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Fünfzehntes Kapitel

Ich bat meinen Onkel, dem Kutscher Anweisung zu geben, uns auf dem Heimweg durch die sechsundachtzigste Straße zu fahren, da ich den Wunsch hatte, einen Blick auf das Fairbrothersche Haus zu werfen. Ich hatte es zwar schon mehr als einmal gesehen, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich es nach der Erzählung, die ich eben beim Inspektor mit angehört hatte, mit anderen Augen betrachten als bisher. Daß ein Abenteuer dieser Art in New York sich abspielen konnte, hätte ich niemals geglaubt. Ich hätte es in Paris für möglich gehalten, in dem schlimmen, geheimnisvollen Paris, wo Intrigen und alle schrecklichen Verbrechen vorkommen sollen, aber in unserer nüchternen, schlichten Stadt? – Nein! Ich mußte das Haus sehen, um dem Bericht des Detektivs Glauben schenken zu können.

Das Haus ist sehr bekannt. Gemeinhin spricht man mit einem Achselzucken davon, um anzudeuten, daß in der ganzen Stadt kein zweites Haus in dieser Art steht. Ich habe es für imposant und majestätisch gehalten; aber im Durchschnitt erinnert es die Leute zu sehr an das feudale Leben der alten Welt, als daß es ihnen gefiele. Diesen Nachmittag – es herrschte düsteres, niederdrückendes Wetter – sah es unleugbar schwerfällig aus, als wir uns ihm näherten, aber es kam mir auf eine neue Art interessant vor, wegen des großen Turms an einer Ecke, dem Schauplatz jener nächtlichen Verfolgung, wo jeder der zwei Beteiligten zwar in tödlicher Furcht schwebte, aber keiner in seiner Absicht schwankte, der eine in der Flucht, der andere in der Verfolgung.

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Das Haus grenzte an die Straße. Daher ging die kleine Turmtüre ebenfalls auf die Straße, und für jeden, der einen Schlüssel besaß, war infolgedessen der Zugang sehr einfach, da kein Vorgarten zu durchschreiten war. Aber der Schacht und das kleine Gelaß, in das er mündete, wo befanden sich die? Natürlich im Innern der großen Masse, da es ja keine Fenster besaß.

Daher war es aussichtslos, darnach zu suchen, und doch glitt mein Blick an den Zinnen des Daches entlang, um das Fenster zu finden, in dem der Schacht zweifellos endete. Schließlich gelang es mir, es ausfindig zu machen, und als meine Neugier über diesen Punkt zufriedengestellt war, ließ ich meine Blicke über die Mauern des Gebäudes wandern, ob ich vielleicht ein Fenster entdecken würde, das geöffnet oder von dem die Vorhänge zurückgezogen wären. Aber alle waren geschlossen und verrieten nicht das geringste.

Als wir weiterfuhren, mußte ich daran denken, wie morgen eine große Menschenmenge durch die Straßen fluten würde, um das Wenige zu sehen, das ich eben selbst erblickt hatte. Das Abenteuer des Detektivs war geeignet, dem Hause Berühmtheit zu verschaffen. Mehrere Minuten, nachdem ich schon die Nachbarschaft des Hauses verlassen, malte ich mir in der Phantasie noch ein Zimmer nach dem anderen aus, in die kein Lichtstrahl drang, durch die aber jene zwei Schatten wie Geister hindurchgehuscht waren. –

Unser Herz bereitet uns oft seltsame Ueberraschungen. Während der ganzen Fahrt und der Beschäftigung mit diesen Gedanken war ich mir eines großen inneren Widerwillens gegen alles, was ich beim Inspektor ausgesprochen hatte, bewußt, trotzdem es ja nur meinen Gefühlen entsprungen war. Vielleicht hatten diese erfahrenen Männer das gerade erwartet.

Sie hatten mich reden lassen, und jetzt erfolgte die unvermeidliche Reaktion. Jetzt hatte ich nur noch Herrn Greys Güte und Achtbarkeit vor Augen, und ich begann mich über mich selbst zu ärgern, daß ich mich nicht sofort von den Ansichten des Inspektors hatte überzeugen lassen und nicht geneigter gewesen war, den Verdacht gegen den vornehmen Mann fallen zu lassen, den ich in meiner Anmaßung mit dem Verbrechen in Zusammenhang hatte bringen wollen. Wie hatte ich nur den Mut zu meiner Hartnäckigkeit gefunden? War es die Liebe zu meinem Bräutigam, die mich soweit getrieben hatte? Seine Unschuld hatte keine Einbuße erlitten.

Jedes Wort, das im Arbeitszimmer des Inspektors gefallen war, hatte dazu beigetragen, zu beweisen, daß Herr Durand in den Ueberlegungen der Polizei keine wichtige Rolle mehr spielte, daß sie ihre Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gelenkt hatte, und daß ich mich nur noch ein wenig gedulden müßte, um ihn in ihren Augen als unschuldig zu sehen.

Aber war dem wirklich so? Befand er sich schon so weit außer Gefahr?

Wenn nun diese neue Spur zu keinem Ergebnis führte? Wenn es der Polizei nicht gelänge, Sears zu finden oder die zweifelhafte Persönlichkeit des Wellgood in ihre Gewalt zu bekommen? Würde man Herrn Durand ohne Verhandlung wieder freilassen? Sollten wir nichts mehr von den eigenartigen Umständen hören, die manchen als verdächtig galten, und die ihn mit dem Verbrechen verketteten? Das wäre doch zuviel von der Polizei oder den Gerichten verlangt.

Nein. Herr Durand würde nie ganz vom Verdacht gereinigt sein, bevor der wahre Schuldige nicht entdeckt, bevor nicht alles erklärt wäre. Daher hatte ich nur für ihn gekämpft, als ich auf die schwachen Punkte in ihrer Theorie hindeutete. Und so bekümmert ich mich bei der Betrachtung meines scheinbar so herzlosen Vorgehens fühlte, ich war nicht die allen Tatsachen unzugängliche, stumpfsinnige Null, als welche ich dem Inspektor vorgekommen sein mußte. Und hatte es nicht den Anschein, als stünde Herr Gryce auf meiner Seite? Doch bildete dies einen geringen Trost. Die Anstrengung, die es mich kostete, Herrn Grey und meiner jungen Patientin wieder ins Antlitz zu blicken, war weit größer, als ich mir vorgestellt hatte.

Ich mußte erröten, als ich mich dem Lager Fräulein Greys näherte, und hätte ihr Vater mich in diesem Augenblick so argwöhnisch betrachtet wie ich ihn, so bin ich überzeugt, daß ich einen schlechten Eindruck auf ihn gemacht haben würde.

Aber er dachte nicht daran, mich zu beobachten; er war nur zufrieden, daß ich wieder eintraf. Das bemerkte ich augenblicklich, wie auch, daß sich während meiner Abwesenheit etwas zugetragen haben mußte, das seine Gedanken beschäftigte und ihn mit Sorge erfüllte.

Auf dem Boden lag ein Telegrammumschlag. Unter gewöhnlichen Umständen würde ich das gar nicht weiter beachtet haben, da ein Mann in seiner Stellung natürlicherweise alle Arten von Nachrichten aus allen Weltteilen erhielt; aber in diesem kritischen Zeitpunkte, wo der Wurm des nur halb unterdrückten Zweifels mir immer noch in der Seele nagte, kam mir alles wichtig vor, was mit ihm zusammenhing, und es reizte mich zum Fragen und zum Nachdenken.

Als er das Zimmer verlassen hatte, äußerte Fräulein Grey die scheinbar arglose Bemerkung:

Armer Papa! Irgend etwas quält ihn. Er will mir nicht sagen, was es ist. Ich nehme an, er denkt, ich sei nicht stark genug, um ihm seine Sorgen tragen zu helfen, aber ich werde es bald wieder sein. Sehen Sie nicht auch, daß es mir jeden Tag besser geht?

Gewiß! lautete meine herzliche Antwort.

Angesichts einer so entzückenden Vertraulichkeit und unverhüllten Zuneigung schwanden meine Zweifel dahin, und es gelang mir, alle meine Gedanken ihr zuzuwenden.

Ich wollte, Papa wäre so überzeugt davon, wie Sie, fuhr sie fort.

Aus irgend einem Grunde scheint ihn die Besserung in meinem Befinden nicht zu ermutigen. Wenn der Doktor Freligh sagt: »Nun ja! Es geht uns heute ganz gut!«, so schwinden, wie ich beobachtete, die Wolken nicht von seiner Stirne, ja, er empfängt die ermutigenden Worte nicht einmal mit einem Lächeln. Haben Sie das nicht bemerkt? Er betrachtet mich mit denselben sorgenschweren, unruhigen Blicken, wie am Tage, wo ich erkrankte. Warum denn? Ist es wohl darum, weil er so viele Kinder verloren hat, daß er seinem Glücke nicht trauen will, jetzt, wo ihm das schwächlichste von allen übriggeblieben ist?

Ich kenne Ihren Vater nicht genügend, sagte ich abwehrend, und kann nicht darüber urteilen, was in seinem Geist vorgeht. Aber er muß doch sehen, daß Ihr Zustand im Vergleich zur letzten Woche viel besser geworden ist, und daß Sie, wenn nichts Unvorhergesehenes vorfällt, in einer Woche oder höchstens vierzehn Tagen völlig wiederhergestellt sein werden.

Oh, wie gerne höre ich das! Wiederhergestellt sein! Briefe lesen, murmelte sie, und Briefe schreiben können!

Und ich sah, wie ihre zarte Hand sich sehnsüchtig nach dem wertvollen Päckchen ausstreckte, das sie in jener glücklichen Stunde erhalten würde. Da ich nicht gerne mit ihr über ihren Vater sprach, so ergriff ich diese Gelegenheit, um die Unterredung auf ein weniger verfängliches Gebiet zu lenken. Aber wir kamen nicht weit darin, da kehrte Herr Grey zurück, stellte sich unten an das Bett, betrachtete einen Augenblick nachdenklich das Gesicht seiner Tochter und sagte sodann:

Es geht dir heute besser, wie der Arzt behauptet; eben habe ich ihm telephoniert. Aber fühlst du dich wohl genug, daß ich dich auf ein paar Tage verlassen könnte? Ich muß jemand treffen, jemand aufsuchen, wenn du dich nicht davor fürchtest, mit deiner guten Wärterin unter der fortwährenden Aufsicht des Arztes zurückgelassen zu werden. –

Fräulein Grey war bestürzt. Zweifellos fand sie es schwierig, zu verstehen, wer in diesem fremden Lande ihren Vater so sehr interessierte, daß er sie verlassen konnte, wo er doch so besorgt um sie war.

Aber rasch drängte sich ein Lächeln an die Stelle der erstaunten Frage, und liebevoll und mit heiterer Miene rief sie aus:

Oh, ich fürchte mich nicht im geringsten – jetzt nicht mehr! Sieh, ich kann schon wieder meine Arme heben! Geh, Papa, geh; dann werde ich Gelegenheit haben, dich bei deiner Rückkehr mit meinem guten Aussehen zu überraschen. –

Er wandte sich plötzlich ab, da er unter einer Aufregung zu leiden schien, die stärker war, als er verraten wollte. Aber rasch hatte er seine Selbstbeherrschung wiedererlangt. Er trat von neuem ans Bett und erklärte mit erzwungener Festigkeit:

Ich muß heute nacht abfahren; es bleibt mir keine Wahl übrig. Versprich mir, daß du keine Rückschritte machst während meiner Abwesenheit, daß deine Gesundheit besser wird, daß du alle deine Gedanken darauf richtest, wieder gesund zu werden!

Gewiß will ich es, antwortete sie, ein wenig erschrocken über den Ausbruch seiner Gefühle. Mach dir nicht so viele Sorgen! Ich habe mehr als einen Grund, leben zu wollen, Papa. –

Er schüttelte den Kopf und machte sich sofort an die Vorbereitungen zur Abreise. Seine Tochter seufzte, dann aber legte sie mir die Hand auf den Arm.

Sie sehen aus, als habe Sie der Donner gerührt, sagte sie. Nur keine Angst, wir werden sehr gut zusammen auskommen. Ich habe zu Ihnen rückhaltloses Zutrauen! –

Der Abschied gestaltete sich derart, als wisse Herr Grey nicht sicher, ob er in absehbarer Zeit zurückkehren würde, trotzdem seine Reise sich ja nur auf ein paar Tage ausdehnte. Er blickte ihr in die Augen und küßte sie ein halbes Dutzend Mal, jedes Mal mit einem herzzerreißenden Blick, der weder für ihn noch für sie gut war. Und als er sich schließlich losriß, schaute er von der Türe aus noch einmal zu ihr zurück, mit einem Ausdruck, den sie glücklicherweise nicht sah; sicherlich hätte er ihr die Ausführung des Versprechens, alle ihre Energie auf die Herstellung ihrer Gesundheit verwenden zu wollen, sehr erschwert.

Was lag diesem Ausbruch des Kummers beim Abschiede von seiner Tochter zugrunde? Fürchtete er die Person, die er aufsuchen wollte, oder beabsichtigte er, länger fernzubleiben, als er erwähnt hatte? Hatte er überhaupt die Absicht, je wiederzukehren?

Ja, das war die große Frage: hatte er die Absicht, zurückzukehren, oder war ich unbewußt Zeuge seiner Flucht geworden?

Ich überließ mich nicht lange den Fragen, die mein Inneres bewegten.

In einem Augenblick erkannte ich, daß ich Herrn Gryce und nicht der Polizei Mitteilung von dem Vorhaben des Herrn Grey machen müsse. Sofort eilte ich in die Telephonzelle. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß Herr Gryce zu Hause war. Er dankte mir für meine Mitteilung, bat mich, niemandem von dem Vorkommnis zu sagen und meine ganze Aufmerksamkeit meiner Patientin zu widmen.

Wie ich nachher erfuhr, war er von der Zuverlässigkeit des Detektivs Sweetwater so sehr überzeugt, daß er ihn nicht einmal anrief, um sich zu versichern, ob er Herrn Grey gefolgt war.

Herr Gryce hatte sich in seinem Vertrauen nicht geirrt. Sweetwater verließ hinter Herrn Grey das Hotel.


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