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Zehntes Kapitel

Ehe ich mich den Vorfällen zuwende, die sich nach Verlauf von vierzehn Tagen ereigneten, muß ich kurz auf das eingehen, was während dieser zwei Wochen passierte.

Es war nichts zu verzeichnen, wodurch die Lage Herrn Durands sich gebessert hätte oder Herr Grey offen bloßgestellt worden wäre. Wir hofften, daß durch die Erklärungen Herrn Fairbrothers Tatsachen ans Licht kämen, durch die der Verdacht von dem Mann abgelenkt würde, gegen den er sich jetzt allein richtete. Aber Herr Fairbrother lag immer noch in Neumexiko auf dem Krankenlager. Alles, was von ihm in Erfahrung gebracht werden konnte, war in einem kurzen Brief enthalten, den er vom Bett aus diktiert hatte. Er bestätigte darin, daß der Diamant, den er seiner Frau gegeben, einzig in seiner Art gewesen, und von ihm in Frankreich erworben worden sei; daß er keine Kenntnis von einem ähnlich gefaßten Stück besitze, und daß der falsche Stein, wenn er nach seiner eigenen Beschreibung geschliffen und gefaßt sei, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Veranlassung seiner Frau in irgend einer Werkstatt in New York hergestellt und von ihr selbst an die Stelle des echten untergeschoben worden sei; sie sei nämlich nicht gewohnt, für etwas, das sie in der Stadt selbst erhalten könne, nach auswärts zu schicken. Dann folgte die Beschreibung. Sie stimmte genau mit den Eigenschaften des Steines, den wir alle kannten, überein.

Dies bereitete mir viele Sorgen. Die öffentliche Meinung würde natürlich die des Herrn Fairbrother widerspiegeln, und es wären schon sehr schlagende Beweisgründe notwendig, um eine so logische und einfache Annahme durch eine gezwungene und scheinbar phantastische zu ersetzen, wie es die war, auf die sich meine Theorie gründete. Doch übersteigt die Wirklichkeit oft alle Erzeugnisse der Phantasie; und da ich volles Vertrauen zu Herrn Gryce hegte, unterdrückte ich meine Ungeduld eine Woche, ja beinahe zwei Wochen lang, bis meine wachsende Erregung über den Aufschub und meine rasch gesteigerten Befürchtungen, man möchte irgend etwas Schlimmes gegen Herrn Durand im Schilde führen, plötzlich durch eine Mitteilung des Herrn Gryce unterbrochen wurde, der in eigener Person beinahe auf dem Fuß nachfolgte.

Es befindet sich im Hause meines Onkels auf dem Stockwerk, wo der Empfangssalon liegt, ein schmuckes, abgelegenes Zimmerchen. Dort empfing ich den Detektiv. Selten habe ich mich mehr vor einer Begegnung gefürchtet; selten begegnete ich größerer Freundlichkeit und Wertschätzung. Er war so liebenswürdig, daß ich schon befürchtete, er habe mir nur Enttäuschungen zu eröffnen, aber bereits seine ersten Worte gaben mir meine Sicherheit wieder.

Er sah an diesem Tage um zehn Jahre jünger aus, als bei unserer ersten Zusammenkunft, und schien sich von seinem Gichtanfall wieder völlig erholt zu haben. Seinen Stock schien er kaum zu benutzen, als er mit einer tiefen Verbeugung in das Zimmer eintrat.

Ich habe, begann er sofort, einige Tatsachen herausgebracht, aus denen hervorgeht, daß eine Untersuchung in der von uns besprochenen Richtung nicht ganz überflüssig ist. Ich habe mit dem Inspektor Dalzell darüber gesprochen. Er ist indes von unserm Plan keineswegs entzückt. Er erklärte sogar, er würde eher auf seine Stellung verzichten, als den Fall gegen jenen Herrn verfolgen. Ein Erfolg, meint er, würde auf beiden Seiten des Ozeans so ungeheures Aufsehen erregen, wie es ihm während seiner ganzen Laufbahn nie vorgekommen sei. Ein Mißgriff dagegen würde das Ansehen der ganzen Polizei vernichten und – nicht mit Unrecht – die Empörung der ganzen englischen Nation hervorrufen. –

Diese Eröffnung benahm mir wieder die Hoffnung, die das jugendliche Auftreten des alten Herrn in mir geweckt hatte.

Er lächelte wieder in freundlichster Weise, als er die Enttäuschung auf meiner Miene bemerkte und sagte:

Der Inspektor hat in seiner offiziellen Stellung ganz recht mit seiner Vorsicht. Auch ich bin der Ansicht, daß wir unserer Sache ganz sicher sein müssen, ehe wir die geringste Bewegung machen.

Dann sollen wir also unsern Plan aufgeben? fragte ich.

Nur Geduld, mein liebes Fräulein, antwortete er.

Herr Dalzell kann in seiner Stellung allerdings nicht diese Verantwortung auf sich nehmen. Er arbeitet nun auch in anderer Richtung. Ich aber, besonders durch den günstigen Eindruck bewogen, den Herr Durand gestern in einer Besprechung auf mich gemacht, bin bereit, mir auf die besprochene Weise Klarheit zu verschaffen. Und dann weiß ich keinen andern Weg, als den einen, der Ihnen schon bekannt ist. –

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Also sollte die Untersuchung doch in der nach meinem Gefühle richtigen Weise geführt werden. Dies verdankte ich nur Herrn Gryce. Als ich das einsah, ging mir das Herz auf, aber die Kehle schnürte sich mir zu. Da es mir unmöglich war, ein Wort herauszubringen, streckte ich die Hände aus. Er nahm sie freundlich in die seinen und schien ganz befriedigt zu sein.

Sie kleine, zitternde, tränenreiche Heldin, sagte er lächelnd. Werden Sie den Mut haben, Ihre Aufgabe zu lösen? Wenn Sie nicht – –

Oh, ich besitze den nötigen Mut, entgegnete ich. Ihre Freundlichkeit und die Ueberraschung haben mich überwältigt. Ich werde unsern Plan ausführen, wenn Sie glauben, daß das Geheimnis meiner Person und mein Interesse für Herrn Durand vor den Leuten bewahrt werden kann, zu denen ich mich begebe.

Das wird schon möglich sein, wenn Sie meine Anordnungen auf das peinlichste befolgen. Sie sagten, Sie seien mit dem Arzte bekannt, und er sei bereit, Sie für den Fall zu empfehlen, daß Fräulein Pierson ihre Stellung verläßt?

Jawohl, er wird mir mit Freuden in dieser Sache behilflich sein. Er war ein Studienfreund meines Vaters.

Wie wollen Sie ihm Ihren Wunsch verständlich machen, daß Sie unter einem angenommenen Namen in den Dienst zu treten wünschen?

Sehr einfach, ich habe ihm bereits gesagt, daß mir die allgemeine Veröffentlichung meines Namens bei den letzten Verhandlungen sehr unangenehm war, daß mein erster Fall in der Praxis meine volle Ruhe und Selbstbeherrschung erfordere, und daß ich gerne, wenn er nichts dagegen habe, unter dem Namen meiner Mutter eintreten würde. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, und ich denke, ich kann ihn noch überzeugen, daß ich als Fräulein Ayers viel ruhiger und besser meine Arbeit verrichten werde, denn als das überall bekannte Fräulein Van Arsdale.

Sie besitzen große Ueberredungskünste. Aber könnten Sie nicht im Hotel Leute treffen, die Sie kennen?

Ich werde mir Mühe geben, mit niemanden zusammenzutreffen. Und wenn meine Identität entdeckt würde, so könnte die Wirkung dieser Entdeckung auf den bewußten Herrn Grey uns vielleicht Anhaltspunkte ergeben. Wenn er nicht das Interesse eines Schuldigen für das Verbrechen hegt, so wird ihn meine Verbindung damit als Zeugin nicht weiter beunruhigen. Außerdem brauche ich nicht länger als zwei Tage als unverdächtige Wärterin Fräulein Greys tätig zu sein. Das wird mir schon genügen. Ich werde die erste Gelegenheit ergreifen, das versichere ich Ihnen, die Probe zu machen, die wir verabredet haben. Sie müssen unbedingtes Vertrauen zu mir fassen! Ich bin mir der ganzen Tragweite meiner Unternehmung bewußt, und werde vorgehen, wie wenn meine Ehre so gut wie die Ihrige auf dem Spiele stände.

Das will ich Ihnen glauben, erklärte der Detektiv. Dann geschah es, daß ich zum ersten Male in meinem Leben froh war, klein und unansehnlich zu sein, statt groß und bezaubernd, wie so viele meiner Freundinnen, denn er erklärte mir:

Wenn Sie eine auffallende Schönheit wären, die sich nur auf ihre weiblichen Reize verläßt, um sich die Leute gefügig zu machen, würde ich Ihnen nie eine so schwierige Aufgabe anvertraut haben. Ihr Scharfsinn, Ihr Ernst und Ihre ruhige Ueberlegung haben einen so guten Eindruck auf mich gemacht. Sie sehen, ich rede offen. Ich tue das, weil ich Respekt vor Ihnen habe. Und nun zu unserm Geschäfte! –

Nun wurden die Einzelheiten besprochen. Nachdem wir uns genau darüber geeinigt hatten, fragte ich:

Haben Sie etwas dagegen, würde es unbescheiden von mir sein, Sie um Aufklärung darüber zu bitten, welcher Art die Tatsachen sind, die Sie entdeckt haben, und die den Zusammenhang des Herrn Grey mit dem Verbrechen zu bestätigen scheinen? Ich möchte nämlich mehr mit dem Verstande arbeiten.

Nein, liebes Fräulein, antwortete er. Sie würden doch nicht mit dem Verstand arbeiten; das wissen Sie selbst. Aber es ist die natürliche Neugierde jedes Menschen, der sich mit ganzem Herzen in eine Angelegenheit vertieft hat, die Sie zu dieser Frage treibt. Ich könnte Ihnen Ihre Bitte abschlagen, aber ich will das nicht tun. Denn ich möchte, daß Sie mit ruhigem Vertrauen an Ihre Aufgabe gehen, was Sie nicht tun könnten, wenn Ihre Gedanken von Zweifel und Fragen geplagt würden. So hören Sie denn! Eine Ihrer Behauptungen hat sich als richtig erwiesen. In jener Nacht wurde ein Mann zum Ramsdellschen Hause geschickt, der eine Mitteilung zu überbringen hatte. Wir wissen das, weil er sich einem der Kellner gegenüber damit brüstete und ihm sagte, er gehe eben, sich eine der feinsten Gesellschaften der Saison anzuschauen. Es ist auch richtig, daß dieser Mann der Kammerdiener des Herrn Grey war, ein alter Diener, den er von England mit sich herübergebracht hat. Aber was dem allem besondere Bedeutung gibt und mich veranlaßt, den ganzen Fall argwöhnisch zu betrachten, ist die Tatsache, daß dieser Mann am nächsten Morgen entlassen und seither von niemand mehr gesehen wurde, soweit ich in Erfahrung bringen konnte. Das sieht verdächtig aus, wie wenn eine Spur verwischt werden sollte. Dazu kommt noch etwas anderes. Seit jenem Abend ist Herr Grey nicht mehr derselbe. Er ist voller Sorge, und diese Sorge betrifft nicht allein seine Tochter, deren Zustand jetzt recht befriedigend ist, und die in kurzer Zeit wiederhergestellt sein wird. Aber all diese Umstände wären noch nicht von Belang, hätte ich nicht aus England Nachrichten erhalten, wonach man nicht recht weiß, warum sich Herr Grey in unserm Land aufhält. Es waren alle Gründe für ihn vorhanden, in seinem Vaterlande zu bleiben, wo gerade eine politische Krise bevorsteht; trotzdem aber fuhr er herüber und nahm seine kranke Tochter mit. Die Erklärung, die einer seiner Bekannten für diese Reise abgegeben hat, ist die folgende: Es könne nur seine Absicht, irgend einen wertvollen Gegenstand in Augenschein zu nehmen oder für seine Sammlung zu erwerben, ihn zu jener Zeit zu der Ueberfahrt veranlaßt haben, da sonst nichts seinem Interesse an politischen Angelegenheiten gleichkomme. Auch diesem Umstand würde ich nicht so viel Gewicht beilegen, hätte nicht zu der Sammlung eines von ihm oft besuchten Vetters ein Stilett gehört, das die größte Aehnlichkeit mit der bei dem Verbrechen verwandten Waffe besessen haben soll. Seit einiger Zeit habe man das Stilett vermißt, nach der Erklärung seines Besitzers muß es durch irgend jemand gestohlen worden sein, über dessen Persönlichkeit man nicht den geringsten Anhaltspunkt besitze. All das sieht schon schlimm genug für Herrn Grey aus. Dazu kommt aber noch, daß Herr Grey acht Tage vor dem verhängnisvollen Ball bei Herrn Ramsdell die Juweliere am Broadway aufsuchte, und unter dem Vorwand, einen Diamanten für seine Tochter kaufen zu wollen, das Gespräch auf berühmte Steine brachte, das in jedem einzelnen Falle schließlich zu Fragen über den Fairbrotherschen Diamanten führte. Somit sehen Sie, daß sein Interesse für diesen Edelstein bewiesen ist, und daß uns nur noch übrig bleibt, festzustellen, ob dieses Interesse ein verbrecherisches ist. Ich kann dies nicht für möglich halten. Aber es steht Ihnen frei, Ihr Experiment anzustellen, und sein Ergebnis zu beobachten. Nur rechnen Sie nicht allzu fest auf seinen Aberglauben! Wenn er der gewiegte Verbrecher ist, für den Sie ihn halten, dann rührte jener Schrei von ihm selber her und diente dem Zweck, den Sie bezeichnet haben. Von der Nervosität, die sich oft bei Leuten vorfindet, welche von einem Verbrechen überrascht worden sind, werden Sie bei ihm nichts vorfinden. Er wird von seiner hohen Stellung und dem Ansehen, das sein Name ihm verschafft, Gebrauch machen und, wenn er sich angegriffen fühlt, mit unerschütterlicher Ruhe standhalten.

Gewiß, bemerkte ich, ich verstehe. Er muß sich völlig unbeobachtet glauben. Dann wird erst seine wahre Natur zum Vorschein kommen. Ich danke Ihnen, Herr Gryce. Dieser Gedanke ist von unschätzbarem Werte für mich, und ich werde darnach zu handeln wissen. Ich sage nicht augenblicklich; nicht gleich am ersten Tage, und möglicherweise auch nicht am zweiten, aber sobald sich mir die Gelegenheit bietet, meinen Plan mit Aussicht auf Erfolg zu verwirklichen. Und nun bitte ich Sie um Rat, was ich meinem Onkel und meiner Tante sagen soll. Sie dürfen nämlich unter keiner Bedingung erfahren, was ich unternommen habe.

Der Detektiv widmete mir noch eine Viertelstunde. Dann war mein Schlachtenplan bis in alle Einzelheiten festgesetzt. Schließlich erhob er sich, um zu gehen. Als er schon bei der Türe war, sagte er:

Morgen also?

Und ich erwiderte klopfenden Herzens, aber mit einer Stimme, die so klar war, wie mein Unternehmen:

Jawohl, Herr Gryce; morgen!


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