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Dreizehntes Kapitel.
Seraphine

Nach den vielen Unbequemlichkeiten der Reise und dem Aufenthalte in großen Städten gefiel sich die gräfliche Familie jetzt recht sehr in der Ruhe und dem Frieden des Landlebens. Die Lage des Schlosses war auch wirklich ausnehmend schön, die Luft rein und gesund, die Bevölkerung freundlich, und so wäre nichts zu wünschen übrig geblieben, hätte nur der Graf eine weniger schwermütige und düstere Stimmung gezeigt. Selbst Seraphine befand sich seit den letzten Tagen ziemlich befriedigend und war auch von dieser Seite eine dringende Sorge ebenfalls nicht berechtigt. Welch ein heimlicher Kummer mochte denn nur das Gemüt Emanuels belasten und jedes Lächeln, jeden Ausdruck der Freude von ihm bannen?

Oft schon hatte es Mechtilde versucht, sich mit einschmeichelnder Rede und sanfter Bitte in sein Vertrauen zu drängen – aber immer vergeblich. Sie selbst trug ja so schwer an jener unheilbaren Wunde, die ihr Arthurs tödlicher Sturz geschlagen hatte; dennoch wußte sie ganz genau, daß die Melancholie Emanuels seit diesem Unglückstage zwar wesentlich zugenommen, aber durchaus nicht da erst angefangen hatte, sondern auf eine frühere Zeit zurückgeführt werden mußte.

»Laß gut sein, meine Liebe,« hatte der Graf jedesmal gesagt, wenn sie es gewagt hatte, diese Wunde zu berühren, »ein jeder Mensch hat etwas mit sich selbst abzurechnen, sobald er einmal die seligen Jahre harmloser Kindheit überschritten hat, und auch ich trage meine Last und werde sie wohl tragen müssen bis in's Grab.«

»Und ist denn gar keine Möglichkeit gegeben, sie abzuschütteln, soll kein Mittel zu deiner Genesung führen?«

»Nein, nein, quäle dich nicht damit. Es giebt Wunden, die keine Salbe heilt, die sich ausbluten müssen allein und ungesehen und die jede Berührung nur noch empfindlicher macht.«

»Und wird das nie, gar nie werden, mein Manuel?«

»Nie, solange ich lebe. Zuweilen ja, da ist mir's, als ob urplötzlich ein Sonnenblick aus weiter Ferne die Nacht meiner Seele durchbrechen und mit ihm Hoffnung einziehen müßte in mein Herz. In solchen Augenblicken flüstert mir eine süße Stimme zu: ›Vertraue doch, es wird noch alles gut‹; aber wann – wann wird das sein? Wann werd' ich aufhören, diese Qual mit mir herumzutragen?«

Sonst war nichts aus ihm herauszubringen, trotz aller Beharrlichkeit und Teilnahme Mechtildens. Er blieb bei dieser Aussage und wehrte jegliches Mitleid von sich ab.

Für Seraphine hatte man die freundlichsten und luftigsten Zimmer zum Aufenthalte gewählt und sie mit allem nötigen Komfort ausgestattet. Ihre natürliche Einfachheit haßte aber alles Zuviel und mochte auch bei Ausschmückung ihres Zimmers nichts von prunkhaftem Luxus hören.

Die korinthrote Tapete war ernst und wirkungsvoll in ihrer vornehmen Ruhe, ein paar Ölbilder in Goldrahmen hoben sich sehr schön von dem dunklen Hintergrunde der Wände ab und in einer Ecke des Schlafzimmers war ein kleiner gotischer Flügelaltar aufgestellt, dessen Mittelstück eine reizende Kopie der Madonna della Sedia von Rafael auf Goldgrund bildete und vor welchem das fromme Mädchen seine häuslichen Andachten zu verrichten pflegte. In der andern Zimmerecke befand sich der Kamin mit einem vergoldeten Gitter von schön durchbrochener Metallarbeit; auf dem Gesimse stand eine Stutzuhr zwischen Leuchtern und Vasen und etliche alte Porzellanfiguren, darunter eine Schäferin im rosenbesäten Röcklein mit zierlichen Pantöffelchen, gleichfalls je mit einer Rose besetzt und auf dem gepuderten Kopfe ein Strohhütchen mit flatternden Bändern und Blumen garniert. Ihr gegenüber war ein Hirtenknabe in einem Kostüme, das man in Wirklichkeit wohl niemals bei einem solchen Jungen vermuten möchte. Er trug gleichfalls ein niedliches Hütchen mit langen Bändern auf dem lockigen Haar und blies auf einer vergoldeten Flöte. Auch ein Chinese und seine Gemahlin standen auf dem Kamine. Ersterer war der besondere Liebling Seraphinens, denn er trug ein gar prächtiges, faltenreiches Gewand mit Stickereien aus Pfauenfedern und goldenen Ringen, seine Hand hielt einen aufgespannten Sonnenschirm über seine Glatze; ein langer schwarzer Zopf hing ihm über den Rücken hinunter. Seine steife, unbewegliche Gemahlin hatte einen Fächer vor dem Gesichte, rührte und regte sich aber nicht, während er recht hübsch mit seinem Kopfe nickte.

Das war ein köstlicher Spaß! Wenn man ihm einen Nasenstüber oder seinem Zopf einen Stoß versetzte, so nickte und nickte er so eifrig und unermüdet fort, daß es eine wahre Freude war.

Seraphine benutzte diese Eigenschaft oft, um ihren Eltern eine Erlaubnis abzuschmeicheln. »Darf ich dies oder jenes thun?« fragte sie und rief dann lustig lachend: »Seht nur, lieber Papa, liebes Mamachen, der alte Joko hat schon ›ja‹ gesagt, nun müßt Ihr auch ›ja‹ sagen!« –

An den langen Zimmerwänden standen geschnitzte Regale mit ausgewählten Jugendschriften, dem Alter Seraphinens entsprechend, auch Reisebeschreibungen und Geschichtsbücher waren darunter, ihren Jahren vielleicht einigermaßen voraus; sie las sie aber mit großer Vorliebe, denn sie liebte ernste Unterhaltung sowohl als ernste Lektüre, wie sie auch über ihr Alter ernst und überlegen schien im Denken, Sprechen und Handeln; daran mochte wohl ihr steter Umgang mit Erwachsenen schuld sein und auch ihre Krankheit.

Leiden und Krankheit sind gar merkwürdige Erzieher und wissen die in uns schlummernden Anlagen viel rascher zur Entwickelung heranzureifen, als jeder noch so streng eingehaltene Stundenplan und Lehrgang des Alltagslebens.

Seraphine hatte das an sich selbst erfahren.

Da es ihrem leidenden Zustand, der sehr oft geräuschlose Umgebung und Dunkelheit verlangte, entsprechend schien, so hatte man die Fenster mit Wollvorhängen in der Farbe der Tapeten und Möbelbezüge behangen.

Von der Mitte der Decke herab hing an vergoldeten Kettchen eine Ampel aus milchweißem Glase, die zur Nachtzeit das Schlafgemach mit mildem Dämmerlichte erhellte. An dieses Gemach anstoßend war das Wohnzimmer. Hier war alles licht und freundlich. Helle Tapeten und helle Vorhänge an den Fenstern; gleichwohl schützten grüne Jalousieen gegen das Eindringen des Lichtes und jede Blendung der Augen. In dunklen Holzrahmen sah man schöne Kupferstiche an den Wänden, fast ausnahmslos Wiedergaben der alten Meister. Eine Gruppe von Blattpflanzen, in deren Mitte eine Statue aus Gips stand: ein Kind mit einem Vöglein spielend, war in der andern Zimmerecke mit großem Geschmacke aufgestellt.

Da sah man Lorbeer und Dracenen, Ficus und Feigenbäume, die Phönix-, Fächer- und Rhapis-Palme und zwischendurch zarte, ausländische Coniferen. Auch an bunten Blumen fehlte es nicht, denn der Garten bot sie im Überflusse, und Vasen und Schalen waren damit gefüllt.

Bei der grünen Gruppe war auch ein Aquarium angebracht, in welchem sich Gold- und Silberfischchen, sowie einige Salamander lustig tummelten. Es belebte die Pflanzen außerordentlich und hatte auch den Zweck die Luft feucht zu erhalten.

Wenn sich Seraphine nicht im Freien aufhielt, bot ihr das Fenster ihres Wohngemaches eine herrliche Aussicht in die Berge, und ein so freundliches Bild, daß sie dieses Plätzchen bald überaus lieb gewann.

Kathrine war soeben bemüht, die Kissen zurecht zu legen und dem Rücken ihres Lieblings eine möglichst bequeme Lage zu verschaffen.

Ein warmer, dankbarer Blick lohnte diese Mühe; die Gräfin aber neigte sich nieder, um einen zärtlichen Kuß auf das bleiche Gesichtchen zu drücken und flüsterte fast mehr zu sich selbst als zu der Kranken: »Mein armes Kind! immer voll Güte und Geduld!«

»Wie könnte ich denn anders, mein Herzensmütterchen,« gab Seraphine zurück, »geschieht denn nicht alles, um mich vom Grunde aus zu verwöhnen? Kaum hab' ich einen Wunsch erdacht, so ist er auch schon erfüllt, kaum rede ich von einer Freude, so ist sie gewährt! Was bin ich doch eigentlich für ein glückliches Geschöpf!«

Sie sah den Schmerz nicht, der bei diesem Ausrufe das Antlitz ihrer Mutter beschattete, sah nicht, wie sie die Thränen zu verbergen suchte, die sich gewaltsam hervordrängen wollten, noch auch, wie die treue Kathrine so traurig nach ihr blickte. Ihr Verfall wurde ja doch eigentlich von Tag zu Tag ersichtlicher! –

Und jetzt nahm sie aus einem zierlichen Körbchen, das vor ihr auf dem Tische stand, bald diese bald jene Blume zur Hand und fügte sie mit sinnigem Geschmacke zu einem länglichen Geflechte. Mit großem Geschicke reihte sie die mannigfachen Blumen in ihren Farbenabstufungen aneinander, band hier das weiche, saftgrüne Laub der Clematis dazwischen und brachte dort weiße und gelbe Blumen mit den steifen glänzenden Blättern der Rotbuche in überraschend wirkende Verbindung.

»Sieh nur, Mütterchen, wie schön das ist!« sprach sie mit ihrer weichen, einschmeichelnden Stimme, und Frau Mechtilde sowohl als Kathrine fanden nicht genug der Worte, die geschickten kleinen Hände zu bewundern, die so Reizendes herzustellen verstanden.

»Aber nun bin ich auch schon wieder müde,« sagte Seraphine mit traurigem Lächeln, »ist es nicht gar zu schlimm, daß man sogar von solcher Arbeit müde sein kann?«

»Und doch bist du's, mein Liebling, ich sehe dir's an,« versetzte ihre Mutter, »komm, raste erst ein bischen!«

Gerne willfuhr die Kleine und neigte sich gegen die Lehne ihres Stuhles zurück. Wie sie aber so da lag mit geschlossenen Augen, das reiche blonde Haar in weichen Ringeln auf Hals und Schultern niederfallend, die schneeweißen Hände im Schoß gefaltet, als ob sie bete, so still, so regungslos – da glich sie mehr dem Bilde eines schlafenden Engels als einem zwölfjährigen Kinde. Unwillkürlich drängte sich einem der Gedanke auf, es möchte dieser Seele gar mühelos gelingen, das bischen Erdenstaub von sich zu schütteln und dem Himmel zuzueilen. Gegen diesen Himmelsflug aber wehrte sich eine starke, gewaltige Macht, nämlich die Macht der Mutterliebe.

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Diese Macht, die sich mit unendlicher Zähigkeit an das letzte Kleinod klammerte, das sie besaß, hatte das knöcherne Gespenst bisher noch ferne gehalten und sich verschanzt hinter Gebet und Thränen. Wie lange aber würde sie noch siegreich bleiben?

Die beiden erstgebornen Söhnlein hatte Gott, nachdem sie das Leben kaum erschaut hatten, schnell wieder zu sich gerufen in seinen Himmel – es waren Sterne gewesen, deren Licht erlosch, ehe es eigentlich geleuchtet hatte, Blüten, die mit jäher Todessichel gemäht in's frühe Grab sanken.

Dann kam Arthur. Er blieb am Leben, er wuchs, er gedieh an Leib und Seele; er war der Stolz, das Glück, die Freude seiner Mutter. Wie oft hatte sie Gott für diesen Sohn gedankt! und wie hatte ihr Auge ihn bewacht und behütet! – Sein Schwesterchen, das geboren wurde, als er bereits zu lernen begann, war ein gar zartes, durchsichtig feines Pflänzchen, das schon vom ersten Lebenstage an die ganze unerschöpfliche Geduld, die große Liebe, Aufopferung und Nachsicht beanspruchte, deren nur eine Mutter fähig ist. Die Gräfin klagte aber niemals, sie beugte sich mutig auch dieser Prüfung. Schritt um Schritt seines Erdenwallens errang sie ihrem Kindlein in mutiger Ergebung und pflegte es und zog es groß mit übermenschlicher Ausdauer und erfinderischer Schonung.

Den blühenden Sohn hatte ihr der Tod plötzlich entrissen, mit Seraphine schien er Mitleid zu haben und zögerte, diese zerbrechliche Pflanze zu knicken; aber oft trat die Frage an die edle Mutterseele heran, weshalb denn sie, der Gold und Reichtum und die besten Erdengüter zu Gebote standen, ihrer armen Tochter Leiden nicht dauernd zu lindern vermöge, weshalb sie sich denn nicht an blühenden und gesunden Kindern erfreuen dürfe, indes Frauen aus dem Volke, die aus ihrer Küche Bettelsuppe und das Brot der Armen aßen, so reichen Segen hätten und ihre Kleinen so leicht und mühelos emporbrächten? Doch jedesmal, wenn solche Bitterkeit sie erfaßte, wenn solcher Mißmut in ihr aufsteigen wollte, wies sie die Versuchung von sich.

Sie hatte eine fromme Mutter gehabt, und das ist der höchste, wertvollste Segen, der uns zu teil werden kann. Die Erziehung einer frommen Mutter, ihr Wort und Beispiel lebt noch in uns fort, wenn wir schon graue Haare und unsre Erdenreise schon zur Hälfte vollendet haben. Ja, ich gehe noch weiter, ich sage, das Bild unsrer guten Mutter bleibt unser Leitstern bis an's Grab und wirft sein Licht noch segenspendend und verheißend voraus auf den dunklen Pfad der Todesnacht! –

Frau Mechtildens Mutter hatte sie gelehrt, sich demutsvoll in Gottes Willen fügen und nichts von Gott mit Ungestüm verlangen, weil wir nicht wissen, ob es uns zum besten ist; am allerwenigsten aber einem Vorwurf Raum geben in unsern Herzen, als ob uns Unrecht geschehe und wir Besseres verdient hätten.

»Wer giebt uns denn,« sprach sie oft, »eine Berechtigung, nur das Beste und Angenehmste von Gott zu erwarten? Ist der große, allmächtige Schöpfer Seinem Geschöpfe irgend etwas schuldig? Hat Er etwas an uns gut zu machen? Etwas auszugleichen? Hat Er nicht ohnehin schon alles gethan, was nur überhaupt für uns geschehen konnte? Seinen eigenen, einzigen Sohn gab Er hin für uns und unter den qualvollsten Schmerzen und Mißhandlungen in der Vollkraft seines Lebens verblutete dieser am Kreuze im schimpflichen Tode des Verbrechers. Konnte Er noch mehr thun? Und wir wollten Ihm nach solcher Freigiebigkeit noch Vorschriften machen und Bedingungen stellen?« –

Mechtilde hatte diese Worte nie vergessen und immer gelang es ihr, sich mit ihnen wieder zu heben und ihren Glaubensmut zu stärken.

Jetzt rieb sich Seraphine die Augen. »Ich glaube gar, ich habe geschlafen?« lachte sie, »welche Schande am hellen Tage. Du hättest mich wecken müssen, Mütterchen!«

»Ich freute mich für dich und wie du so sanft geschlummert hast, bist du jetzt sattsam ausgeruht und willst du den Weg zum Feldkreuz machen?«

»Natürlich, meine Mutter! Ich freue mich so sehr, daß mein Kranz so schön gelungen ist. Geht Kathrine mit uns?«

»Freilich, mein Herzchen,« gab die gute Alte zur Antwort, »ich führe den Wagen, du kannst dann aussteigen und ein bischen zu Fuß gehen, wenn es dir behagt, so kommen wir jedenfalls wieder gut nach Hause.«

Und sie verfügte sich in ein Nebenzimmer, Seraphinens Hut und Tuch zu holen, auch den Kranz nahm sie zu sich, um ihn zu tragen, doch das erlaubte die kleine Kranke nicht.

»Du hast so schon genug an mir, meine gute Kathrine und sollst dich nicht auch noch mit dem Kranze belasten. Den legen wir auf meinen Schoß und bringen ihn so am besten hinaus zum Platze, wo das Kreuzbild steht.«

Die Gräfin aber nahm den Blumenkranz aus Kathrinens Hand und sprach: »Nun will ich dem edelmütigen Streit ein Ende machen, nicht du, nicht unser Kind, sondern ich will ihn an mich nehmen, und damit basta.« – Und so geschah es auch.

Ehe sich nun aber die kleine Gesellschaft zur Spazierfahrt fertig machte, ergriff Seraphine noch einmal die Hand ihrer Mutter und bat: »Noch ein Wort, liebe Mutter!«

»Was willst du, mein Kind?«

»Erlaube doch, daß man den Park öffne, daß auch die Leute vom Orte sich dort ergehen, und die Kinder spielen und sich an dem schönen Wasserfall und dem Springbrunnen freuen dürfen; ich bin immer so einsam unten und sehe so gerne frohe Kinder um mich spielen und scherzen.«

Gerührt küßte die Gräfin die Stirne ihres Kindes.

Es ergriff sie tief, daß dieses engelsgute Geschöpfchen sich so neidlos an der Freude anderer, an ihrer Beweglichkeit und Munterkeit freuen konnte, indes sie selbst nur zur Rolle der Zuschauerin verurteilt, nicht im stande war, teilzunehmen an diesen ihren Vergnügen und Spielen. Kranke werden so leicht selbstsüchtig. Seraphine war es nicht.

Gerne wurde ihrem Wunsche willfahren und schon am nächsten Tage das Gitter des Parkes geöffnet.


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