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Sechstes Kapitel.
Sie kommen!

Endlich waren alle Vorbereitungen geschehen und der Tag näher gerückt, der das so lange verwaiste Schloß wieder bevölkern und beleben sollte. Man wollte hierzu großartige Festlichkeiten in Scene setzen, denn der Bürgermeister hielt es für seine absolute Pflicht, die gräfliche Familie nicht allein so freundlich, sondern auch so feierlich als möglich zu empfangen, umsomehr, als bereits eine Reihe von Jahren vergangen war, seitdem Graf Emanuel Hohenfeldt, der letzte männliche Nachkomme seines Stammes, das Erbe seines Bruders Rudolf angetreten hatte. In all dieser Zeit hatte er nur manches Mal einen flüchtigen Besuch hier abgestattet, und sich erst jetzt entschlossen, zu längerem Aufenthalte hierher zu kommen. Für viele Ortsbewohner war demnach ihr Gutsherr sozusagen ein Fremder; nur die alten Leute erinnerten sich noch jener Zeit, da zwei schöne freundliche Knaben, der jetzige Graf Emanuel und sein Bruder, auf allerliebsten kleinen Pferdchen aus dem Schlosse geritten kamen, oder auch mit ihren Eltern eine Wagenfahrt auf benachbarte Landgüter unternommen hatten. – Vielleicht bot auch die Hierherkunft der Familie manche Gelegenheit zu Arbeit und Verdienst. Wenigstens trug man sich insgeheim mit solcher Hoffnung. Am meisten aber hatten die Kranken und Armen Ursache, das Beste zu erwarten, denn der Gräfin war der gar schöne Ruf vorausgeeilt, daß sie ein Engel sei an Barmherzigkeit und Opferliebe gleich ihren Vorgängerinnen, der unvergeßlichen Gräfin Helene und deren Schwiegertochter Irene. So zeigten sich überall die freudigsten und besten Aussichten. Wenn das Zusammenleben zwischen Gutsherrschaft und Gutsunterthanen auf gegenseitiges Vertrauen gestützt, richtig aufgefaßt und verstanden wird, so kann es sich für beide Teile zum segensreichsten und nutzbringendsten Verhältnisse gestalten und manch ein Unternehmen zum befriedigenden Abschlusse bringen.

Hierüber schien sich auch der Bürgermeister völlig klar zu sein und wollte hiernach seine Maßregeln ergreifen. Nachdem er sich über Tag und Stunde der Ankunft genau unterrichtet hatte, erließ er seine Befehle nach allen Windrichtungen; dabei schien ihm der Rat und Beistand des jungen Lehrers, eines wohlunterrichteten Mannes, ebenso wichtig als unerläßlich. – Derselbe verband guten Geschmack und feine Umgangsformen mit jenem gewissen Takte, den weder Bildung noch Erziehung verleihen, sondern der lediglich Sache des Gemütes ist, und aber auch stets das Richtigste und Beste wählen und raten läßt. Überdies besaß der Herr Lehrer ein hervorragendes musikalisches Talent und einen merkwürdig guten Geschmack für dekorative Anordnungen bei allen festlichen Anlässen. Er fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, daß der Herr Bürgermeister sein bescheidenes Wissen nicht allein so sehr zu würdigen wußte, sondern auch es recht auffällig hervorhob und wollte sein Bestes aufbieten, diesem Vertrauen ganz zu entsprechen.

Die Vorderseite des Schlosses wurde mit grünen Gewinden aus Tannenzweigen verziert, zwischen denen man bunte Fähnlein anbrachte, das große steinerne Wappentier über dem Portale schmückte ein breiter Kranz von Feldblumen, gleich einem lebendigen bunten Rahmen, vom rechten Turme herab hing das reich in Gold und Seide gestickte herrschaftliche Banner, das nur bei außerordentlichen Gelegenheiten hervorgeholt, alsdann seine ganze, stolze Pracht entfaltete und fast bis zum ersten Stockwerke des Schlosses niederwallte. Längs der Fahrstraße bis zum Schlosse hinauf zog sich eine monotone Allee aus alten hochgewachsenen Pappelbäumen, die erst kurz vor dem Eisengitter des Gartens und der Terrassen endete. Der künstlerische Geschmack des Lehrers suchte die Eintönigkeit dieser geraden Linien dadurch etwas auszugleichen, daß er zu beiden Seiten der Allee die Bäume mit grünen Laubgewinden untereinander verband, was bei regelmäßiger Verteilung einen ganz hübschen Anblick bot.

In verteilten Absätzen hatte man überdies noch Tafeln mit Inschriften und Willkommensgrüßen angebracht, und so wirkte denn die ganze lange Pappelallee wie eine freundlich lebendige Umzäunung.

Zu beiden Seiten war die Schuljugend in ihren Sonntagskleidern aufgestellt, der Pfarrherr und Lehrer an der Spitze; des Posthalters Gretchen, ein hübsches weißgekleidetes Mägdlein, sollte den Damen ein Blumenkörbchen, und Bürgermeisters Willy dem Grafen einen Strauß überreichen, der Bürgermeister aber die Ankommenden mit einigen Worten feierlich begrüßen, wonach die Schulkinder ein von ihrem Lehrer wohl einstudiertes Lied vortragen, und unter diesem Gesange die Wagen weiterfahren sollten, ihrem Reiseziel, dem Schlosse Hohenfeldt, entgegen.

Wolkenlos schaute der Himmel auf die Landschaft nieder, die Fenster des Schlosses schimmerten im Glanze der niedergehenden Sonne wie flüssiges Gold und der feierliche Friede, der über die Natur ausgebreitet lag, ward nur durch jenes eigentümliche Summen und Flüstern unterbrochen, wie es eine auf- und niederwogende Volksmenge im Gefolge hat, und das mit jeder Minute anschwellend, einen außergewöhnlichen Vorgang bekundet.

Es war aber heute auch gewiß nahezu das ganze Dorf auf den Beinen, nur die kleinsten Kinder und ältesten Leute, sowie die Kranken hatte man zu Hause gelassen, denn alle eilten zum Dorfe hinaus auf die Landstraße, von woher die so lange Erwarteten kommen mußten. – Zwischen den grünen Gewinden, die sich so malerisch von einer Pappel zur andern zogen, nahmen sich die kleinen Flachsköpfe der lieben Schuljugend in ihren rosenroten und buntfarbigen Kleidern wie Röslein und Maßliebchen frisch und zierlich aus.

Endlich wurde am fernen Eingang der Allee eine Staubwolke sichtbar, gleichzeitig begannen auf ein verabredetes Zeichen die sämtlichen Glocken der Kirche und der umliegenden Kapellchen zu läuten und die Kinderherzen schlugen jetzt höher und höher in freudiger Erwartung, die Reisewagen kamen näher, und Taschentücher wurden geschwungen, im Wäldchen hinter dem Schlosse stieg leicht kräuselnd weißer Rauch in die Höhe, dort feuerten die jungen Burschen des Dorfes zu Ehren der Ankommenden Böllerschüsse ab. – Jetzt widerhallte auch die Luft von lauten Vivatrufen der Menge, dann mit einem Male war alles stille, die Wagen hielten an, der Bürgermeister, vom Pfarrer und Lehrer begleitet, trat vor. Alle Augen waren nach dem gräflichen Paare gerichtet, das die laute herzliche Huldigung sichtlich erfreut entgegennahm.

Der Graf war ein ernster Mann, der noch im besten Lebensalter stand, obwohl sich da und dort bereits ein Silberfaden durch die dunklen Haare zog; mit einer eigentümlichen Unruhe des Blickes vereinigte sich auch eine gewisse Hast seiner Bewegungen und jenes Zucken der Mundwinkel, das auf hochgradige Reizung der Nerven schließen läßt. Unwillkürlich empfand man, daß das freundliche Lächeln, womit er nach rechts und links die Grüße der Leute erwiderte, nichts gemein habe mit seinem Herzen, vielmehr erzwungen und von leerer Höflichkeit diktiert sei. Die Gräfin dagegen zeigte ein Antlitz voll Milde und Liebenswürdigkeit, das ein Ausdruck von Abspannung und Wehmut nur noch anziehender machte.

Es giebt Menschen, die man nur einmal zu sehen braucht, um sie lieb zu gewinnen, wie man auch den gegenteiligen Eindruck von einer einzigen Begegnung unverlöschlich in sich aufnehmen kann. Solche Persönlichkeiten müssen nicht eben ein sehr schönes Gesicht, oder absolut regelmäßige vollkommene Züge haben, – sie ziehen an durch den Reiz des Ausdruckes, der sie beseelt. Schon die kleinsten Kinder zappeln ihnen entgegen, sie wollen von ihnen geliebkost werden, und schenken ihnen ihr allersonnigstes Lächeln. »Du bist uns gut, du hast mich lieb!« das wissen die Kleinen ganz genau; – die Leidenden und Betrübten kommen zu ihnen und vertrauen ihnen ihre Sorge und Anliegen, und erzählen ihnen alles, was sie drückt und bekümmert; sie fühlen es: »Hier sind wir verstanden, hier schlägt uns ein Herz, das gekämpft und gelitten hat, wie wir, hier wird uns Trost« – selbst die Oberflächlichsten möchten hier ihre müdgehetzte Seele ruhen lassen von der Welt und ihren Freuden.

Was wollen sie denn hier? Ist's der unbewußte Zug nach Höherem und Besserem, was sie lenkt, oder ist's jene Ruhe, jener Friedenshauch, der den Begnadigten innewohnt, jenes Licht der Liebe, das aus ihren Augen leuchtet und zu fragen scheint: Wo kommst du her, unstät flatternd Geschöpf von Lust zu Lust, von Genuß zu Genuß, was gewinnst du dabei, wovon warst du befriedigt? Wurdest du besser durch die Welt und ihre Götzen, ihre Lüste, ihre Weisheit? Alles ist Eitelkeit! – Wie bin ich glücklich, seit ich das erkannt und Friede schloß mit Gott und meinem Innern! Ja solche Menschen sind ein kühler Schatten nach glühendem Sonnenbrande, ein liebliches Bild, das Gott selbst gemalt hat. Und dieser Zug der Gotteshand ist auch das Geheimnis ihrer Wundermacht. –

Solch ein Angesicht hatte Gräfin Mechtild, Emanuels Gemahlin, und wer sie einmal gesehen, konnte sie sicherlich nicht wieder vergessen, der lag in den Banden ihrer großen dunklen Augen für immer. –

Der Bürgermeister hatte seine Ansprache mit guter Betonung, wie sie ihm der Schulmeister eingeübt hatte, richtig und weithin vernehmlich vorgetragen und der Graf ihm mit einigen huldvollen Worten dankend erwidert.

Auch der Strauß, den Willy überreichte, wurde freundlich angenommen, sowie Gretchens Blumenkorb, und beide Gaben auf die Rückseite des Wagens gelegt.

»Wir sehen uns nun wohl öfters, meine lieben Kinder!« sagte die Dame freundlich, während sie Gretchen auf die Stirne küßte und Willy nochmals die Hand reichte, dann winkte sie dem Kutscher, dieser zog die Pferde an, der Wagen setzte sich in Bewegung und fuhr weiter. In ganz geringer Entfernung folgte ein zweiter, der nicht minder als der erste die Aufmerksamkeit aller Wartenden auf sich lenkte. In seiner Tiefe zurück lag ein junges Mädchen, an Jahren noch fast ein Kind, mit bleichen Wangen und ernsten, vergeistigten Zügen. Eine gewisse Verklärung lag über denselben, und wenn man die junge Gräfin Seraphine betrachtete, mußte man unwillkürlich an einen Engel denken, der nur zu flüchtigem Besuche auf die Erde herabgekommen war, jeden Augenblick aber wiederum seine Schwingen heben und nach der ewigen Heimat zurückfliegen würde.

An der Seite des jungen Mädchens saß ihre Kammerfrau, vielmehr die treue Wärterin ihrer Kindheit, die sie schon seit dem ersten Tage ihrer Geburt auf den Armen getragen und im Vereine mit der Mutter jeden Atemzug ihres zarten Daseins mit mütterlicher Sorgfalt belauscht und behütet hatte.

Auch jetzt in dieser Stunde schien sie alles um sich her zu vergessen in der Sorge um ihren Liebling Seraphine und dem Verlangen, sie baldigst nach Hause und zur Ruhe gebracht zu wissen.

»Phinchen, mein Herzenskind«, sprach die gute Kathrine, »ich sehe das Schloß schon ganz nahe, gleich sind wir am Ziele. Hast wohl recht schwer gelitten?«

»Nein, nein, es war nicht so schlimm,« gab das liebenswürdige Mädchen zurück, »ich fühle mich ganz erträglich.«

Wohl strafte die Blässe ihrer Wangen und das leise Zittern der Mundwinkel ihre Worte Lügen, die treue Kathrine war aber doch einigermaßen beruhigt.

Seraphine ließ indessen ihre großen Augen müde über die allmählich in Dämmerlicht sinkende Landschaft schweifen und versuchte nebenbei die ehrerbietigen, wenn schon etwas stürmischen Begrüßungen der Dorfbewohner freundlich lächelnd zu erwidern.

Manch mitleidiger Blick haftete auf ihrer hinfälligen Gestalt, und vielleicht dachte manch eine kräftige Frau im geheimen ihrer blühenden Kinder und maß ihr eigenes, großes Mutterherz mit dem der vornehmen Dame, die sicherlich gerne ihr halbes Vermögen hingegeben hätte, um damit ihrer einzigen Tochter die Gesundheit zu erkaufen.

Auch der Ortspfarrer hatte während der Begrüßungsrede des Bürgermeisters, die der Graf kurz und einfach erwiderte, Seraphine beobachtet. »Eine liebliche Knospe,« sagte er später zum Lehrer, »welk und gebrochen, noch ehe sie zur Entfaltung kommen wird. Schwere Tage warten hier der armen Eltern.« –


Endlich fuhren die Reisewagen am großen, blumengeschmückten Schloßportale vor. Die Familienbeamten sowohl, als die sämtlichen Bediensteten des Hauses standen hier versammelt, die erste feierliche Begrüßung zu bethätigen.

Im Saale des Erdgeschosses hatte man die Familientafel gedeckt, wozu der Graf die Namhaften des Ortes, sowie seine treubewährten Beamten und den Arzt geladen hatte. –

Seraphine nahm nicht daran teil. Sie wurde sogleich nach ihrem Zimmer gebracht, und der Arzt hatte für ihre Ruhe sowohl als jede nur denkbare Bequemlichkeit die umfassendsten Maßregeln getroffen, um die ermüdenden Folgen der Reise abzuschwächen und die gesunkenen Kräfte wieder zu beleben.


Der Invalide Klaus und seine alte Schwester gehörten zu den wenigen, die heute bei dem festlichen Einzuge ihrer Gutsherrschaft gefehlt hatten, weder die gichtgeschwollenen Füße Notburgas, noch das Stelzbein ihres Bruders wären imstande gewesen, langes Umherstehen zu ertragen.

Dagegen war Rita schon zeitig davongelaufen, denn sie meinte, ihre Anwesenheit wäre beim Empfang der Herrschaften absolut unerläßlich.

Sie kehrte jedoch keineswegs befriedigt nach Hause zurück; in ihrem lebhaften Gesichte drückte sich große Enttäuschung und eine gewisse Unzufriedenheit aus, die sie nicht verbergen konnte.

»Nun, Rita, da bist du ja wieder? Hast du alles gesehen? Und was war's?« frug Klaus nicht ohne sichtliche Teilnahme.

»Alles hab' ich gesehen, Großvater! Den Grafen, die Gräfin, die junge Komtesse Seraphine und die ganze Masse von Kammerkätzchen und Dienern, und Kutschern, und Pferden, und alles, was zu solch großen Hausrat gehört.

Die Wagen waren sehr schön, die Frau Gräfin trug ein schwarzseidenes Kleid, und ihre Pferde hatten weiße Federbüsche aufgesteckt – aber sie sind alle miteinander nicht froh – ich weiß das, ich hab's gesehen – so sehen glückliche Leute nicht aus.«

.

»Rita!« fiel die Großmutter Notburg plötzlich in's Wort und schlug beide Hände zusammen, »was unterfängst du dich, also zu reden?«

»Es ist aber wirklich so, Großmutter, der Graf sieht aus, als ob er drei Donnerwetter im Leib hätte, ich kann ihm nicht gut sein, weiß selbst nicht warum, wenn ich ihm aber an Willys Statt den Blumenstrauß hätte reichen müssen – ich hätte ihn vor seine Füße geworfen, vielleicht auch noch dazu die Zunge herausgeschlagen.«

»Unband du! schweig' doch!« zankte die alte Frau.

»Das kann ich,« gab Rita mürrisch zurück, »hab' nur gemeint, ihr wollt alles hören – ich hab's gesehen, – kann schon schweigen.« Und Rita setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Fensters nieder und nahm »Flunkerl«, ihre Mieze, auf den Schoß.

Frau Notburg war arg verdrossen, sie hätte doch gar zu gerne mehr gehört, und warf jetzt hie und da eine Frage hin, um das Mädchen wieder zum Sprechen aufzufordern. »Sei nicht störrisch, Rita,« sprach sie gutmütig, »und erzähle mir, wie sah denn die Frau Gräfin aus?«

»Die Frau Gräfin hat ihre Nase mitten im Gesicht, den Mund über die Quer und zu beiden Seiten ihre Augen und Ohren –«

»Du bist sehr unartig, Kind, so spricht man nicht mit der Großmutter,« sagte Klaus in seinem strengsten Tone. Darüber erschrak Rita; denn ihrem Großvater that sie alles zuliebe und hätte eher Schläge erduldet, als ihm wehe gethan.

»Sei nicht bös, Großväterchen,« schmeichelte sie und küßte ihm die wetterharte Wange – »es kommt halt immer so geschwind heraus, verzeih' mir's doch! Ich war nach dem Schlosse gegangen, um den grünen Schmuck zu sehen, dort hab' ich die Frau Inspektor gehört, die zu einer Bekannten äußerte, es sei wie ein wahrer Segen über der Familie, daß sämtliche Damen einander an Liebe und Güte überböten, und so sei auch das bei Gräfin Mechtild der Fall, eine bessere finde sich nicht wieder auf tausend Meilen in der Runde.«

»Ja, ja, sie muß eine seltene Herzensgüte besitzen,« wiederholte Frau Notburg; »und ihre Tochter?« –

»O Großmutter! die Tochter, nein, ist aber die blaß und armselig. Schuhflickers Betty, die an der Schwindsucht gestorben ist, hat nicht schlimmer ausgesehen, ich glaub sie kann gar nicht einmal gehen! Pfui, so schwache Leute kann ich schon gar nicht leiden!«

In Ritas Worten lag eine unsägliche Verachtung ausgedrückt, und dasselbe Gefühl spiegelte sich in ihren Zügen wieder.

»Du magst sie nicht leiden, Kind, weil sie krank und unglücklich ist, Rita?« sprach Klaus vorwurfsvoll, »ist das recht?«

Rita senkte den Blick. »Nicht weil sie krank und unglücklich ist, sondern weil sie Hilfe braucht,« gab sie kleinlaut entgegen.

»Dein alter Großvater braucht ebenfalls Hilfe, seitdem ihn die Russen zum Krüppel geschossen haben,« sprach er, »verachtest du ihn deswegen auch?«

»Aber Großvater!« rief Rita, und schlang beide Arme um den Alten »du böser, lieber du! Wie kannst du so reden? du und hilfebedürftig! Bin ich nicht stolz auf dich, wenn du so stramm und aufrecht mit mir nach der Sonntagskirche gehst, und erst wenn du die Buben exerzierst, kein General marschiert so kräftig an der Spitze seiner Armee wie du!«

Schmunzelnd strich sich der also geschmeichelte Mann den kräftigen Schnurrbart, im jugendlichen Feuer blitzten seine Augen, und nicht ohne Selbstzufriedenheit fuhr er fort: »Schon gut, schon gut Kleinchen, was meinst du denn aber mit der hilflosen jungen Gräfin?«

»Ich kann mir selbst helfen, und möchte es nicht leiden, wenn andere mir helfen müßten, ich ließe mich auch nicht so erbärmlich herumschleppen – denk nur, der Doktor hat das große Kind auf seinen Armen ins Schloß getragen, und der Graf ging nebenher und hielt ihre Hand – nein das war gar zu arg! Ich mag so schwache Menschen nicht.«

»Das ist sehr unrecht von dir, du ungeschicktes Mädel, was kann denn die arme Kleine für ihr Kranksein?«

»Ich bin aber am liebsten gesund und helfe mir selbst,« lachte Rita, und wie zur Bekräftigung ihrer Meinung stellte sie »Flunkerl« auf die Hinterbeine und hopste mit ihr in der Stube umher.

»Hilf Himmel, der Tollkopf!« rief Frau Notburg ganz entsetzt aus, während Klaus sich vor Lachen die Seiten hielt.

Endlich war's genug. Rita nahm ihren Platz am Tische ein und ließ sich das ihr vorgesetzte Schüsselchen Sauermilch und ein großes Stück Schwarzbrod köstlich schmecken; den Rest der frugalen Mahlzeit erhielt die Mieze. – Hierauf sagte sie den Großeltern gute Nacht, und lag, kaum auf ihrem Dachkämmerchen angekommen, sofort in tiefem Schlafe.

»Das Kind ist gar zu wild geworden,« bemerkte Notburga seufzend ihrem Bruder, »man nennt sie nicht mit Unrecht die Dorfhexe, und oft schon hab ich mich selber fragen müssen, warum ist sie denn so ganz anders geworden, als andere Kinder?«

»Sie war immer anders als alle,« antwortete Klaus, »aber sie hat Verstand und Herz am rechten Fleck, wenn's gilt.«

»Ich fürchte, wir haben eine recht schlechte Erziehung an ihr gemacht, Alterl,« erwiderte Notburga, »die Wildkatz ist uns auch gar zu rasch über den Kopf gewachsen.«

»Bei allem und allem ist sie doch ein armes verlassenes Waislein, das schon zweimal seine Eltern hat verlieren müssen, wir dürfen ihr deshalb unser Mitleid nicht versagen,« sprach der Invalide. Damit verließ er die Stube und suchte gleichfalls sein Nachtlager auf.


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