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Achtzehntes Kapitel

Die Straße hatte nur in früheren Zeiten dem Verkehr gedient. Denn die Flut hatte ihren zahllosen Ufermauern und Stützpfeilern so übel mitgespielt, daß man sich gezwungen gesehen hatte, etwas höher an den Felsen eine Straße zu bauen, auf der sich nun der ganze Geschäftsverkehr der kleinen Stadt abwickelte. Zwar standen noch viele alte Gebäude, Läden, Schuppen und selbst ein paar halbverfallene Wohnhäuser an der alten Straße. Aber die meisten waren verlassen, und die wenigen, die noch benützt wurden, wiesen Beschädigungen auf, aus denen leicht zu erkennen war, daß man bald die ganze Gegend der Gewalt der See preisgeben und für solche Beschäftigungen überlassen würde, die mit ihr zusammenhängen.

Es war um jene geheimnisvolle Stunde der Dämmerung, wo sich die scharfen Umrisse verlieren, und See und Küste in ein eintöniges Grau verfließen. Es herrschte Windstille, und die Wogen kamen mit sanftem Plätschern zur Küste her. Sie näherten sich so sehr der Straßenhöhe, daß selbst diese Fremden erkannten, daß die Flut ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Ebbe bereits herannahte.

Bald hatten sie die letzte verfallene Wohnung und damit die eigentliche Stadt hinter sich. Sand und ein paar Klippen waren alles, was sie jetzt vom Ozean trennte, der an diesem Punkte sich dem Land in einer kleinen Bucht näherte, die auf beiden Seiten von ragenden Felshäuptern beschützt war.

Dies war der sogenannte Hafen von C....

.

Es herrschte Stille. Sie begegneten einem Gefährt, einem einzigen. Sweetwater warf einen scharfen Blick auf den Wagen und seinen Lenker, sah aber nichts, das seinen Argwohn erregte. Sie befanden sich jetzt eine halbe Meile von C....; wie es schien, in einer gänzlich verlassenen Gegend.

Hier eine Fabrik? meinte zweifelnd Herr Grey.

Es war das erste Wort, das ihm seit ihrer Abfahrt über die Lippen kam.

Nicht weit von hier, antwortete Sweetwater ebenso lakonisch; und als die Straße beinahe im gleichen Augenblick eine Biegung machte, beugte er sich vor und deutete auf ein Gebäude, das rechts von der Straße lag, und dessen Fundamente von den Wellen bespült wurden.

Das ist die Fabrik, erklärte er. Man hat sie mir so gut beschrieben, daß ich sie jetzt erkenne, wo ich sie sehe. Sieht um diese Nachtzeit aus wie eine Räuberhöhle, fügte er lachend hinzu, aber was kann man von einem Patentmedizinfabrikanten anderes erwarten? –

Herr Grey antwortete nicht. Er sah sich sehr ernst das Gebäude an.

Es ist größer als ich mir dachte, bemerkte er schließlich.

Sweetwater selbst war überrascht, aber als sie näher kamen, fanden sie, daß es einen unbedeutenden Bau vorstellte. Der Teil davon, der Wellgood gehörte, war noch unscheinbarer. In Wahrheit waren es drei einzelne Häuser unter einem Dach; an zweien davon waren die Fensterläden verschlossen, sie waren offenbar unbewohnt, während das dritte ein beleuchtetes Fenster aufwies. Das war die Fabrik. Sie stand in der Mitte zwischen den beiden nicht bewohnten Häusern und sah verhältnismäßig wohlerhalten aus. Außer dem Lichte, das bereits erwähnt wurde, deuteten noch andere Anzeichen darauf hin, daß es bewohnt war, unter anderem ein paar Warenkisten, die auf dem kleinen vorderen Vorplatz aufgestapelt lagen und ein wieherndes Roß, das an ein leeres Gefährt gespannt und mit dem Zügel an einem Pfosten auf der anderen Seite der Straße angebunden war.

Ich bin froh, daß wir die Lampe sehen, murmelte Sweetwater. Was sollen wir jetzt tun? Ist es hell genug, daß Sie sein Gesicht sehen können, wenn es mir gelingt, ihn an die Haustüre zu locken? –

Herr Grey war offenbar aufgeregt und verwirrt.

Es ist dunkler als ich mir dachte, sagte er. Aber bringen Sie den Mann nur her! Wenn ich ihn nicht genau sehen kann, rufe ich dem Pferd zu, stillzustehen. Das wird ein Zeichen für Sie sein, den Mann näher herzubringen. Aber seien Sie nicht erstaunt, wenn ich davonfahre, ehe er ganz beim Wagen steht. Ich werde wieder umkehren und Sie weiter unten auf der Straße erwarten.

Ganz recht, antwortete Sweetwater, indem er in den unergründlichen Zügen des Sprechers zu lesen versuchte. So wird's gehen! –

Er sprang zu Boden, näherte sich der Haustüre und klopfte laut. Keine Antwort.

Er versuchte, die Türe zu öffnen. Aber sie war offenbar von innen verschlossen.

Merkwürdig, murmelte er, indem er einen Blick auf den Wagen jenseits der Straße, dann einen zweiten auf das beleuchtete Fenster warf, das sich gerade über seinem Haupte im zweiten Stock befand. – Na, da muß ich mal brüllen! – Und so rief er laut hinauf: Wellgood! He da Wellgood! –

Abermals rührte sich nichts.

Das sieht übel aus, gestand er sich; dann trat er einen Schritt zurück und schaute zum Fenster hinauf.

Es war geschlossen, aber kein Laden oder Vorhang vorhanden, der einen Blick ins Innere unmöglich gemacht hätte.

Sehen Sie irgend etwas? fragte er Herrn Grey, der im Verschlag des Einspänners saß und durch das kleine Seitenfensterchen herausspähte.

Nein.

Keine Bewegung im Zimmer oben? Keinen Schatten am Fenster?

Nichts.

Das ist schon verflucht seltsam! –

Dann ging er wieder zurück, indem er von neuem »Wellgood« rief.

Das Pferd, das am Pfosten angebunden war, wieherte, die Wellen nagten am Ufer, das war alles, außer der Verwünschung, die der Detektiv vor sich hinbrummte.

Wieder kam er zurück und blickte zum Fenster empor. Dann machte er seinem Herrn ein Zeichen, ging an dem Gebäude entlang und folgte dann der Seitenmauer, um zu sehen, was dahinter lag. Aber plötzlich mußte er innehalten.

Ehe er noch zwanzig Schritte vorgedrungen war, war er am Ende der Uferbank angelangt. Das Gebäude war indes noch nicht zu Ende. Jetzt erkannte er auch, warum es von einem Punkte aus bei der Herfahrt so mächtig erschienen war. Seine Hinterseite stand auf Pfeilern und war noch weit länger, als die Breite der drei Häuser zusammen betrug. Zur Ebbezeit konnte man wahrscheinlich trockenen Fußes herumgehen. Aber gerade jetzt stand das Wasser beinahe so hoch wie die Pfeiler, so daß es unmöglich war, sich der Hinterseite des Hauses auf andere Weise zu nähern, als mit Hilfe eines Boots.

Enttäuscht über seinen Mißerfolg kehrte Sweetwater wieder zur Straße zurück. Da dort alles beim alten war, faßte er einen anderen Entschluß.

Er maß mit dem Auge die Höhe des ersten Stockwerks ab. Dann ging er in aller Seelenruhe zu dem fremden Pferd hinüber, band es los, führte es herüber und warf den Zügel über einen Haken an der Türe; hierauf kletterte er auf das Pferd und darüber zu dem Fenster hinauf, wo er den einzigen Einblick in das Innere tun konnte.

Herr Grey saß wohlversteckt in dem Einspänner und beobachtete gespannt alle Bewegungen des Detektivs.

Es waren keine Vorhänge am Fenster, wie Sweetwater schon zuvor bemerkt hatte. Als er die Höhe des Gesimses erreichte, konnte er ohne Schwierigkeit in das Zimmer blicken. Es war niemand darin. Die brennende Lampe stand auf einem mit Papieren bedeckten Tische. Aber der einfache Rohrstuhl davor war nicht besetzt, und das ganze Zimmer leer. Noch blickte Sweetwater hinein; er konnte in jede Ecke sehen, und es war keine Möglichkeit ersichtlich, wo sich jemand hätte verstecken können. Da flackerte plötzlich die Lampe, die zuvor schon stark gerußt hatte, auf und ging aus.

Sweetwater stieß einen Ausruf aus und ließ sich, da er nur noch völlige Dunkelheit vor sich sah, von seinem Beobachtungsposten zu Boden gleiten.

Er näherte sich zum zweiten Male Herrn Grey und sagte:

Ich verstehe das nicht. Entweder hat sich der Kerl versteckt, oder er ist ausgegangen und hat vergessen, seine Lampe zu löschen. Aber wem gehört das Pferd? Entschuldigen Sie eine Sekunde, bis ich es wieder angebunden habe. Es sieht aus wie das, mit dem er heute gefahren ist. Es ist dasselbe. Er wird es aber doch nicht die ganze Nacht hier stehen lassen wollen? Sollen wir uns verstecken und auf ihn passen, bis er kommt, sein Pferd zu versorgen? Oder gehen Sie lieber ins Hotel zurück?

Herr Grey besann sich eine Weile. Schließlich antwortete er:

Möglicherweise argwöhnt der Mann unsere Absicht. Man weiß nie, wie sich Bursche von seiner Art verhalten. Vielleicht hat er mich wider Erwarten gesehen oder hat er vernommen, daß ich in der Stadt bin. Wenn er der Mensch ist, für den ich ihn halte, so besaß er Gründe, mir aus dem Weg zu gehen, Gründe, die ich sehr wohl verstehe. Wir wollen nicht zum Hotel zurück – ich möchte heute nacht noch der Sache auf den Grund kommen – aber weit genug müssen wir fahren, daß er denken kann, wir haben jeden Gedanken aufgegeben, ihn heute nacht herauszuklopfen. Vielleicht wartet er nur darauf.

Entschuldigen Sie, meinte Sweetwater, aber ich weiß einen besseren Kniff als diesen. Wir wollen ihn von hinten fassen. Unterwegs sind wir an einem Bootshaus vorbeigefahren. Ich werde Sie zurückführen, ein Boot holen und Sie auf dem Wasserwege zurückbringen. Das erwartet er nicht, und wenn er sich im Hause befindet, werden wir ihn oder sein Licht sehen.

Mittlerweile kann er auf der Straße entkommen, sagte Grey.

Entkommen? Glauben Sie, daß er zu entkommen trachtet? –

Der Detektiv redete mit wachsendem Erstaunen, und Herr Grey antwortete offenbar arglos:

Es ist möglich, wenn er meine Anwesenheit in der Nachbarschaft vermutet.

Wollen Sie ihn aufhalten?

Ich möchte ihn sehen.

Jawohl, ich erinnere mich. Gut, wir wollen zurückfahren – das heißt im Augenblick.

Was haben Sie vor?

Oh, nichts. Sie sagten, Sie möchten den Mann sehen, bevor er entkommt.

Ja, aber –

Und er könnte auf der Straße entkommen?

Ja –

Nun ja; ich habe das gerade unmöglich gemacht. Ein kleines Steinchen im Schlüsselloch und – ei, sehen Sie dort, das Pferd geht durch! Ei, et! Ich muß es schlecht angebunden haben. Es sollte mich nicht wundern, wenn es in diesem Trab bis zur Stadt führe. Aber da ist nichts zu machen.

Sweetwater lächelte, dann setzte er hinzu:

Man kann nicht verlangen, daß ich ihm nachgehe. Sind Sie jetzt bereit, gnädiger Herr? Ich will noch einmal rufen, dann steige ich ein. –

Und noch einmal hallte der Ruf durch die einsame Gegend: Wellgood! Heda, Wellgood!

Es erfolgte keine Antwort. Der junge Detektiv, der für den Augenblick den vertrauten Diener Herrn Greys spielte, sprang in das Gefährt und lenkte das Pferd in der Richtung auf C. ... zurück.


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