen Argwohn zu wecken. Ich sagte mir zwar nicht gerade: Das ist der Mann, den ich haben möchte; aber ich sah, daß es niemand von der Polizei war. Und daher machte ich mich auf alles gefaßt. –

Das erste, was sich ereignete, war das plötzliche Verlöschen des Zündholzes, dessen Licht mir den Schatten an die Wand gemalt hatte. Der Eindringling zündete kein weiteres mehr an. Ich hörte, wie er über den Korridor eilte, mit raschem Schritt, wie einer, dem sein Weg wohl bekannt ist. In der nächsten Minute flammte ein Gaslicht im Zimmer des Verwalters auf, und ich wußte, daß der Mann, hinter dem die ganze Polizei her war, sich in eine Falle begeben hatte.

Sie werden zugeben, daß es nicht meine Pflicht war, ihn jetzt festzunehmen, ohne zuzusehen, was er hier tun wollte. Man glaubte, er halte sich fern von New York, im Osten, Süden oder Westen auf, und jetzt war er hier; warum war er hier? Ich wußte, daß es das war, was Sie interessieren würde, und das interessierte auch mich selber. So blieb ich an meinem Platze, der ganz gut war, und lauschte, da ich nichts sehen konnte.

Was hatte er vor? Was wollte er in diesem leeren Hause um Mitternacht? Erstens Papiere und zweitens Kleider. Ich hörte ihn am Schreibtisch, ich hörte ihn am Schrank, und nachher in dem alten Koffer wühlen, in den ich so gerne selber hineingeblickt haben würde. Er muß den Schlüssel mitgebracht haben, denn ich hörte, wie er den Inhalt in der denkbar kürzesten Zeit herauswarf, um etwas zu finden, nach dem er in der größten Eile suchte. Er fand es schneller, als ich gedacht hätte, und begann die Sachen wieder in den Koffer zu werfen, da ereignete sich etwas.

Offenbar fiel sein Blick erwarteter- oder unerwarteterweise auf einen Gegenstand, der alle Leidenschaften in seinem Innern in Aufruhr versetzte, und er brach in laute Ausrufe aus, die in Seufzern und Gestöhn endeten. Schließlich küßte er diesen Gegenstand mit einer Leidenschaft, die an Wut grenzen mußte, und dann wieder und wieder, bis ihm die Kraft auszugehen schien. Ich habe nie so etwas gehört, meine Neugierde war so erregt, daß ich im Begriffe war, alles für einen einzigen Blick aufs Spiel zu setzen, als er plötzlich stöhnte und laut genug, daß ich es hören konnte, ausrief: »Küssen, was ich gehaßt? Das ist fast so schlimm, als zu töten, was ich geliebt!« Das waren seine Worte. Ich weiß bestimmt – weil ich es deutlich hörte –, daß er »küssen« und daß er »töten« sagte.

.

Das ist ja höchst interessant, sagte der Inspektor. Nur weiter mit Ihrem Berichte! Warum haben Sie ihn denn nicht festgenommen, solange er sich in dieser Aufregung befand? Sie würden ihn in der Ueberraschung leicht bezwungen haben.

Ich hatte keinen Revolver bei mir, sagte der andere in bedauerndem Tone. Er aber hatte, wie ich deutlich gehört, den Hahn einer Pistole gespannt. Ich dachte, er wolle sich das Leben nehmen und hielt in Erwartung des Knalls den Atem an. Aber er hatte nichts Derartiges im Sinne. Er legte die Pistole nieder und zerriß entschlossen etwas, das wohl den Gegenstand seiner leidenschaftlichen Aufwallung gebildet hatte. Dann murmelte er einen Fluch vor sich hin und begab sich nach der Türe und von da zur Turmtreppe. Ich wollte ihm folgen; aber nicht bevor ich gesehen, was es war, das er in einem solchen Wutanfall zerrissen hatte.

Ich glaubte es zu wissen, aber ich wollte meiner Sache sicher sein. Daher kroch ich, bevor ich mich in den Turm wagen würde, in das Zimmer, das er verlassen, und tastete suchend auf dem Boden, bis ich das Gesuchte fand.

Eine zerrissene Photographie Frau Fairbrothers? fiel der Inspektor ein.

Jawohl; haben Sie nicht gehört, wie er sie liebte? Eine närrische, aber offenbar aufrichtige Leidenschaft. – –

Halten Sie sich nicht mit Kommentaren auf, Sweetwater, unterbrach ihn der Inspektor. Kommen wir wieder zur Sache!

Gewiß, Herr Inspektor. Die Tatsachen sind interessant genug. Nachdem ich diese Stücke aufgelesen, schlich ich mich zur Turmtreppe. Und hier stieß mir mein erstes Pech zu. Ich strauchelte in der Dunkelheit, und der Mann unten hörte es offenbar, denn der Hahn knackte abermals. Das war mir unangenehm, und ich dachte schon darüber nach, wie ich mich am besten aus der Affäre ziehen würde. Aber ich tat es doch nicht. Ich wartete nur, bis ich seinen Schritt wieder vernahm. Dann folgte ich, aber sehr vorsichtig, dieses Mal! Es war kein angenehmes Abenteuer.

Mir kam es vor, wie wenn ich in einen unheimlichen Schacht hinunterstiege, auf dessen Grund mich vielleicht der Tod erwartete. Es war mir unmöglich, etwas zu sehen, und ich vernahm auch nichts anderes, als das beinahe unhörbare Geräusch meiner Finger, die die Wand entlang glitten, das einzige Mittel, meinen Weg zu finden. War er unterwegs stehen geblieben? Erwartete mich das Gefühl kalten Stahles oder die Umarmung durch zwei kräftige, mörderische Arme? Ich hatte keine Unterbrechung in der glatten Oberfläche der Wand entdeckt, so daß ich also ohne Schwierigkeiten ins zweite Stockwerk gelangte. Dort aber war ich vor die Entscheidung gestellt, ob ich das Treppenhaus verlassen und ihn in den großen Zimmern, die sich dort befanden, suchen, oder ob ich bis zum ersten Stockwerk hinabschleichen und von da auf die Straße eilen sollte, wohin er möglicherweise zu entfliehen trachtete. Ich gestehe, daß ich beinahe versucht war, meine Laterne wieder aufzuklappen und mit ihrer Hilfe die Entscheidung zu treffen. Aber da sagte ich mir, wie wenig es nützen würde, wenn ich mit einer Kugel im Leib in diesem Treppenhaus liegen bliebe. Daher gelang es mir, mich zu beherrschen und auf dieselbe Weise meinen Weg fortzusetzen. Im nächsten Augenblick glitten meine Finger um eine Ecke.

Nunmehr wußte ich, daß die Entscheidung gekommen war. Da ich mir sagte, daß es niemand möglich ist, sich so leise fortzubewegen, daß er sich nicht auf irgend eine Art verriete, hielt ich inne, um zu lauschen.

Ich wußte, daß ich irgend ein Geräusch vernehmen müßte. Als ich ein Knarren in den Tiefen der Halle vor mir vernahm, wandte ich mich dieser Halle zu.

Hier herrschte keine so tiefe Dunkelheit: doch konnte ich keinen der Gegenstände erkennen, gegen die ich mehrere Male anstieß. Ich eilte an einem Spiegel vorbei – – ich weiß kaum, wie ich dazu kam zu wissen, daß es ein Spiegel sei – – und in diesem Spiegel glaubte ich einen Geist vorbeihuschen und verschwinden zu sehen. Das war zuviel für meine Selbstbeherrschung. Mit Mühe unterdrückte ich einen Fluch und rannte weiter. Dann stieß ich gegen eine Türe, die eben zuflog. Ich riß sie wieder auf und stürmte hinein. Dann klappte ich in meiner Verzweiflung meine Blendlaterne auf. Aber statt, wie ich erwartete, den scharfen Knall einer Pistole zu vernehmen, sah ich, wie eine andere Türe vor mir zugeschlagen wurde. Dieses Mal hörte ich das Schloß zuklappen. Alsbald erkannte ich auch, daß mir der Weg zu weiterem Vordringen abgeschnitten war.

Nunmehr machte ich eilends Kehrt und rannte zu der Türe zurück, durch die ich gekommen war. Aber ich entdeckte, daß auch sie, gleichzeitig mit der anderen, abgeschlossen worden war, indem wohl durch ein Schloß gleichzeitig beide Türen zugeriegelt werden konnten. Da saß ich in der Falle und war in einem engen Durchgang gefangen. Und zwar, wie mich ein eiliger Blick überzeugte, hatte ich sehr wenig Hoffnung, rasch wieder flüchten zu können:

Die Türen waren nämlich fest verriegelt, nirgends ein Gegenstand sichtbar, um sie aufzubrechen, dann war kein Fenster vorhanden, und die einzige Verbindung mit der Außenwelt, wenn man es überhaupt so bezeichnen darf, bildete ein Schacht über mir, der von der Decke aus bis zum Dache des Hauses zu führen schien. Ob dieser nun zur Ventilation diente oder als Lichtschacht für das Gemach, wenn beide Türen geschlossen waren, soviel stand fest, daß er viel zu wenig zugänglich war, als daß ich durch ihn meine Flucht hätte bewerkstelligen können.

Nie saß jemand tiefer in der Patsche als ich. Als ich mir sagte, wie wenig Aussicht vorhanden war, daß jemand das Haus betreten und mich so erlösen würde, und als ich mir vorstellte, wie mein Gegner nun in aller Ruhe das Haus verlassen konnte, da fühlte ich, wie ich gestehe, daß ich mich in einer hoffnungslosen Lage befand. Denn selbst wenn ihn der Polizist, der sich auf der Straße befand, beim Verlassen des Hauses sehen würde, würde er sich denken, ich sei es, der aus dem Hause komme. Aber der Aerger bildet ein mächtiges Reizmittel, und ich war wütend, nicht allein über Sears, sondern noch mehr über mich selbst. Als ich mich daher ausgeflucht hatte, sah ich mich von neuem in dem Gelaß um. Ich fand, daß es nicht möglich war, mir einen Weg durch die Mauer zu graben. Darum wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Schachte über mir zu, der glücklicherweise nicht sehr breit war und mich sicher aus dem Loch hinausführen würde, wenn es mir nur gelänge, zu ihm hinaufzuklettern. Und wie glauben Sie, daß mir das schließlich gelang? Sehen Sie meine schmutzigen, verschmierten Kleider an, so können Sie es erraten: ich habe mir in die Wände Stufen hineingegraben. Als ich da unten stand und hinaufblickte, wußte ich, daß eine schier unmögliche Arbeit meiner harrte, die ich außerdem im Dunkeln vollbringen mußte. Aber ich sah ein, daß das Leben schon ein Wagnis wert ist und daß ich lieber herunterstürzen und den Hals brechen wollte, in der Hoffnung, vielleicht doch hinauszukommen, als lange Stunden in trostloser Untätigkeit zuzubringen und schließlich langsam zu verhungern.

Ich hatte ein Taschenmesser, ein vorzügliches Taschenmesser. Aber ich erkannte, daß es mir niemals den Weg durch eine der Türen hätte bahnen können. Sie waren aus dicken Eichenplanken. Es hätte Wochen gebraucht, durch sie eine Oeffnung zu schnitzen. Somit mußte ich durch den Schacht.

Für die ersten Schritte konnte mir wenigstens meine Blendlaterne Licht spenden. Die Schwierigkeit, das heißt die erste Schwierigkeit war, vom Fußboden aus zum Schacht zu gelangen, der aus der Decke aufstieg. Es stand nur ein einziges Möbelstück in meiner Zelle, eine Art Schreibtisch von ungewöhnlicher Breite. Stühle waren keine zu sehen, und der Tisch war nicht hoch genug, um bis zum Eingang des Schachtes zu reichen. Wenn es mir jedoch gelang, den Schreibtisch umzustürzen, dann war schon eher Aussicht vorhanden, hinaufzugelangen. Aber das schien unmöglich zu sein. Das Möbel war außerordentlich schwer. Ich zog aber den Rock aus und machte mich mit solcher Kraft an die Arbeit, daß es schließlich doch ging; ich weiß nicht, war das Ding doch nicht so schwer, wie mir geschienen hatte, oder besaß ich übernatürliche Kräfte, schließlich gelang es mir, ihn umzustürzen, so daß er gerade unter den Schacht zu stehen kam. Dann hieß es hinaufklettern. Aber das schien fast so unmöglich zu sein, wie an der glatten Wand selber hinaufzukommen. Aber da fielen mir die Schubladen ein. Sie waren zwar verschlossen, aber mit Hilfe meines Dietrichs konnte ich so viele davon aufschließen, daß ich am Ende eine ganz hübsche Leiter zur Verfügung hatte.

Jetzt war der Weg bis zum Anfang des Schachtes hergestellt. Aber nachher!

Ich klappte mein Messer auf. Es war scharf und spitz. Aber war es stark genug, daß ich Löcher in die Wand kratzen könnte? Das hing von der Beschaffenheit der Wand ab. Zum Glück war es eine Kalkwand. Hatten die Maurer, als sie den Schacht herstellten, eine Ahnung davon gehabt, daß einmal ein armer Teufel sich sein Leben durch diesen Schacht retten müßte und es davon abhing, wie hart der Bewurf war? Beim ersten Versuch würde sich zeigen, ob es mir möglich wäre, Löcher in die Wand zu machen. Ich gestehe, daß ich am ganzen Leibe zitterte, als ich vor diesem entscheidenden Versuch stand, und ich frage mich, ob der Schweiß, der mir aus allen Poren drang, das Ergebnis meiner Anstrengungen oder nicht vielmehr nur ein Zeichen meiner hellen Angst war. Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten der fünf folgenden tödlichen Stunden belästigen, meine Herrn. Es gelang mir wirklich, in den Bewurf Löcher hineinzukratzen, in denen meine Fingerspitzen Platz hatten. Ich erweiterte sie, daß auch meine Zehenspitzen sich daran festhalten konnten. Ich habe gekratzt, gewühlt, geschwitzt, gespäht, gelauscht, erst ob sich die Türen nicht unter mir plötzlich öffnen, dann ob nicht von oben ein Schuß ertönen, oder ob ich sonst auf irgend eine Weise daran gehindert würde, mich nach und nach langsam dorthin emporzuarbeiten, wo ich vielleicht, selbst wenn es mir gelänge, hinaufzukommen, doch noch keine Rettung fände.

Fünf Stunden, sechs Stunden vergingen so. Dann stieß ich auf ein Fenster.

Als ich dies erkannte und wußte, daß ich nur noch eine kleine Anstrengung brauchte, um wieder frei atmen und mich ausruhen zu können, war ich dem Sturze näher, als je während dieser fürchterlichen Kletterei.

Glücklicherweise hatte ich eine Vorahnung der Gefahr, und so hatte ich mich dermaßen eingeklemmt, mit ausgespreizten Beinen, daß ich den Schwindelanfall überstand, ohne herabzustürzen. Dann widmete ich mich wieder in aller Ruhe meinen Bemühungen, und nach einer weiteren halben Stunde war ich bei dem Fenster, das zum Glück für mich, sich nach innen öffnete und außerdem nicht eingeklinkt war. Mit unaussprechlicher Erleichterung kletterte ich durch dieses Fenster; dann strömte mir einen Augenblick der Geruch nach Zedernholz entgegen. Aber es kann nur einen Augenblick gedauert haben. Es war um drei Uhr heute nachmittag, als ich endlich wieder an die Luft gelangte. Die einzige Weise, wie ich mir über die Zwischenzeit Rechenschaft zu geben vermag, ist die, daß die Anstrengung, die ich in körperlicher wie in geistiger Hinsicht durchgemacht habe, trotz meiner Abhärtung für mich zu viel war, und daß ich ohnmächtig in dem Zedernholzgemach zu Boden fiel, wo meine Ohnmacht in Schlaf überging. Aus diesem Schlaf bin ich erst um zwei Uhr erwacht. Jetzt bin ich wieder da und zwar etwa in derselben Verfassung, in der ich jenes Haus verließ. Ich dachte, meine erste Pflicht sei es, Ihnen zu melden, daß ich in jenem Hause letzte Nacht Hiram Sears gesehen und Sie so auf seine Spur geführt habe. – – –

Ich stieß einen schweren Seufzer aus. Ich fühlte mich vor Aufregung beinahe starr, und ich glaube, daß auch der Inspektor und Herr Gryce nicht ganz frei von diesem Gefühle waren. Aber die Stimme des Inspektors klang ruhiger, denn ich erwartet hatte, als er schließlich sagte:

Ich werde daran denken. Das war eine tüchtige Leistung, Sweetwater.

Dann stellte der Inspektor noch ein paar Fragen, um die Tatsache festzustellen, daß Sears das Haus vor Sweetwater verlassen hatte. Hierauf befahl er dem anderen, ihm gewisse Leute zu schicken und sich dann zur Ruhe zu begeben.

Ich glaube, der Inspektor und Herr Gryce, der sich mit keinem Wort in die Unterhaltung eingemischt, hatten mich ganz vergessen. Dachte ich doch selbst nicht mehr an mich!


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