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Neunundzwanzigstes Kapitel.
»Heim!«

Die Eröffnung des Grafen hatte je nach der Verschiedenheit seiner Zuhörer auch ganz verschiedene Wirkung hervorgebracht. Seine Gemahlin hatte einen leuchtenden Blick zum Himmel gesandt, und wie aus der tiefsten Seele kommend, entstieg ein lösender Seufzer ihrer Brust, sie neigte sich zu ihrem Gatten und flüsterte ihm leise in's Ohr: »Gott sei gelobt, mein Manuel, nun steht nicht länger das Gespenst dieses unseligen Geheimnisses zwischen unserer Liebe.«

Er drückte bewegt die feine Hand, vermochte aber im Augenblicke nicht auf weitere Erklärungen einzugehen.

Seraphine hatte ihre Freundin umarmt und dann ausgerufen: »Nun sind wir auch noch durch die engen Bande des Blutes vereint! Meine Rita, wie gönn' ich dir dieses Glück! Nun sterb' ich leichter, weil ich das noch gehört habe!«

Rita war wie gelähmt. Sie wußte nicht, war es Freude, war es Dank gegen Gott, oder das Gefühl, als sei ihr plötzlich ein ganz unerhörtes Glück geschehen, was all' ihre Sinne gefangen nahm – es kam so schnell, so unverhofft, und sie war noch so jung! Die Bürde solchen Reichtums, die völlig veränderte Lebensstellung, die großartigen Verhältnisse, alles stürmte auf sie ein, so betäubend, so verwirrend und so erdrückend! –

Sie hatte die Hände gefaltet und das Haupt demütig gesenkt, als schäme sie sich vor den Anwesenden und wäre am liebsten fort von hier hinausgelaufen in die Einsamkeit des Waldes, wo die Bäume recht dicht bei einander stehen und wo die Vöglein heimlich schwatzen und die Blüten kosen und kein menschlich Wesen nahe ist, nur sie allein mit ihrem Gott und ihrem übervollen Herzen! –

Der alte Klaus und seine Schwester waren nicht viel weniger überrascht, als die Betroffene selbst. Rita, ihr Liebling, ihre kleine, boshafte Hexe, ihr Wildfang – eine Erbin, ihre Herrin, die Eigentümerin hier im Schlosse! – Sie konnten es nicht fassen, war's denn möglich! –

Notburga schluchzte laut: »Ich gönn's dem Kinde, o mein Gott ja, von ganzem Herzen, ich gönn's dem Kinde, solch' ein Glück, solch' ein Segen – aber nun ist sie uns verloren! Nun sind wir zwei arme Alten wieder allein!«

Diese Worte brachten wieder Leben und Regung in Ritas Erstarrung, sie stürzte auf die beiden alten Leute zu, erfaßte ihre Hände, küßte und herzte sie, und sagte: »Gott soll's verhüten, daß ich der Dankbarkeit je vergesse, die ich Euch schulde! Was wäre aus mir geworden, ohne das Erbarmen der guten Pflegemutter Margaretha, was ohne Euch, ohne Eure Liebe? Hier auf den Knieen danke ich Euch nochmals für alle Geduld, alle Liebe, die meine Kindheit behütet hat, und Eure Rita will ich bleiben, und mich nie von Euch trennen, und nie eine andere sein, als nur Euer gutes, braves Kind.«

»Und meine Strafe, Hedwig?« fiel der Graf ihr in's Wort und nannte sie zum ersten Male bei dem ihr gebührenden Namen, »was wird meine Strafe sein? Ich füge mich gerne jeder deiner Bestimmungen, ich verlasse das Schloß und begnüge mich mit einem kleinen Teile meines Vermögens, denn alles Übrige möchte kaum hinreichen, dich für das Verlorene zu entschädigen, nur meine Seraphine empfehle ich deiner Schonung, nur sie laß nicht allzuschwer leiden von der Schuld ihres Vaters.«

»Onkel, bester Onkel! darf ich dich so nennen?« rief Rita bittend aus, »mische keinen bittern Tropfen in den Genuß dieser Stunde. Alles soll vergessen und verziehen sein, Gottes Gnade schenkt mir so viel, ach so viel, daß ich nie genug dafür danken kann. Soll ich aber meines Daseins froh werden, dann laß mich bleiben, was ich bisher gewesen bin, die Freundin Seraphinens und nun auch dein Kind!«

Gräfin Mechtild zog das junge Mädchen an ihr Herz; »mein Kind, meine Tochter, ach wie hab' ich dich beweint, damals, als ich dich verunglückt glaubte! Willst du mir der Mutter Namen geben und die Liebe, die er verlangt?«

»O meine Mutter!« schluchzte Rita, »wie lange schon hat sich mein Herz nach diesem Namen gesehnt, seit sechs Jahren hatte ich keine Mutter mehr und nun finde ich die beste, gütigste von allen!«

»Schwester,« jubelte Seraphine und legte ihr Köpfchen zärtlich auf Ritas Schultern, »ist's möglich, dich noch mehr zu lieben, als ich es bereits gethan, so ist es nur, da wir zusammen sind, zwei Schwestern eines Stammes, zwei junge Glieder einer Familie.

Weißt du, Mama, nun muß ich an Lischen denken, die damals am Weihnachtsabende Rita dem Bilde unsrer Großmutter so ähnlich fand. Das Kind hat wirklich recht gehabt, sieh sie nur an. Sie müßte nur noch blaue Blumen auf den Scheitel legen.«

»In der That,« erwiderte der Graf, »wo hatte ich denn nur meine Augen in all den Jahren? Die Ähnlichkeit der Züge mit denen meiner seligen Mutter ist wirklich frappierend; jetzt weiß ich auch, weshalb mich immer etwas in dem Gesichte des munteren Kindes anheimelte, weshalb die schelmischen und doch träumerischen Augen mahnten, als hätten wir schon oft einander gesehen!« –

Auch der Ortspfarrer war jetzt, nachdem sich die ersten Ausbrüche stürmischer Gefühle ein wenig gelegt hatten, zu Rita herbeigetreten und hatte ihr ehrerbietig und dabei wahrhaft väterlich freundlich seine Gratulation zu dem so merkwürdigen Wechsel ihres Geschickes dargebracht.

»Gott hat Sie wunderbare Wege geführt, verehrte Gräfin, und Seine Hand sichtlich über Sie gehalten all die Tage Ihres Lebens, nun sind Sie berufen das Erbe Ihrer höchstseligen Eltern anzutreten, hier auf dem Schlosse als Gebieterin zu leben. Nehmen Sie solch unverhofftes Glück in Demut an. Ihren lieben Verwandten hier, danken Sie es, daß Sie sich Ihrer künftigen Stellung wohl einzupassen wissen, denn die Ausbildung und Erziehung, die Ihnen hier durch die Güte unsrer gnädigen Herrschaft zu teil geworden ist, hat Sie in vieler Hinsicht wesentlich vorbereitet zu dem, was Ihr gegenwärtiger Stand von Ihnen fordern möchte. Schenken Sie ihnen deshalb Ihr Herz und Ihre Zuneigung. Kein Groll, kein Stolz, kein Vorwurf – nur Liebe, Verzeihen, Vergessen – mit solchen Vorsätzen wird auch Ihrer neuen Lebensbahn der himmlische Segen nicht fehlen und Sie werden an der Seite Ihrer gnädigsten Tante und Cousine, die dritte im Bunde und eins mit ihnen, in werkthätiger Liebe für die Armen und für die Jugend von Hohenfeldt wirken und sich bald gleiche Liebe und Verehrung erringen.

Und so begrüße ich, Ihr alter Pfarrer, Sie in dieser Stunde als der Erste Ihrer Untergebenen und spreche aus vollem Herzen: ›Gottes Gnade und Segen sei mit Ihnen!‹« –

Rita, oder Hedwig, wie wir sie von jetzt an nennen wollen, bat nun ihren Onkel in ihrer herzlich vertrauten Weise – die Schranke zwischen ihm und ihr war ja jetzt gefallen – er möge sich gütig ihrer annehmen, möge sie in allem unterweisen, in alle Pflichten einweihen, vor Ungeschick und Schaden behüten. Die ganze Verwaltung solle nach wie vor von seiner Hand geleitet, von den bisherigen Beamten ausgeübt werden – »nur in einzelnen Dingen erlaubte sie sich vielleicht eigene Wünsche auszusprechen« – und wäre fast vor Schrecken umgefallen, als ihr Onkel die Summe nannte, über die sie ganz nach ihrem Vergnügen verfügen konnte.

»Du bleibst meine Mündel,« hatte er leichten Herzens und voll Dankes gegen Gott zu ihr gesagt, »und sollst dich nicht über den Vormund zu beklagen haben.«

»Und du, liebster Onkel,« erwiderte die junge Erbin, »du bleibst hier mit Tante Mechtild und Seraphine, und alles, alles ohne Ausnahme soll beim alten bleiben wie bisher.

Doch nein, nicht alles. Ich werde auf das Schloß ziehen, mein Zimmer neben dem lieben Schwesterchen einrichten und in den Parterreräumen müssen die lieben Großeltern wohnen, ich kann mich nicht von ihnen trennen, und weil ich nicht bei ihnen bleiben kann, sollen sie zu mir ziehen. So behaglich, so schön als nur möglich will ichs ihnen machen, den lieben, alten Leuten, und Gott wird sie mir noch viele Jahre erhalten.«

Also war es beschlossen – besser, als er in seinen kühnsten Gebeten zu hoffen gewagt, hatte der Himmel des Grafen Emanuel Schicksal gelenkt und ihm geholfen. Sein Dank war aber auch unbegrenzt und nicht minder der seiner edlen Gemahlin.


Seraphine welkte jetzt, nachdem sich der Sommer zu Ende neigte, sichtlich ihrer Auflösung entgegen. Immer schmäler wurden ihre Wangen, immer durchsichtiger die feine Blässe ihres Gesichtchens, immer größer und schöner die sprechenden Augen.

Sie war immer stets sanftfreundlich zu ihrer Umgebung gewesen, nie hörte man sie klagen, nie sah man eine Regung der Ungeduld oder des Unwillens, aber dennoch konnte man bei scharfer Beobachtung gar wohl wahrnehmen, daß ein heimlicher Kummer seinen Druck auf das junge Gemüt übte und daß es unter diesem stillen Kreuze zu leiden hatte.

Seitdem aber ihre Gefährtin als Erbin von Hohenfeldt anerkannt und in ihre Rechte eingesetzt, seitdem aus der lieben Freundin Rita, die Cousine Hedwig geworden war, Graf Emanuel wieder hie und da zu lächeln versuchte und Gräfin Mechtild neu aufzuleben schien – war auch ein ganz eigentümlicher Ausdruck des Friedens und des Glückes über Seraphine gekommen.

.

Gott hatte ihr Gebet erhört und die schwere Last von ihren schwachen Schultern genommen, ehe sie zu erliegen fürchten mußte.

»Weißt du, Hedi,« sagte sie einmal, als beide allein beisammen saßen, Hand in Hand, Auge in Auge und wiederholt, wie sie das jetzt so gerne thaten, die merkwürdigen Ereignisse der letzten Zeit besprachen: »Ich habe damals am Tage meiner ersten Kommunion recht innig zum lieben Gott gebetet, Er möge endlich einmal die schwere Last unter der ich meinen Vater sowohl als meine teure Mutter leiden sah, von ihnen nehmen. Ich wußte nicht, was es war, aber mein Herz sagte mir, es müsse irgend eine geheime Schuld sein, ein Vergehen, das nicht zu bessern, nicht zu sühnen war – wenn schon ich mir nicht denken konnte, wie weit mein Vater daran Teil hatte. Nun begreife ich es. Jener Ferdinand hat Papas Vorliebe für Geld und Reichtum ausgebeutet und unter dem Vorwande ihm gefällig zu sein und das Hindernis seines Glückes aus dem Wege zu räumen, dich, du Ärmste, beiseite geschafft.

Er wußte dich geborgen, wenigstens in jener Familie, mein armer Papa aber wähnte dich tot, unter Schutt und Trümmer begraben und schrieb sich daran die größte Schuld zu. Welch' qualvolle Nächte wird er durchwacht, welche Vorwürfe seines Gewissens erduldet haben in diesem Bewußtsein. Dazu sprach er zu keinem ein Wort, verbarg die Angst seines Gewissens vor der Welt, aber ich las sie ihm doch vom Gesichte ab! O Hedi, wie oft hab' ich für Papa gebetet und geweint!«

»Du gute, arme Seele, du!« tröstete Hedwig und schlang ihren Arm um Seraphinens Hals; »nun aber bist du ruhig, nicht wahr?«

»O ja, ich bin's, und weil du so gut, so großmütig denkst, Hedi, bin ich es ganz und gar. Nun sterb' ich gerne. Denkst du noch an jenen Traum, Hedi, da unser Ahne zu mir sagte, ich müsse fort von hier, denn dieser Platz gebühre mir nicht?«

»Wie kommst du denn immer wieder darauf zurück, Phinchen? fast müßte ich zanken. Bleib du doch nur bei uns, der Herbst ist ja immer eine schwere Zeit für das Gemüt, aber doch hat er auch viel Schönes und Herrliches, warum giebst du dich jetzt diesen traurigen Gedanken hin und lässest auch in mir keine Freude aufkommen?«

»Weil ich es fühle, Hedi, weil ich mir klar bin, daß ich recht bald schon mein Staubkleid von mir werfen und eingehen werde zur himmlischen Heimat. Meine Kräfte sinken, ich bin nicht mehr fähig, nur den zehnten Teil von dem zu thun, was ich bisher leisten konnte und eigentlich ist's gut, daß ich mit zunehmender Gefahr schwächer und hinfälliger werde. Ich sehe auch hierin ein unendliches Erbarmen Gottes. Es ist eine Wohlthat Gottes, daß ich nimmer so lebendig fühle und empfinde, wie ehedem, meine Kraft ist gelähmt, der sonst so starke Wille gebrochen, ich ertrage und dulde jetzt alles leichter und nehme die Eindrücke von außen nicht mehr so lebhaft auf, sie schwächen sich ab, wie meine Sinne; zuweilen bin ich so schwach, daß ich weder sehe noch höre, da denke ich dann mein Gott sei einer lieben, guten Mutter gleich, die ihr Kindlein schlafen legen will, sie schließt die Läden im Zimmer, damit nicht Licht noch Straßenlärm zu ihrem Lieblinge eindringt, mir geht es ebenso – ich werde um so leichter einschlafen. Denkst du nicht auch?« –

»Sieh doch Seraphine, wie reizend die Natur sich noch im späten Sonnenglanze uns zeigt! Wie schön es ist in unserm Park, der jetzt erst ein buntgesticktes Herbstkleid trägt.«

»Ich fühle auch für diese Schönheit nicht mehr so lebhaft wie sonst, und die Entsagung wird mir nimmer schwer.«

»Du Englein, du! Ich mag's einmal nicht denken, daß du von uns gehst! Nun wären wir so froh, so glücklich beisammen, warum denn soll die Liebste aus dem Kreise scheiden und eine so schmerzvolle Lücke hinterlassen?«

»Ich reiße keine Lücke, auch dafür hat Gott gesorgt. Es ist so wunderbar, wenn man Sein Walten zu ergründen sucht, wie alles so gar schön sich folgert und eins das andere ergänzt. Meinem armen Vater galt Geld und Genuß über alles!

In seinem Sohne wollte er das volle Glück vereinigt sehen, – ein Sturz von der Schaukel machte dem allen ein Ende; und ich, ich war ein elendes Ding, dem man inmitten des Überflusses nicht wohl thun konnte, ich mußte alles entbehren, allem entsagen, auf alles verzichten als ob es mir nicht angehöre, als ob ich nicht genießen sollte vom fremden Eigentume, sieh Hedi, es war kein Segen mit uns, weil wir von dem deinen zehrten und auf deine Kosten!« –

»O sprich nicht so, Seraphine! Wir können dich nun einmal nicht missen, der liebe Gott muß dich uns lassen!«

»Noch immer so ungestüm? noch immer nicht ganz und gar an seinen Willen hingegeben Hedi?«

Die Kranke drohte mit dem Finger, aber ein zärtlicher Kuß verschloß ihre Lippen.

Ein andermal sprach Seraphine zu ihrer Cousine: »Mir träumte heute, ein Engel hätte mir einen Kranz von Rosen gebracht, er war genau dem ähnlich, den ich damals trug bei meiner ersten heiligen Kommunion. Vergeßt es nicht und gebt ihn mir in's Grab.«

»Du darfst nicht gehen,« schluchzte Hedwig.

»Nun kann ich's ruhig, denn du trittst an meine Stelle. Du wirst unsre liebe Mutter trösten, wirst mich bei ihr ersetzen und ihr Alter versüßen. Weißt du, was ich zuweilen denke?« Und nun schaute sie fast ein bischen schelmisch nach Hedwig hinüber und flüsterte das eine Wort: »Hermann!«

Tief errötend stammelte jene: »Was willst du damit? Er will nichts von mir, und ich – ich –«

»Verstell' dich nicht, mein Schatz. Seitdem Hermann mit seiner Mutter wieder zu uns kam und dich als seine neue Verwandte begrüßte, hab' ich ihn beobachtet.

Ich habe mein vierzehntes Lebensjahr vollendet und du bist älter als ich, so liegt es nicht in gar zu weiter Ferne, zuweilen in die Zukunft zu denken. Hermann ist ein guter Mensch, die Änderung in unserer Familie hat einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, noch mehr deine Großmut. Er ist nicht mehr der flatterhafte, eitle Junge, der er noch vor zwei Jahren gewesen ist und hat gute Grundsätze. Sei nicht hart zu ihm, wenn er einmal eine Gunst von dir erbittet.«

»Das wird niemals der Fall sein, Phinchen. Werde nur du uns vorerst gesund!«


»Das Krankenbett unsrer lieben Cousine ist wie eine Kanzel,« bemerkte Baron Hermann eines Tages, als er mit Hedwig im Parke auf und ab ging, »ich habe mich anfangs beinahe von ihr abgestoßen gefühlt, denn ich hielt sie für überspannt, jetzt aber habe ich längst erkannt, wie wahre Frömmigkeit sich vom Scheine unterscheidet.«

»Und wie denn?«

»Dadurch, daß sie genau so handelt und lebt wie sie sagt, und niemals mit dem Munde betet oder lobt, indes ihre Hand zuschlägt.«

»Seraphinchen ist ein Engel.«

»Ja, sie ist es. Der Mann, der sie zum Weibe bekommen hätte, konnte sich glücklich preisen, aber sie ist zu gut für diese Welt, ich glaube nicht, daß wir sie noch lange haben werden.«

»Ach dürfte ich für sie sterben!« rief Hedwig weinend aus.

»O, nicht so, liebe Hedwig! So mußt du nicht reden, Seraphine war vorherbestimmt für einen frühen Himmel, ihre kränkliche Kindheit und Mädchenzeit ließ sie ja nie zum frohen Lebensgenusse kommen.«

»Und doch wirkte sie so viel, war so gut und gab so viele Liebe!«

»Allerdings; sie lebte uns allen zum Vorbilde und ich dächte, ihre Mission sei nun erfüllt.

Keins von uns wird jemals dieses liebenswürdige Mädchen vergessen, noch ihre Worte und Beispiele. Sieh hier dies Gedicht hat sie kürzlich niedergeschrieben und Kathrine fand es unter ihrem Kissen; sie nahm eine Abschrift davon und gab sie mir.

Seraphine dürfte es nicht wissen, daß wir Kenntnis hiervon haben, aber ich finde es allerliebst und ganz ihrem Geiste entsprechend.«

Er reichte Hedwig ein Blatt Papier und sie las mit großer Rührung nachfolgende Zeilen:

In Krankheit.

Auch mir, ich weiß es, kommt ein Tag,
Wo Jesus liebend spricht:
»Nun ist's genug der Erdenplag',
Geh ein zum ew'gen Licht.« –

Dann werd' ich nimmer müde sein,
Vollendet ist mein Lauf,
Zum letzten Male schlaf' ich ein
Und wach' im Himmel auf.

Mein heil'ger Engel reichet mir
Der Unschuld Flügelkleid
Und führt mich durch die goldne Thür
Zu Gottes Herrlichkeit.

Drauf grüßt mich eine ganze Schar
Von holden Kinderlein
Mit weißen Lilien im Haar
Und blitzendem Gestein.

»Du bist jetzt unser Schwesterlein,«
So sprechen sie sogleich,
»Sollst mit uns ewig selig sein
Und froh im Himmelreich.«

Und Bäume schau' ich, deren Ast
Voll güldner Früchte hängt,
Ein Silberquellchen, das mit Hast
Sich zwischen Blumen drängt.

Und mitten in dem lichten Schein
Tönt jubelnder Gesang,
Dem lieben Gott zu benedei'n,
Zu leisem Harfenklang. –

Ich weiß, ich weiß, bald kommt der Tag,
Da Jesus zu mir spricht:
»Nun ist's genug der Erdenplag',
Geh ein zum Himmelslicht!« –

Tiefbewegt stattete Hedwig das Blatt zurück.

»Das will ich mir abschreiben, Hermann,« sagte sie.

»Ich will es für dich thun, wenn du es erlaubst.«

»Ich bitte darum;« dann trat sie zutraulich einen Schritt näher: »Hermann, sage mir, zürnt deine Mutter noch immer auf mich?«

Er wurde dunkelrot; eine ehrliche Natur, die er war, vermochte er nicht zu lügen; »ich weiß nicht –«

»Sie mißgönnt mir mein Glück; ist's nicht so? Sie kann sich nicht denken, daß die einstige Dorfhexe, der Spatzenschreck des ganzen Dorfes jetzt hier regiert und zufällig zu solchem Reichtum gekommen ist.«

Er nickte, sprach aber nichts.

»Es thut mir leid. Gieb mir einen guten Rat, Hermann, kann ich ihr irgend eine Freude machen? Weißt du etwas?«

»Wie gut du bist! Ich danke dir, aber ich weiß von nichts.«

»Wenn ich ihr einen hübschen Anzug kommen ließe für die Schlittenfahrten im Winter? Was meinst du?«

»Ich weiß hierauf nichts zu sagen. Wir haben beide diese Güte nicht verdient.«

»Beide? Bist du mir auch böse gesinnt? Mißgönnst auch du mir mein Glück?«

»Nein, o nein, gewiß nicht, aber wenn ich denke, wie ich dich anfangs haßte, weil ich dich mir überlegen wußte und in allem kühner und mutiger, klüger als ich. Und damals, als du verschmähtest Seraphine heimlich zu sehen, ärgerte mich deine Scheinheiligkeit, wie ich es bezeichnete. Kannst du mir verzeihen?«

Sie senkte das Köpfchen; er faßte ihre Hand und neigte sich zu ihr nieder, den Ausdruck ihres Gesichtes zu beobachten; es war ernst und traurig.

»Hedwig wollen wir von heute an immer und allezeit recht gute Freunde sein? Treue Kameraden, die zusammenstehen in Leid und Freud?«

»Ja.«

»So schlag' ein.«

Sie legte ihre Hand in die seinige. »Aber jetzt nichts weiter, Hermann. Denke an deine Mutter!«

»Mit Gottes Hilfe werde ich sie auch noch zur besseren Überzeugung bringen können.«

Arm in Arm kehrten beide in's Schloß zurück, in ihren Augen lag das erste Ahnen einer jungen Liebe.


»Bleib' bei mir, Mütterchen, mir ist so bange,« flüsterte Seraphine andern Nachmittags. Sie hatte sich an's offene Fenster bringen lassen und schaute hinaus, wie schon so oft, in die liebliche Bergwelt, die sich hier noch in weichen, waldbewachsenen Formen zeigte, nicht schroff und rauh als kahle Felsenwand.

Vor kurzem war der Pfarrer dagewesen und hatte seiner lieben, kranken Schülerin den Trost der Kirche, die heiligen Sakramente gegeben, nach denen sie verlangt hatte.

»Nun bin ich gestärkt, um meine Wanderschaft anzutreten,« sagte Seraphine lächelnd, als sie sich in die Kissen zurücklegte und für kurze Minuten die Augen schloß.

Bald öffnete sie sie wieder und sah groß um sich; »wie schön Er doch alles gefügt hat, der liebe, gute Gott!« sagte sie, ihren Kopf gegen die Brust der Mutter neigend, »nicht wahr, Mütterchen, du wirst nicht allzusehr weinen, wenn ich von dir gehe? Hier hast du ja ein anderes Kind, eine liebe, treue Tochter, und ich werde viel mit euch beiden sein, im Geiste wenigstens, wenn auch nicht sichtbar.« Dann hielt sie wieder inne. »Wo bleibt nur Papa? Ich hätte ihn so gerne bei mir.«

»Er kommt im Augenblick, mein Herz, ich habe schon seine Stimme vernommen.« Gleich nachher erschien der Graf im Zimmer; er erschrak, als er Seraphinens Stirne küßte und sie kalt und feucht fand.

»Wie fühlst du dich, mein Engel?«

»Recht wohl, Papa, nur müde? Kann ich denn anders als mich wohl fühlen, da Gott selbst zu mir kam?«

»Du gutes Herz!«

Hedwig saß der Kranken zu Füßen, die sie in eine wollene Decke eingehüllt hatte und jetzt mit weicher Hand strich, um sie zu wärmen.

»Du mühst dich für mich, laß es doch sein!«

»O wie gerne thu' ich's! Ich thäte ja alles, alles für dich, mein Phinchen!«

Jetzt trat auch Hermann ein und mit ihm seine Mutter.

Die kalte Weltdame erschrak vor dem Bilde des nahen Todes, aber sie wußte, daß sie sich hier überwinden mußte um des Anstandes willen.

»Tante Julie!« Das kranke Mädchen streckte ihr die Hand entgegen.

Sie trat näher. »Mein liebes Kind, du wirst bald genesen und wieder frisch und gesund werden.«

Seraphine schüttelte das Haupt. »Ich wünsche es nicht mehr; es muß schwer sein, so nahe dem Ziele, wieder zurück zu sollen in's Leben. Gute Nacht, liebe Mutter!«

So süß, so zärtlich klangen diese Worte, als seien sie der Abschiedsgruß für diese Welt.

Eine Weile lag die Kranke wie schlafend, nur leise bewegten sich ihre Lippen, als ob sie bete; durch das offene Fenster drang ein Sonnenstrahl herein und spielte flüchtig auf den Zügen Seraphinens, und nun blickte sie ein letztes Mal groß und ernst von einem der Anwesenden zum andern, als wollte sie jedermann nochmals danken für alle Liebe. Hedwig neigte sich zu ihr und küßte die erblaßten Lippen.

»Hedi, meine Schwester,« hauchten sie. Dann noch ein Kuß auf das Bild des gekreuzigten Heilandes, das Kathrine ihr darreichte, ein paar kurze Atemzüge, das Haupt neigte sich seitwärts – der Todesengel nahte der unschuldvollen Seele und trug sie heim in's bessere Leben, zu ihrem Gott, den sie so sehr geliebt, dem sie so treu gedient hatte. An der mütterlichen Brust der Gräfin Mechtilde lag die Entschlafene, so sanft, so friedlich gebettet – niemand hatte ihr eigentliches Ende bemerkt, so still war es vor sich gegangen, und tief ergriffen schloß ihr Hermann die Augen.

Seraphine hatte ihr irdisches Ziel vollendet.

Die Natur lag in wunderbarer, herbstlicher Schönheit, von der niedergehenden Sonne mit goldenem Glanze übergossen, vom Kirchturme läutet die Abendglocke zum englischen Gruße.


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