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Drittes Kapitel

Meine Sinne drohten mich zu verlassen, und mein Herz hörte auf zu schlagen, als ich auf das Juwel starrte, das vor uns auf dem Boden lag, – wie auf einen schrecklichen Feind, der mich um Leben und Ehre berauben wollte.

Damit habe ich nichts zu tun, erklärte ich heftig. Ich habe die Handschuhe nicht in mein Täschchen gesteckt; auch wußte ich nicht, daß sich der Diamant darin befand. Es wurde mir in der ersten Aufregung übel und – –

Gewiß, gewiß, ich weiß es ja, unterbrach mich der Inspektor freundlich. Ich hege nicht die geringsten Zweifel an Ihrer Unschuld. Ich glaube, es wäre besser, Fräulein Van Arsdale, wenn Sie sich jetzt von Ihrem Onkel nach Hause bringen ließen. Ich werde dafür sorgen, daß sich niemand in der Halle befindet, wenn Sie weggehen. Morgen früh würde ich Sie gerne noch einmal sprechen, aber für heute nacht möchte ich Ihnen alle Unannehmlichkeiten ersparen.

Als Antwort schüttelte ich den Kopf. Ich fühlte, daß es mehr Mut erheischen würde, jetzt zu gehen, als zu bleiben. Ich schaute dem Inspektor entschlossen ins Auge und erklärte mit Ruhe:

Wenn Herrn Durands guter Ruf in irgend einer Weise bedroht ist, will ich ihn nicht verlassen. Ich bin von seiner Unschuld felsenfest überzeugt, wenn Sie auch noch so große Zweifel daran hegen. Es war nicht seine Hand, sondern die eines viel weniger Unschuldigen, die diesen Edelstein in das Täschchen steckte.

Glauben Sie, Fräulein? Seien Sie nicht allzu fest davon überzeugt! Es wäre besser, sich jetzt schon mit der Möglichkeit abzufinden. Es wird leichter für Sie und nützlicher für ihn sein. – –

Mit diesen Worten hob er den Diamant auf.

Man sagte ja immer, der Stein sei das reinste Wunder, rief er aus. Nun, wo ich diesen Stein gesehen habe, bin ich nicht erstaunt über die bekannten Geschichten von Leuten, die ihr Leben und ihre Ehre für den Besitz solcher großer Diamanten einsetzten! Wenn nur kein Blut darum vergossen wäre!

Onkel, Onkel! jammerte ich laut in meiner Beklemmung.

Mehr brachte ich nicht über die Lippen, aber für meinen Onkel war es genügend. Er ergriff nun zum ersten Male das Wort und bat, man möchte uns den Weg freigeben. Als der Inspektor davoneilte, um seiner Bitte zu willfahren, schlang mein Onkel seine Arme um mich und bemühte sich, passende Worte zu finden, um den notwendigen Aufschub nach Kräften zu verkürzen. Da vernahmen wir einen kurzen Wortwechsel im Gang, und herein kam, unmittelbar vom Inspektor gefolgt, Herr Durand.

Sein erster Blick galt nicht meiner Person, sondern dem Täschchen, das ich wieder am Arm hängen hatte. Als ich diese Bewegung bemerkte, war es mir, als stürze mein Inneres zusammen und begrabe mein Glück unter seinen Trümmern. Aber mein Benehmen blieb unverändert; denn als sein Auge endlich meinen Blick traf, fand er etwas darin, das veranlaßte ihn, zurückzutreten und mit einer Art Grimm seinem Begleiter ins Gesicht zu blicken.

Sie haben mit ihr gesprochen, warf er ihm mit Ungestüm vor. Vielleicht sind Sie gar noch weiter gegangen. Was hat sich hier ereignet? Ich denke, ich habe ein Anrecht darauf, es zu wissen. Sie ist so arglos, Herr Inspektor. Warum haben Sie sie hier eingeschlossen, mit Fragen gepeinigt und sie so weit gebracht, daß sie mir einen derartigen Blick zuwirft, trotzdem Ihr Verdacht gegen mich nicht begründeter ist, als der gegen ein halb Dutzend andere! Daß ich schwach oder unglücklich genug war, ein paar Minuten bei dem unglücklichen Weib im Alkoven zuzubringen, bevor sie starb, genügt Ihnen das, um ein unschuldiges Mädchen zu foltern?

Die Antwort darauf gibt Ihnen vielleicht am besten Fräulein Van Arsdale selber, lautete die ruhige Antwort des Inspektors. Was Sie gesagt haben, mag alles sein, was wir gegen Sie, aber es ist nicht alles, was wir gegen Fräulein Van Arsdale haben. –

Ich rang nach Atem, nicht so sehr über diese scheinbare Anklage, zu der ich das Motiv wohl zu verstehen vermeinte, als über das tiefe Erröten von Herrn Durands Antlitz.

Was meinen Sie damit? fragte er, wobei seine Stimme eigentümlich zu zittern schien. Was können Sie ihr vorzuwerfen haben?

Eine Lappalie, gab der Inspektor zur Antwort, indem er mir einen Blick zuwarf, den ich nicht mißverstehen konnte.

Das heiße ich nicht eine Lappalie, fuhr ich nunmehr auf. Es scheint, daß Frau Fairbrother trotz ihrer sorgfältigen Toilette, keine Handschuhe trug, als man sie auffand. Da es außer Zweifel steht, daß sie welche anhatte, als sie den Alkoven betrat, hat die Polizei natürlich darnach gesucht. Und wo glaubst du, daß man die Handschuhe gefunden hat? Nicht im Alkoven neben ihr – sondern –

Ich weiß es, ich weiß es! unterbrach mich Herr Durand mit heiserer Stimme. Du brauchst es nicht auszusprechen. Oh, meine arme Rita! Was habe ich dir durch meine Schwäche für Sorgen bereitet!

Schwäche? –

Er erschrak; ich zuckte zusammen; meine Stimme war ganz unkenntlich, als ich den Ausdruck wiederholte.

Ich würde es anders heißen, fügte ich kalt hinzu.

Einen Augenblick schien ihn seine Zuversicht vollends zu verlassen, dann aber erhob er sein Haupt wieder und sah so hübsch und schuldlos aus, wie vor wenigen Stunden, als er im Wintergarten bei mir um meine Hand anhielt.

Du hast das Recht dazu, sagte er, außerdem ist Schwäche zu einer solchen Zeit und unter solchen Umständen kein großes Verbrechen. Es war unmännlich von mir, als Versteck von mir einen Gegenstand auszuwählen, der dein ausschließliches Eigentum ist. Ich gebe das zu, Rita, und es wird mir gerade recht geschehen, wenn du mir für die Zukunft deine Sympathie wie deine Achtung entziehst. Aber laß mich dir versichern, und für diese Herren gilt es in gleichem Maße – der eine von ihnen kann mir mein Vergehen in sehr empfindlicher Weise vergelten –, daß meine Verehrung für dich, viel eher als kleinliche, erbärmliche Befürchtungen für meine eigene Person, der Handlung zugrunde lag, die Ihnen allen als ein Akt unverzeihlicher Feigheit vorgekommen sein muß. In dem Augenblick, wo ich von der Ermordung der Dame im Alkoven erfuhr, die ich dort besucht hatte, sah ich ein, daß alle, von denen man wußte, daß sie sie während der letzten halben Stunde vor ihrem Tode auch besucht hatten, einem mehr oder weniger strengen Verhör unterworfen würden. Ich fürchtete für den Fall, daß ihre Handschuhe in meinem Besitze gefunden würden, die besondere Aufmerksamkeit der Polizei auf mich zu ziehen, die dir unverdienten Kummer bereiten möchte. So folgte ich meiner augenblicklichen Eingebung, die ich jetzt für ebenso unklug als unwürdig halte, und benützte die Gelegenheit, als ich in deiner Nähe war, und die Bewußtlosigkeit, in der du dich befandest, und steckte diese unglücklichen Handschuhe in dein Täschchen, das ich neben dir auf dem Boden erblickte. Ich verlange nicht jetzt schon deine Vergebung! Mein ganzes zukünftiges Leben soll der Aufgabe gewidmet sein, sie zu erlangen. Ich wollte lediglich die nüchternen Tatsachen konstatieren.

Sehr gut! – Diese Bemerkung rührte vom Inspektor her. Ich würde kein Wort über die Lippen gebracht haben, selbst wenn mein Leben davon abgehangen hätte. – Vielleicht, fuhr der Inspektor fort, werden Sie jetzt einsehen, daß Sie der jungen Dame noch Rechenschaft darüber schuldig sind, wie diese Handschuhe in Ihren Besitz kamen.

Frau Fairbrother hat sie mir selber übergeben, erklärte er.

Ihnen übergeben?

Jawohl, ich weiß selber kaum ihren Grund dafür. Sie bat mich, sie für sie aufzubewahren. Ich weiß, daß Ihnen diese Aussage sehr eigenartig vorkommen muß. Die Erkenntnis des ungünstigen Eindrucks, den diese Aussage notwendig auf jedermann machen mußte, war es, die mich einer Frage über den Gegenstand mit Unbehagen entgegensehen ließ. Aber ich versichere Sie, daß es sich in Wahrheit so verhält, wie ich sagte. Sie legte mir die Handschuhe, während ich mich mit ihr unterhielt, in die Hand. Sie bemerkte dazu, sie seien ihr lästig.

Und Sie? fragte der Inspektor.

Ich, ich hielt sie ein paar Minuten in der Hand, dann steckte ich sie ganz unbewußt in meine Tasche, ohne mir etwas dabei zu denken. Sie war daran gewöhnt, daß ihren Anordnungen Folge geleistet wurde. Das galt übrigens auch jedermann als selbstverständlich, wie ich glaube. –

Nunmehr ließ die Spannung in meiner Kehle nach, und ich öffnete die Lippen, um zu reden. Aber der Inspektor kam mir mit einem bedeutungsvollen, befehlshaberischen Blick zuvor. Er fragte:

Waren die Handschuhe lose oder zusammengerollt, als sie Ihnen übergeben wurden?

Zusammengerollt, lautete die Antwort.

Sahen Sie, wie sie sie auszog?

Gewiß.

Und zusammenrollte?

Selbstverständlich.

Und darauf reichte sie Ihnen die Handschuhe?

Nicht sofort. Sie ließ sie noch eine kleine Weile im Schoß liegen.

Während Sie sich unterhielten? –

Herr Durand nickte mit dem Kopfe. –

Betrachteten Sie dabei den Diamanten?

Abermals nickte Herr Durand. –

Haben Sie je einmal zuvor einen so schönen Diamanten gesehen?

Nein.

Und doch handeln Sie mit Edelsteinen, nicht wahr?

Gewiß, das ist mein Beruf.

Und gelten als Sachverständiger auf diesem Gebiete?

Ich genieße diesen Ruf.

Würden Sie den Diamanten wieder erkennen, wenn Sie ihn sehen würden, Herr Durand?

Gewiß würde ich das.

Der Schliff war ungewöhnlich?

Ganz ungewöhnlich. –

Da öffnete der Inspektor seine Hand. –

Ist es der da? fragte er.

Großer Gott! rief Herr Durand aus. Wo –

Wissen Sie es nicht?

Nein. –

Der Inspektor schaute ihn sehr scharf an und bemerkte mit Nachdruck:

Dann habe ich Ihnen eine Eröffnung zu machen. Der Diamant war in die Handschuhe eingerollt, die Sie von Frau Fairbrother erhielten. Fräulein Van Arsdale war zugegen, als der Stein darin entdeckt wurde. –

Leben, atmen, bewegen wir uns in gewissen Momenten? Es scheint schwerlich der Fall zu sein. Ich weiß, daß ich nur noch eines Sinnes mächtig war, des Gesichts, und daß ich nur noch eine seelische Fähigkeit besaß, die Urteilskraft. Würde er erbeben, zusammenbrechen, eine Schuld eingestehen oder lediglich erstaunt sein? Ich neige zur Ansicht, daß sein langsames Erbleichen und die Verwirrung seiner Gesichtszüge nur aus dem Erstaunen entsprangen. Sicherlich drückten seine Worte nur dieses Gefühl aus, als seine Blicke vom Edelsteine zu den Handschuhen und wiederum zum Gesicht des Inspektors wanderten.

Ich kann es nicht glauben. Ich kann es nicht glauben. – Und seine Hand fuhr mit wilder Gebärde zur Stirn.

Und doch ist es die Wahrheit, Herr Durand, die Wahrheit, der Sie jetzt ins Antlitz schauen müssen. Wie wollen Sie das tun? Wollen Sie weitere Erklärungen hinzufügen oder sich in ein diskretes Schweigen hüllen?

Ich habe nichts weiter zu erklären, bemerkte Herr Durand. Die Tatsachen verhalten sich, wie ich sie geschildert habe. –

Der Inspektor blickte ihn mit einem Ernst an, der mich allen Mutes beraubte.

Sie können, sagte er, die genaue Zeit Ihres Besuches angeben, wie ich hoffe; sagen Sie uns bitte nur, wieviel Uhr es war, als Sie den Alkoven verließen. Sie haben doch sicher jemand getroffen oder gesehen, der Ihnen als Zeuge dienen kann.

Ich fürchte nein. –

Warum sah Herr Durand so verwirrt und unsicher aus? –

Es waren gerade um jene Zeit sehr wenig Leute in der Halle, beeilte er sich dann hinzuzufügen. Auf dem gelben Diwan saß niemand.

Aber Sie wissen doch, wo Sie sich hinbegaben? Wen Sie getroffen haben und was Sie taten, bevor sich der Aufruhr erhob?

Herr Inspektor, ich bin vollständig verwirrt. Ich bin irgendwo hingegangen, ich blieb nicht in jenem Teil der Halle stehen. Aber ich kann Ihnen nichts mit Bestimmtheit sagen, außer, daß ich herumschlenderte und mich meist unter Fremden befand, bis der Schrei ertönte, der uns alle nach einer Richtung zog, und mich im besonderen an die Seite meiner Braut, die, wie ich hörte, in Ohnmacht gefallen war.

Können Sie mir irgend einen Fremden bezeichnen, mit dem Sie sich unterhielten, oder irgend jemand, der Sie während dieses Zeitraumes gesehen haben kann? Ich wünsche diesem kleinen Fräulein zuliebe Ihnen jede nur mögliche Chance an die Hand zu geben.

Herr Inspektor, ich bin gezwungen, mich Ihnen auf Gnade oder Ungnade auszuliefern. Ich weiß keinen Zeugen für meine Unschuld, wie Sie einen wünschen. Unschuldige haben selten Zeugen. Nur die Schuldigen sehen solche Möglichkeiten voraus.

Das war alles recht und gut, wäre es nur in klarem Tone und mit aufrechter Haltung gesagt worden. Aber dem war nicht so. Ich, die ihn doch liebte, fühlte, daß es nicht der Fall sei, und war aus diesem Grunde mehr oder weniger auf eine Veränderung in dem Benehmen des Inspektors vorbereitet. Und doch war es mir wie ein Stich ins Herz, diese Veränderung zu beobachten. Instinktiv bedeckte ich mein Gesicht mit beiden Händen, als ich bemerkte, daß er sich Herrn Durand näherte, um dieser Unterredung ein Ende zu machen oder ihm eine Warnung zu erteilen.

In diesem Augenblicke – wer vermöchte für derartige Phänomene eine Erklärung zu geben? – stand vor meinem geistigen Auge wieder das Bild, das ich im Speisesaale gesehen oder mir wenigstens zu sehen eingebildet hatte. Und wie es damals vor mir einen von der Umgebung gänzlich verschiedenen, mir fremden Ausblick eröffnet hatte, so geschah es auch jetzt. Wieder hatte ich in verschwommenen Umrissen, die doch mit dem Eindruck völliger Deutlichkeit verknüpft waren, eine viereckige Lichtfläche vor mir, durch die ein offener Gang sichtbar wurde; zum Teil war er durch einen Vorhang verschlossen; eine große männliche Gestalt hielt diesen Vorhang zurück und starrte auf seine Brust – es hatte wenigstens den Anschein, als ob er es tat – auf die er schon einen bebenden Finger gelegt hatte.

Was bedeutete das? In der ersten Aufregung, die das schreckliche Ereignis verursacht hatte, war eine unerklärliche Erscheinung aus meinen Gedanken entschwunden; aber ich hatte jetzt abermals das unbestimmte Gefühl von Abscheu und Erwartung, das mit dem Anblick verbunden zu sein schien, und mit einem Male überkam mich die Gewißheit, daß das Bild, das sich im Speisesaal vor meinen Blicken aufgetan, das Ergebnis eines Reflexes in einem Glase oder Spiegel sei, des Reflexes einer Szene, die an einem Orte vor sich ging, der nicht anders in den Bereich meines Gesichtsfeldes zu gelangen vermochte. Die Wichtigkeit dieser Beobachtung wurde mir plötzlich klar, als mir einfiel, wie kritisch der Moment war, in dem ich sie gemacht hatte. Ein Mann, der entsetzt auf seine Brust starrte, fünf Minuten vor dem fürchterlichen Ereignis, das diesem Abend seinen Charakter ausgeprägt hatte!

Eine Hoffnung, die noch größer war, als die Verzweiflung, in die ich eben gesunken war, gab mir den Mut ein, mich wieder an den Inspektor zu wenden.

Reden Sie nicht, Herr Inspektor, sagte ich, ich bitte Sie darum; fällen Sie über niemand von uns ein Urteil, bevor Sie mich angehört haben. Ich muß Ihnen eine Mitteilung machen.

Höchstlich erstaunt, einigermaßen strenge blickte er mich an, und fragte, was ich nunmehr zu sagen habe; ich hätte doch auch zuvor schon Gelegenheit dazu gehabt. Ich erwiderte mit der ganzen Leidenschaft der Verzweiflung, daß ich erst im gegenwärtigen Augenblicke mich wieder an eine Tatsache erinnerte, die vielleicht in einer sehr nahen Beziehung zu dem Verbrechen stehe.

Er sah ernst aus, als befürchte er seine wertvolle Zeit zu verlieren, aber, gerührt durch meine unwillkürliche, flehende Geste, mit der ich meine Forderung unterstützte, führte er mich in eine Ecke des Zimmers und forderte mich auf, ihm meine Mitteilung ins Ohr zu flüstern. Rasch warf ich Herrn Durand noch einen ermutigenden Blick zu, der infolge meines Benehmens sprachlos vor Erstaunen dastand, und erzählte dann dem Inspektor leise von jener blitzartigen Erscheinung, die ich – wie ich jetzt überzeugt war – in einem Fenster oder Spiegel gesehen hatte.

Dies geschah zu einer Zeit, schloß ich, die mit der Ausführung des Verbrechens, das Sie aufhellen wollen, zusammenfiel oder wenigstens nahezu zusammenfallen mußte. Fünf Minuten später ertönte der Schrei, der uns alle von dem Vorgang im Alkoven Kenntnis gab. Ich weiß nicht, welcher Gang oder welche Türe oder wessen Gestalt es war, die ich erblickte; aber ich bin überzeugt, daß es die Gestalt des Täters war. Etwas in den Umrissen – ich konnte ja allein die Umrisse erblicken – drückte eine in jenem Augenblick unverständliche Aufregung aus; in meiner Erinnerung kommt mir diese Stellung vor wie Furcht und Schrecken. Es war nicht der Eingang zum Alkoven, den ich gesehen habe – den hätte ich ja sofort wiedererkannt – sondern irgend eine andere Türe, die ich wahrscheinlich wiedererkennen würde. Können wir die Türe nicht ausfindig machen? Kann sie uns nicht einen Anhaltspunkt über die Person des Mannes geben, den ich sah, wie er von Entsetzen und Gewissensbissen gepeinigt aus der Türe herausspähte?

Sahen Sie seinen Rücken oder sein Gesicht? fragte der Inspektor mit unerwartetem Interesse ebenso leise.

Seinen Rücken. Er entfernte sich von mir.

Und Sie saßen wo?

Soll ich es Ihnen zeigen? –

Der Inspektor verbeugte sich. Dann mahnte er mich leise zur Vorsicht, wandte sich an meinen Onkel und erklärte:

Ich werde die junge Dame für einen Augenblick, auf ihren eigenen Wunsch hin, in die Halle begleiten. Darf ich Sie und Herrn Durand ersuchen, hier auf uns zu warten?

Mit diesen Worten ging er zur Türe und öffnete sie, ohne die Antwort abzuwarten. Wir begaben uns in den verlassenen Speisesaal und suchten den Platz auf, wo ich gesessen hatte. Es war ein Wunder, daß ich ihn wieder fand, da alles schon in der größten Unordnung war. Glücklicherweise hatte ich beim Verlassen des Tischchens meinen Blumenstrauß liegen lassen; der wurde mir jetzt zum Führer. Ich stellte mich vor den Stuhl, auf dem er lag, und erklärte dem Inspektor in sicherem Tone:

Hier saß ich.

Natürlich wandten sich unsere Blicke sofort der gegenüberliegenden Wand zu; dort erblickten wir in der Tat ein Fenster. Jetzt erst bemerkte ich, daß es sich von allen andern Fenstern, die ich im Hause gesehen, dadurch unterschied, daß es in seinen Angeln drehbar war, während die andern alle die bei uns übliche Form der Schiebfenster hatten. In diesem Augenblick war es geschlossen. Aber wenn es geöffnet wurde, konnte es mit Leichtigkeit bei einer gewissen Winkelstellung das Licht eines der zahlreichen Spiegel reflektieren, die den Empfangssalon jenseits der Halle schmückten. Da alle Türen dieses Stockwerks ungewöhnlich breit waren, hatten diese Reflexe einen bequemen Zugang, und es war sehr gut möglich, daß auf diese Weise Dinge hier gesehen werden könnten, die nach der Ansicht der Beteiligten vor jedermanns Beobachtung sicher waren.

Als wir uns über diese Verhältnisse klar wurden, tauschten wir einen verständnisvollen, vielsagenden Blick aus. Der Inspektor deutete auf das Fenster, wandte sich an ein paar Kellner, die auf der andern Seite des Saals standen und uns beobachteten, und fragte sie, ob das Fenster heute abend einmal geöffnet worden sei.

Sofort antwortete einer der Kellner:

Gewiß! Gerade vor dem – dem –

Ich verstehe, fiel der Inspektor ein. Dann beugte er sich vor und flüsterte mir ins Ohr: Erzählen Sie mir noch einmal genau, was Sie beobachtet zu haben glauben. –

Ich konnte wenig Neues zu meinem früheren Berichte hinzufügen.

Vielleicht können Sie mir eines sagen, beharrte er in freundlichem Tone; war das Bild, als Sie es sahen, auf derselben Höhe mit Ihrem Auge, oder mußten Sie sich erheben, um es zu sehen?

Ich sah es von meinem Stuhle aus, antwortete ich, aber es war in der Höhe, scheinbar in der Luft. Das kam mir so sonderbar vor!

Ueber das Gesicht des Inspektors legte sich ein Ausdruck der Befriedigung.

Möglicherweise könnte ich die Türe und den Gang wiedererkennen, wenn ich sie sehen würde, meinte ich.

Gewiß, gewiß, antwortete er liebenswürdig.

Er winkte einen seiner Untergebenen her und wollte ihm eben einen Auftrag erteilen, dann aber schien er seine Absicht aufzugeben und fragte mich, ob ich zeichnen könne.

Ich gab ihm die Versicherung, daß ich zwar weit davon entfernt bin, diese Kunst zu beherrschen, daß ich indes möglicherweise eine rohe Skizze von der Türe entwerfen könnte. Hierauf zog er ein Blatt Papier und einen Bleistift aus der Tasche und bat mich, einen Versuch zu machen, aus dem Gedächtnis den Gang und die Türe aufzuzeichnen.

Mein Herz schlug heftig, und der Bleistift zitterte in meiner Hand, aber ich wußte, daß es für mich keinen Vorteil bedeuten würde, jetzt zu zögern, trotzdem es mir nicht gerade angenehm war, zu jedermanns Betrachtung das aufzuzeichnen, was mir trotz seiner Unerklärbarkeit immer noch deutlich und vollständig vor Augen stand. Daher gab ich mir alle Mühe, seine Bitte zu erfüllen, was mir auch einigermaßen gelang. Bei einem der Striche wenigstens entfuhr ihm ein leiser Ausruf, und er beehrte mich, als er mir seinen Dank in wohlgesetzten Worten aussprach, mit einem sehr scharfen Blicke.

.

Sind Sie zum ersten Male in diesem Hause? fragte er jetzt.

Nein, ich habe es schon öfter besucht, erwiderte ich.

Abends, oder nachmittags zur Besuchsstunde?

Nachmittags.

Wie ich hörte, soll das Hauptportal heute abend nicht benutzt worden sein?

Nein, für Gelegenheiten, wie heute, ist eine seitliche Zufahrt vorgesehen. Die Gäste, die diese benutzen, finden eine besondere Vorhalle und Treppe, durch die sie die Garderobenzimmer im oberen Stockwerk erreichen können, ohne die Haupthalle kreuzen zu müssen. Ist es das, was Sie interessiert?

Gewiß, das ist es, erklärte er.

Ich starrte ihn erstaunt an. Was verbarg sich hinter derartigen Fragen?

Sie kamen auch wie die andern, durch dieses Seitenportal? fuhr er fort. Gut. Haben Sie, als Sie die Treppe betraten, einen Bogen bemerkt, der linker Hand auf einen kleinen Durchgang mündet?

Nein, erwiderte ich und mußte erröten, da ich nunmehr seine Absicht zu verstehen glaubte. Ich war zu eifrig damit beschäftigt, die Garderobe zu erreichen, als daß ich lange hätte Umschau halten mögen.

Gut, dann werde ich Ihnen diesen Bogen zeigen, bemerkte er. –

In meiner Zeichnung war nämlich im Hintergrunde der Gestalt, die wir zu erkennen suchten, ein Bogen angedeutet.

Wollen Sie vielleicht hier Platz nehmen, während ich einen ähnlichen Versuch anstelle? – Er deutete auf einen Stuhl in der Nähe.

Mit Vergnügen willfahrte ich seinem Vorschläge. Es lag etwas in seinem Benehmen, wie in seiner Miene, das mich beinahe frohlocken ließ. Hatte die phantasievolle Erklärung meiner Beobachtung ihn mit meiner Zuversicht angesteckt? Wenn dem so war, durfte ich wieder hoffen; hoffen für den Mann, den ich liebte, der wohl zwischen Vorhängen ein und aus gegangen war, aber nicht durch einen Bogen, wie ich ihn gezeichnet oder der Inspektor ihn beschrieben hatte. Die Vorsehung arbeitete für mich. Ich sah das schon an der Art, wie die Leute jetzt damit beschäftigt waren, das Fenster unter Anweisung des Inspektors hin und her zu bewegen, Lichter an verschiedenen Stellen anzustecken, Türen zu öffnen und Vorhänge und Portieren zurückzuziehen. Und als ich einige Minuten später ersucht wurde, wieder meinen alten Platz am Tischchen einzunehmen, erkannte ich, daß meine Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen waren. Ich erhielt zum dritten Male den Eindruck des Platzes, der sich nun unauslöschlich in mein Gedächtnis einprägte.

Ist es nicht das gleiche Bild? fragte der Inspektor und deutete auf das Fenster, indem er einen letzten Blick auf die ungeschickte Skizze warf, die ich gezeichnet hatte, und die er immer noch in der Hand hielt.

Doch, gewiß, erwiderte ich mit Nachdruck; es stimmt alles bis auf die Gestalt. Der Mann, dessen Gestalt ich jetzt dort sehe, ist ein ganz anderer: in seinen Blicken kann ich weder Gewissensbisse noch Furcht lesen.

Natürlich nicht. Denn Sie sehen das Spiegelbild eines meiner Untergebenen. Fräulein Van Arsdale, erkennen Sie jetzt den Platz, den Sie vor sich sehen?

Nein, Sie sprachen von einem Bogen in der Halle, links von der Zufahrt, und ich sehe auch einen Bogen in dem Fensterspiegel vor mir, aber – –

Sie sehen gerade durch den Alkoven hindurch – vielleicht wußten Sie nicht, daß darin noch eine zweite Tür ist, die auf den dahinter herumführenden Gang geht. Weiterhin gelangt man zum Bogen und jenseits dieses Bogens zur Halle und Treppe, die zu den Ankleideräumen führt. Diese Türe, – die einzige im Hintergrunde des Alkovens, verstehen Sie – ist für diejenigen, die von der Haupthalle aus eintreten, durch Draperien verborgen, welche für diese Gelegenheit darüber gehängt wurden; aber vom hinteren Gang aus ist sie völlig sichtbar, und es unterliegt keinem Zweifel, daß der Mann, dessen Bild im Fenster reflektiert wurde, auf diesem Wege eintrat und sich wieder entfernte. Es ist von Wichtigkeit, daß wir diesen Umstand feststellen konnten. Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet für die Hilfe, die Sie uns in dieser Angelegenheit zuteil werden ließen.

Dann fügte er rasch zur Erläuterung hinzu, als ich fortfuhr, ihn erleichtert und erstaunt zugleich anzustarren:

Die Leuchter im Alkoven und in den verschiedenen andern Räumen sind, wie Sie bemerken werden, alle durch Milchgläser gedämpft. Nur das Licht im Gange jenseits des Bogens brennt sehr hell. Dies erklärt die Deutlichkeit dieser doppelten Spiegelung. Noch etwas, und zwar betrifft es einen sehr interessanten Umstand: es wäre unmöglich gewesen, diesen Reflex von Ihrem Platze aus zu bemerken, läge nicht der Fußboden des Alkovens beträchtlich höher, als der der übrigen Räume. Hätte der Architekt dies nicht so bestimmt, so würde das fortwährende Auf- und Abgehen der Gäste die Reflexstrahlen auf ihrem Wege vom Alkoven zum Spiegel im Empfangssalon und von da quer über die Halle zu diesem Fenster aufgehalten haben. Sehen Sie, gnädiges Fräulein, es hat den Anschein, als ob durch einen glücklichen Zufall, wie er uns nur ein- oder zweimal im Leben widerfährt, in jenem Momente jede Bedingung zutraf, die diesen Reflex möglich machen konnte – selbst die Lage und Breite verschiedener Türen und die nötige Oeffnungsweite der Portieren am Eingange zum Alkoven!

Das ist ja wundervoll, rief ich aus, wundervoll!

Dann fragte ich, vielleicht zu seiner Ueberraschung, ob nicht eine kleine Verbindungstüre zwischen dem Gang hinter dem Alkoven und der großen mittleren Halle vorhanden sei.

Doch, antwortete er. Sie befindet sich gerade neben dem Kamin. Drei niedrige Stufen führen zu ihr empor.

Ich dachte mir's, murmelte ich, mehr bei mir selber, als zu ihm gewandt. Im Geiste überlegte ich, wie leicht ein Mensch, wenn er die Absicht dazu hatte, aus dem Mittelpunkt der Gesellschaft in den verschwiegenen Durchgang schlüpfen und auf diese Weise in den Alkoven gelangen konnte, ohne die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zu ziehen. Ich dachte nicht daran, daß es einen noch weniger auffälligen Zugang zu dem kleinen Raum gab: neben der Treppe, die hinter dem Bogen geradenwegs zu den Garderobezimmern hinaufführte.

Bemerkung: Zur Vermeidung von Mißverständnissen, die über diese eigentümlichen Zugänge entstehen könnten, füge ich einen Plan dieses Teils des unteren Stockwerks bei, wie er später in den leitenden Blättern erschien.

Skizze

Und Herr Durand? stammelte ich, als ich dem Inspektor wieder in das Zimmer folgte, wo wir die Herren zurückgelassen hatten. Werden Sie seiner Aussage jetzt Glauben schenken und Ihr Augenmerk auf den Eindringling mit dem schuldbewußt geneigten Haupt und dem erschreckten Mienenspiel richten?

Jawohl, erwiderte er, indem er mich bei der Tür anhielt und meine Hand freundlich in die seinige nahm, wenn – bitte erschrecken Sie nicht, liebes Fräulein; das Leben ist voller Schmerzen für die Jungen wie für die Alten, und die Jugend ist die beste Zeit, um traurige Erfahrungen zu machen – wenn er nicht selbst der Mann ist, den Sie dort in Schreck und Entsetzen auf seine Brust starren sahen. Haben Sie nicht beobachtet, daß er nicht in jeder Beziehung wie die andern anwesenden Herren gekleidet ist? Daß er, trotzdem er seinen Ueberrock noch nicht geholt hat, schon sein großes, weißes Seidentuch über dem Kragen trägt, das er vermutlich unter dem Mantel zu tragen pflegt? Haben Sie dies beobachtet und sich gefragt, aus welchem Grunde es geschieht? –

Ich hatte es bemerkt. Es war mir in dem ersten Moment aufgefallen, wo ich mich von meinem Schwächeanfall erholt hatte, aber ich hatte nicht gedacht, daß dieser Umstand eine Frage wert ist; ich hatte mich nicht einmal selbst gefragt, welcher Grund ihn veranlasse, seinen Hemdausschnitt zu bedecken. Nunmehr war mir eine Frage nicht möglich. Meine Gedanken waren zu verwirrt, mein Inneres zu sehr von der Vermutung, die der Inspektor durchblicken ließ, empört; ich fühlte nur noch die verzehrende Frage in mir, was ich tun sollte, wenn ich durch meinen eigenen irregeleiteten Eifer dazu beigetragen hatte, den Mann, den ich liebte, noch tiefer in das Netz zu verwickeln, das sich über seinem Haupte zusammenzuziehen drohte.

Der Inspektor ließ mir keine Zeit zur Lösung dieser Frage übrig.

Er drängte mich wieder in das Zimmer, wo Herr Durand und mein Onkel auf unsere Rückkehr harrten, augenscheinlich ohne das Schweigen unterbrochen zu haben. Dann schloß er die Türe vor den neugierigen Augen der verschiedenen Personen, die immer noch in der Halle herumstanden, und sagte unvermittelt zu Herrn Durand:

Die Erklärungen, die Sie uns von der Art und Weise gaben, wie dieser Diamant in Ihren Besitz gelangte, sind nicht zu phantastisch, um nicht Glauben zu finden, wenn Sie uns über einen andern Punkt befriedigende Auskunft zu geben vermögen, der einem meiner Leute zu Zweifeln Anlaß gegeben hat. Wollen Sie so liebenswürdig sein, dieses seidene Tuch für einen Augenblick zu lüften? Mein Grund zu dieser eigenartigen Forderung wird augenblicklich klar werden. –

Herr Durand stand mit einem Gesichte da, das so weiß war, wie der Schnee hinter dem Fenster, an dem er lehnte. Er hob die Hand, als wolle er der Aufforderung des Inspektors nachkommen, dann ließ er sie jedoch wieder mit heiserem Lachen sinken.

Ich sehe, rief er aus, daß es mir nicht gelingen soll, auch nur ein einziges Ergebnis meiner Unvorsichtigkeit zu verheimlichen! –

Dann entblößte er mit einer raschen Handbewegung seine Hemdbrust.

Ein roter Spritzer wurde auf dem tadellosen Weiß sichtbar! Daß dieser rote Fleck nichts anderes war als Blut, bewies der schaudernde Blick, den er unwillkürlich darauf warf.


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