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Siebzehntes Kapitel

Nunmehr aber ist es an der Zeit, den Bericht Sweetwaters wiederzugeben, wie er ihn sofort nach der Rückkehr des Herrn Grey, den er auf seiner Reise begleitet hatte, seinem gegenwärtigen Vorgesetzten, Herrn Gryce, in dessen Wohnung abstattete.

Mir ist das Ergebnis dieser Reise erst später mitgeteilt worden, aber zum Verständnis des Folgenden will ich den Bericht schon hier einflechten.

Herr Grey war ein sehr vornehmer Herr. Es war nicht leicht, sich ihm zu nähern, und außerdem war er bisweilen von überwältigenden Sorgen in Anspruch genommen. Aber dieser Detektiv war einzig in seiner Art, und irgendwie gelang es ihm, während der Fahrt dem großen Mann einen Dienst zu erweisen. So zog er dessen Aufmerksamkeit auf sich. Hernach wußte er sich bei ihm auf so schlaue Weise einzuschmeicheln, daß sie bald auf dem besten Fuße miteinander standen. Er erfuhr, daß der Engländer keinen Diener bei sich hatte. Da er nicht gewöhnt war, ohne einen solchen zu reisen, empfand er sehr schnell, daß er sich in einer unangenehmen Lage befand. Darauf baute Sweetwater seinen Plan. Als er hörte, daß der Engländer nur für diese Reise einen Diener benötige, legte er eine so ehrliche Bereitwilligkeit an den Tag, die Stelle zu übernehmen und wußte selber einen so guten Eindruck zu machen, daß er von ihm angestellt war, noch ehe sie in C. anlangten.

Das war ein großer Glücksfall, wie er dachte; aber er wußte noch nichts davon, zu welcher Reihe von Abenteuern ihn dieser Dienst führen würde.

Als sie sich auf dem Bahnsteig der kleinen Station befanden, wo Herr Grey aussteigen wollte, bemerkte er zweierlei: einerseits die gänzliche Unbeholfenheit des Herrn in allen praktischen Dingen und andererseits seine Begierde, alles zu sehen, was um ihn herum geschah, ohne dabei selber gesehen zu werden. Es lag Methode in seiner Neugier, nur zuviel Methode.

Für Frauen interessierte er sich nicht im geringsten. Sie konnten auf und ab gehen, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber sobald ein Mann sich ihm näherte, suchte er ihm aus dem Wege zu gehen, um ihn jedoch von dem Augenblick an mit der größten Neugier zu beobachten, wo er es für gefahrlos hielt, sich wieder nach ihm umzukehren. Aus all dem gewann Sweetwater die Ueberzeugung, daß der Engländer einen Mann erwartete, den er zwar fürchtete, aber dennoch zu treffen wünschte.

Davon war er sehr bald darauf völlig überzeugt. Als sie den Bahnhof mit den letzten Ankömmlingen verließen, sagte Herr Grey:

Bestellen Sie mir ein Zimmer in einem sehr ruhigen Hotel! Dann suchen Sie den Mann ausfindig zu machen, dessen Name Sie auf diesem Zettel finden werden. Wenn Ihnen das gelungen ist, so überlegen Sie sich, wie ich mir den Mann genau anschauen könnte, ohne daß er mich dabei irgendwie sieht. – Wenn Sie das fertig bringen, so bekommen Sie einen Wochenlohn für diesen einzigen Tag! –

Sweetwater nahm frohen Herzens, – denn die Sache sah sehr aussichtsvoll aus –, den Zettel entgegen und steckte ihn in die Tasche; dann machte er sich auf die Suche nach einem Hotel. Erst als er gefunden, was er suchte und den Engländer auf sein Zimmer geführt hatte, faltete er den wertvollen Zettel auseinander und las den Namen, über den er sich seit einer Stunde den Kopf zerbrach. Zu seiner großen Befriedigung fand er, daß dieser Name nicht nur Herrn Gryce, sondern auch den Inspektor höchlich interessieren würde.

Auf dem Zettel stand nämlich – – James Wellgood.

Zufrieden, eine kitzliche, aber dankbare Aufgabe vorgefunden zu haben, machte er sich mit seiner gewohnten Begeisterung und Vorsicht daran, sie zu lösen.

Erst bummelte er auf das Postamt. Der Zug, der ihn in das Städtchen geführt hatte, war ein Postzug gewesen, und so rechnete er darauf, die halbe Stadt auf dem Postamt zu finden, um ihre Briefe abzuholen.

Seine Annahme bestätigte sich. Das Amt war mit Leuten gefüllt. Er stellte sich in der Nähe des Schalters auf, wo er gemächlich abwartete, bis er einen Namen ausrufen hörte, für den er sich allein interessierte – James Wellgood.

Der Beamte am Schalter kannte offenbar diesen Namen und streckte die Hand nach einer ungewöhnlich gutverpackten Sendung aus, da hielt er unterwegs inne und warf Sweetwater, der sich an den Schalter gestellt hatte, einen scharfen Blick zu.

Wer sind Sie? fragte er.

Ein Fremder, entgegnete der junge Mann leichthin, ich würde gern Herrn James Wellgood sehen. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann. Wie ich eben hörte, werden seine Briefe von hier aus bestellt.

Sie halten andere Leute auf, drängte der Beamte. – Er spielte wahrscheinlich auf den Mann an, der Sweetwater den Ellbogen in den Rücken bohrte. – Fragen Sie Dick, der hinter Ihnen steht; er ist mit ihm bekannt.

Der Detektiv trat beiseite und redete Dick an. Zu seiner großen Befriedigung teilte ihm Dick, ein schieläugiger Bursche, mit, daß sich Herr Wellgood wahrscheinlich in einigen Augenblicken in Person einstellen würde, um seine Post abzuholen. – Da drüben vor dem Laden steht sein Wagen, sagte er.

Welch ein glücklicher Zufall, dachte der Detektiv, daß ich den alten Kellner des Herrn Jones gleich bei der ersten Gelegenheit treffe.

Er schlenderte zur Türe, um auf den Besitzer des Einspänners zu tourten. Er hatte munkeln gehört, daß die New Yorker Polizei insgeheim in allen Richtungen nach diesem Manne Nachforschungen anstellte, und daß ihn verschiedene Beamte für identisch mit Sears selber hielten.

Daher sollte er bald den Mann erblicken, dessen Spuren er vor wenigen Nächten im Fairbrotherschen Haus gefolgt, dessen Schatten er gesehen, und durch dessen entschlossenes Vorgehen er um ein Haar zu langsamem Verhungern verurteilt worden wäre.

Ein gefährlicher Kunde, dachte er. Ich bin gespannt, ob ich nach dem Schattenbild, aber insbesondere durch meinen Instinkt dazu geführt werde, ihn wiederzuerkennen. Wundern sollte mich's nicht. Er hat mich schon mehr als einmal richtig geleitet.

Auch dieses Mal schien er sich zu bewähren; denn als der Mann schließlich auf der Straße erschien, die den Laden und das Postamt trennte, empfand er plötzlich ein Unbehagen, das dem Gefühl der Furcht glich. Und da an der Erscheinung des Mannes nichts zu sehen war, das sonst seine Aufmerksamkeit hätte erregen können, nahm er jenes Gefühl als das sichere Zeichen dafür auf, daß er den Mann wiedererkannte.

Daher betrachtete er ihn sehr genau, und so gelang es ihm, einen Blick von seinen Augen zu erhaschen. Das genügte. Der Mann hatte in jeder Beziehung – in seinen Gesichtszügen, in Kleidung und Auftreten – nichts Auffallendes an sich, mit Ausnahme seiner Augen. Diese waren keine harmlosen Durchschnittsaugen; wer sie gesehen, mußte sie im Gedächtnis behalten.»

Er hatte Sweetwater angesehen, als er an ihm vorbeikam. Aber Sweetwater sah ebenfalls harmlos aus und erweckte nicht, wie er, Furcht im Inneren des anderen; pfeifend betrat er das Gebäude und kam dann wieder mit seinen Postsachen in der Hand herausgeschlendert.

.

Im ersten Augenblick hatte der Detektiv die Absicht gehabt, ihn sofort als verdächtig und von der New Yorker Polizei eifrig gesucht, festzunehmen. Aber eine kurze Ueberlegung sagte ihm, daß er nicht allein keinen Haftbefehl gegen ihn in Händen hatte, sondern auch der Polizei, wie seinem jetzigen Vorgesetzten, dem Detektiv Gryce, einen größeren Dienst erweisen würde, wenn er seinen Auftrag erledigen, diesen Mann und den Engländer zusammenbringen und das Ergebnis abwarten würde. Aber wie konnte er das im Einklang mit den Bedingungen tun, die ihm Herr Grey gestellt hatte?

Er wußte nichts von den äußeren Verhältnissen und der Stellung, die dieser Mann in der Stadt einnahm. Wie sollte er also zu Werk gehen, um diesen Plan, der dem anderen vielleicht ebenso rätselhaft war, wie ihm selbst, auszuführen?

Er konnte diesen Fremden unter irgend einem Vorwand auf der Straße anreden, aber daraus folgte noch nicht, daß es ihm gelingen würde, ihn in das Hotel zu locken, wo ihn Herr Grey sehen konnte.

Wellgood, der, wie Sweetwater glaubte, mit Sears identisch war, besaß zuviel Erfahrung, um sich in eine Falle arglos hineinzubegeben, und so mußte Sweetwater ihn abfahren lassen, ohne den geringsten Fortschritt in seinem Vorhaben gemacht zu haben.

Aber das schadete nichts. Er hatte noch den ganzen Abend Zeit. Daher begab er sich wieder in das Postbüro, wo noch immer Leute standen, die auf Pakete warteten. Unter ihnen bemerkte er Dick, der sich mit anderen Leuten unterhielt. Warum sollte er ihn nicht über Wellgood ausfragen?

Nur mußte er dabei vorsichtig zu Werke gehen. Das tat er denn auch.

Der Mann gab ihm eine Auskunft über Wellgood, die ihn überraschte.

Wenn er früher und in New York als Kellner bekannt gewesen war, so wußte man dagegen hier, daß er ein Patentheilmittel zur Verjüngung des Menschengeschlechts herstellte. Er war noch nicht lange in der Stadt und galt noch als Fremder; aber das sollte nicht mehr lange anhalten. Er machte von sich reden. Er gab das Geld mit vollen Händen aus, fuhr, wo andere Leute gingen, und allein die zahlreichen Postsendungen, die für ihn eintrafen, zogen schon die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn. Alle die Pakete dort seien für ihn bestimmt und sollten in eine Fabrik geschafft werden.

Man brauche sie nur zu zählen und an alle die Flaschen denken, die da hineingehen! Wenn er sie so teuer verkaufe als er sage, dann werde er bald ein reicher Mann sein; und so plauderte der geschwätzige Dick weiter, bis ihn Sweetwater durch die Frage zum Schweigen brachte, ob Wellgood schon einmal verreist gewesen sei, seit er in der Stadt lebe. Er erhielt die Antwort, daß er eben aus New York zurückgekehrt sei, wohin er sich begeben habe, um verschiedene Dinge einzukaufen, die er in seiner Fabrik brauche. Sweetwater sah, daß sich alle seine Ueberzeugungen bestätigten und fragte schließlich:

Und wo liegt seine Fabrik? Es würde sich vielleicht verlohnen, sie zu besichtigen.

Der andere machte eine Handbewegung, murmelte rasch etwas von Nordwesten und eilte hinweg, da er offenbar jetzt seine Sendung erhalten sollte. Sweetwater benützte die Gelegenheit, um sich unbemerkt zu entfernen. Genauere Angaben konnte er leicht an anderen Stellen erhalten.

Er wollte sobald als möglich zu Herrn Grey zurückkehren und war gespannt, ob dieser überrascht wäre, wenn er vernähme, daß der Mann, der den Namen Wellgood führte, ein Fabrikbesitzer und Inhaber eines Warenlagers sei, aus dem er sich ein Vermögen verspreche.

Sweetwater hielt sich daher auf seinem Wege zu den Zimmern des Herrn Grey im Hotel nur ein einziges Mal auf und zwar in der Stallung. Hier erfuhr er, was er sonst noch zu wissen brauchte, und im Besitze dieser umfassenden Auskunft erschien er vor Herrn Grey, der zu seinem Erstaunen auf seinem Zimmer zu Abend speiste. Er hatte den Kellner weggesandt und schien keinen großen Appetit zu haben, sondern in Gedanken versunken zu sein. Trotzdem empfing er Sweetwater mit einem neugierigen Blick und der Frage, was er zu melden habe.

Der Detektiv antwortete einigermaßen unterwürfig, daß er Wellgood gesehen habe, daß es ihm aber nicht gelungen sei, ihn anzureden oder mit sich zu bringen, so daß ihn sein Herr beobachten könne. Er ist Fabrikant eines Patentheilmittels, erklärte er sodann, und fabriziert seine Tränklein in einem Hause, das auf einer abgelegenen Straße eine halbe Meile vor der Stadt liegt, und das er zu diesem Zwecke gemietet hat.

Wie, Wellgood? Der Mann, der Wellgood heißt? rief Herr Grey aus und legte die ganze Ueberraschung an den Tag, die der andere im geheimen erwartete.

Jawohl! Wellgood – James Wellgood. Es gibt keinen anderen Mann dieses Namens in der Stadt, ich habe mich darnach erkundigt.

Seit wann wohnt der Mann hier? fragte der Staatsmann, nachdem er einen Augenblick in augenscheinlicher Verwirrung geschwiegen hatte.

Eigentlich erst seit vierundzwanzig Stunden. Aber er war schon früher einmal hier, wo er das Haus mietete und alle Vorbereitungen traf.

So? –

Herr Grey erhob sich rasch. Sein Benehmen hatte sich verändert.

Ich muß ihn sehen, erklärte er. Was Sie mir da sagen, zwingt mich noch mehr als frühere Gründe, ihn zu sehen. Wie können Sie das fertig kriegen?

Ohne daß er Sie sieht? gab Sweetwater wieder.

Jawohl, gewiß, ohne daß er mich sieht. Könnten Sie nicht vielleicht an seine Türe klopfen und ihn eine Minute aufhalten, während ich ihn beobachten kann von dem Wagen aus, den wir nehmen könnten, um hinauszufahren? Ein einziger Blick auf sein Gesicht würde genügen. Und zwar noch heute nacht.

Ich will's versuchen, antwortete Sweetwater, der sich keine großen Hoffnungen auf Erfolg machte.

Er begab sich wieder in den Stall und bestellte einen Wagen. Gerade bei Sonnenuntergang fuhren sie vom Hotel ab. Sweetwater hatte die Zügel in den Händen. Ihr Ziel war die alte Straße, die dem Meerufer entlang führt.


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