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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Weihnachten

»Behagt dir die Promenade, liebe Seraphine? soll ich langsamer oder schneller fahren?« frug Hermann, der sich ohne Groll und Widerwillen angeboten hatte, den Fahrstuhl seiner Cousine zu lenken. »Hier kannst du ruhig sein, dieses Pferdchen geht nicht wieder durch.«

Obschon er lächelte, klang dennoch eine gewisse Bitterkeit in seiner Stimme, und er vermochte absolut nicht über jene Erinnerung hinweg zu kommen.

»Der liebe Gott hat alles wohl gemacht, lieber Vetter. Auch daß er uns also in Gefahr geraten ließ, geschah auf seine Zulassung.«

»Warum läßt er denn aber oft solche Dinge zu, und entmutigt uns, und erfüllt uns mit Angst und Sorge?«

»Vielleicht, um uns ein bischen zu demütigen, Hermann. Wir vertrauen oft gar zu viel auf unsere eigene Kraft und Geschicklichkeit, und fühlen dann in solchen Momenten die ganze, völlige Unkenntnis und Hilflosigkeit unserer Natur.«

»Du magst recht haben, Seraphine, ich bin wirklich in dieser Lage gewesen.«

»Und nicht wahr, dein Herz war nachher recht sehr dankerfüllt, weil Gott geholfen und die schwere Gefahr vorbeigeführt hat?«

»Ja wohl, ich dankte heiß und innig.«

Rita schritt schweigsam zur Seite des Wagens und ließ ihren Blick im Parke umher schweifen. Die kahlen Bäume, die auf der Erde liegenden Blätter, die fahlen Farben, kein Blümlein auf der Wiese, kein Vogelsang – dies alles stimmte sie traurig, sie mußte an Tod und Sterben denken, und unwillkürlich griff es ihr mit jähem Schmerze in das Herz, wenn sie auch den Verfall Seraphinens beachtete, der so sichtlich wurde von Tag zu Tag, trotz aller ärztlichen Mühe, trotz aller Sorgfalt liebender Eltern! –

»Ich sehne mich nach dem Frühlinge,« sagte Rita, »sein Leben und Weben, sein Blühen und Werden in Wald und Feld, auf Berg und Thal, das ist mein Element, das freut mich, da könnt' ich jauchzen und singen, und springen und tanzen – aber den Herbst – hasse ich. –«

»O nein, nein, ich liebe den Herbst,« erwiderte Seraphine, »und seinen stillen Frieden, wie die Ruhe nach gethaner Pflicht. Ich habe mir schon oft gewünscht, einmal im Herbst zu sterben; da müßte es leicht sein, auch mit ausatmen zu können beim allgemeinen, großen Sterben der Natur. Die Vöglein schweigen, Bäume und Sträucher, Wiese und Flur haben ihren Schmuck abgelegt und alles hingegeben, Blüte und Frucht, Reiz und Schönheit zum großen, gemeinsamen Zwecke, den ihnen ihr Schöpfer anwies; sie legen sich dann schlafen, bis des Frühlings Stimme sie wiederum wachruft zum neuen, verjüngten Dasein – und auch ich werde in's Grab gelegt, um wieder aufzustehen in neuer, oder doch verklärter Gestalt, wenn mich der Schöpfer ruft, um das ewige Frühlingsfest im Himmel mitzufeiern.«

»Aber liebe Cousine, was sprichst du da für traurige Dinge aus,« sagte Hermann betroffen über die tiefe Innigkeit dieser jungen Mädchenseele, »wie unglücklich wäre Tante Mechtild, so etwas aus deinem Munde zu hören.«

»Sie soll es auch nicht; ich schone der armen, lieben Mutter, so gut ich's vermag, ganz werde ich ihr den Schmerz aber doch nicht sparen können – dann wird Gott ihr helfen, und – Rita!« –

Diese schluchzte still vor sich hin, sie machte sich jetzt Vorwürfe, daß sie ein so schmerzvolles Gespräch angeregt hatte, und war davon schwer ergriffen. Ging Seraphine wirklich ihrem Ende entgegen? War es die Ahnung dieses Schicksals, das sich in ihren Worten kundgab? Sie bot nun gewaltsam alles auf, um wieder eine heitere Unterhaltung anzuregen, anfangs wollte es schwer gelingen, endlich aber brachte sie's doch zu stande, und Hermann erzählte allerlei lose Streiche aus der Kadettenschule, aus seiner Knabenzeit, und brachte zuletzt beide Mädchen zum frohen Lachen. »Hätte ich auch in der Uniform gesteckt, wie Sie, Herr Baron,« meinte Rita, »ich hätte Sie ganz gewiß niemals im Stiche gelassen, sondern alles mitgemacht.«

»Wenn ich aber gestraft worden wäre?«

»Hätte ich mich mitstrafen lassen.«

»Und mich niemals verklagt?«

»Pfui um den Verräter! Nie, nie hätte ich das gethan!«

»Du bist ein ganzer Charakter, Dorfhexchen!« lachte er.

»O bitte, Baron Hermann, nicht mehr so. Ich möchte das nicht wieder hören!«

»Schämst du dich deiner harmlosen Schelmerei?«

»Nein, aber – ich habe die Dorfhexe begraben an dem Tage, wo ich mit Seraphine zum Altare hintrat, zum Tische des Herrn, alles muß endlich seinen Abschluß finden, auch meine Unart. Mein Übermut läßt mich ohnehin nicht los, und wird mir noch manchen Streich spielen, aber dennoch thu' ich mein möglichstes, auch endlich einmal zu werden wie die übrigen.«

»Du bist ein Unikum, Ritchen,« scherzte die junge Gräfin, »und von dir gilt, wie von keiner sonst das Wort: » Nicht wie alle andern


Woche um Woche war hingezogen, die rauhe Witterung machte Seraphine abermals zur Gefangenen, und nur an ganz besonders schönen sonnigen Tagen durfte man eine kurze Fahrt im Parke wagen; nun aber war Rita das Zugpferdchen geworden, denn Vetter Hermann und seine Mutter waren wieder nach der Stadt gezogen, und hatten das Schloß in stiller Einsamkeit zurückgelassen. Der Graf wurde von Tag zu Tag schweigsamer, er beobachtete blutenden Herzens sein Kind, und mußte sich zugestehen, wie so auffällig schwächer und schwächer Seraphine wurde; er besorgte die Geschäfte der Verwaltung, sprach das nötigste mit seinen Beamten und ritt oft hinaus in seine Waldungen oder legte weite einsame Wege zurück, von denen er erst mit sinkender Nacht wiederkehrte.

Seraphine lebte unter der sorglichsten Pflege ihrer Mutter, still und zufrieden mit Gott und mit sich selbst; mit wahrhaft großer Seelenstärke hielt Gräfin Mechtild sich aufrecht zwischen dem Gatten und der leidenden Tochter. Jedem wollte sie nach Möglichkeit alles sein, wie die wahrhaft edle Seele nur in Hingebung und Opfer ihre Befriedigung findet, und dabei sich ganz vergißt.

Der freundliche Sonnenstrahl in dieser ernsten Monotonie war Rita, die nun täglich auf dem Schlosse war, und für die junge Komtesse geradezu unentbehrlich schien.

Nachdem Seraphine wieder soweit erholt war, daß man sich der Sorge um sie für die allernächste Zeit entschlagen, und wieder daran denken durfte, ihren Unterricht aufzunehmen, hatten einmal Graf und Gräfin eine lange, eingehende Unterredung mitsammen gehabt, deren Resultat war, daß die Schloßherrin eines Tages beim Häuschen des alten Klaus vorfuhr, und mit ihm zu sprechen verlangte.

Nach kurzer Einleitung steuerte sie schnurgerade auf ihr Ziel los: »Ihre Enkelin« begann sie »hat unserem Kinde das Leben gerettet, und wir wissen nicht, auf welche Weise wir sie hierfür belohnen können. Rita ist nicht arm, und deshalb auf äußerliche Unterstützung nicht angewiesen, außerdem würde bei ihr gar nie die Rede sein können, daß sie irgend etwas entbehren müßte, allzeit sind wir bereit für sie zu sorgen, die uns unser Liebstes erhalten hat. Ich dächte aber, das Beste, was wir dem lieben Mädchen für ihr späteres Leben mitzugeben vermöchten, wäre doch wohl eine gute Ausbildung und Erziehung. Wir kamen daher überein, Ihnen anzubieten, daß Rita künftighin alle Unterrichtsstunden mit Seraphine bei den betreffenden Lehrern nehmen dürfe. Sind Sie damit einverstanden? Auch die liebe Großmutter muß ihre Zustimmung geben.« –

Hochvergnügt über solchen Antrag gab der alte Invalide seine Einwilligung, Notburga aber zögerte noch ein wenig.

»Ich möchte nicht unbedingt ja sagen,« sprach sie mit schüchterner Höflichkeit, »obgleich ich dem Kinde meiner lieben Tochter das Allerbeste gönne, wüßte ich sie doch nicht gerne über ihre Stellung verwöhnt und verzogen. Ich habe selbst schon oft bedauert, daß Rita bei aller Lebendigkeit und Rührigkeit niemals die bestimmte Vorliebe für den Haushalt und die in's Landleben einschlägigen Arbeiten zeigte, aber was sollte sie anfangen mit der Bildung und dem Wissen eines vornehmen Fräuleins? Sie könnte ja doch beides niemals verwerten, und würde vielleicht wie früher durch ihre Wildheit, so jetzt durch ihre Gelehrsamkeit auffällig und mißliebig werden.«

»Glauben Sie, gute Frau, daß feine Bildung unangenehm macht?«

»O nein, durchaus nicht, gnädigste Gräfin, aber ich denke nur – Rita möchte keinen eigentlichen Vorteil aus Ihren gütigen Anerbieten ziehen.«

»Ich bitte dich aber liebe Notburga,« fiel der Invalide seiner Schwester da in's Wort »du kennst ja doch die große Vorliebe des Kindes für alles, was lernen heißt. Wenn ihr nun die gnädigen Herrschaften alles das lernen lassen, was sie will, so wird sie ja gewiß nicht schwer davon tragen, und wer weiß, ob es ihr für ihre Zukunft nicht doch nützen kann?«

»Gut, mein lieber Klaus,« lobte die Gräfin, da sie sich vom Großvater unterstützt sah, »wir haben aber gemeint, es wäre gleich am allerbesten, wenn Rita ganz und gar zu uns auf das Schloß kommen dürfte. Was sagen Sie dazu? Unsere Tochter will sie kaum mehr vermissen, sie zählt die Stunden, bis sie zu ihr kommt, mir und meinen Mann gilt sie wie unser eigen Kind, denn wir können nie vergessen, was sie für uns gethan, und daß sie ihr Leben für Seraphine gewagt hat; daß die Dienerschaft sie mit dem gehörigen Respekte behandelt, lassen Sie meine Sorge sein, also – schlagen Sie ein, lassen Sie Rita auf das Schloß ziehen, und mit uns wohnen, Sie sollen sie täglich sehen, und ihren freundlichen Umgang keineswegs ganz entbehren!«

Sie schwieg und harrte, welchen Eindruck ihre Bitte gemacht hatte. Notburga aber saß bleich ihr gegenüber, Thräne um Thräne lief die faltigen Wangen herunter, die Hände lagen krampfhaft verschlungen in ihrem Schoße, offenbar erwartete sie bangen Herzens die Entscheidung ihres Bruders.

Dieser räusperte sich erst einigemale, als sei ihm etwas Rauhes im Halse stecken geblieben, dann aber erwiderte er ruhig und bestimmt: »Wir können für so viele Liebe und Gnade nicht genug danken, gnädigste Frau Gräfin! und bin ich mir auch vollkommen bewußt, welch' große Wohlthat Sie unserer Enkelin durch Ihre Einladung auf das Schloß erweisen wollen; ich kann sie aber nicht annehmen. Wir haben vor etwa sechs Jahren die kleine Rita von der verstorbenen Tochter meiner Schwester hier zugeschickt bekommen, und die gute, brave Seele, hat, obschon sie die Beschwerden des Alters zu fühlen begann, und sich recht gut bewußt war, wie sehr ein so lebhaftes, munteres kleines Ding, wie unsere Rita, unser bisher stilles und friedliches Leben beunruhigen und ändern würde, von ganzem Herzen zugesagt, und das Kind behalten. Mit Mühe und Opfern zogen wir sie groß, sie hängt zärtlich an uns, und ist eigentlich in unserem schlichten und eintönigen Leben unser Sonnenschein, unsere liebe, kleine, frohe Gesellschafterin. Ich glaube, die Notburga überstände es nicht, wenn man ihr das Kind nähme, und ich« – jetzt brach seine Stimme, er fuhr mit der Hand über die Augen, als ob ihn etwas blende – »verzeihen Frau Gräfin – aber ich kann die Rita auch nicht herlassen – sie ist halt doch unsere einzige Freude, und so lange uns unser Herrgott noch das Leben schenkt.« – – Er konnte nicht weiter reden, die Rührung drohte ihn zu übermannen; Notburga sah mit großer Erleichterung nach ihm hin, und ihr ehrliches Gesicht zeigte einen schelmischen Ausdruck, als wollte sie sagen: »Gelt, Alter, es geht dir jetzt auch nicht besser, als den Weibsleuten. Das Kind ist uns beiden allzufest in's Herz gewachsen.«

Die Gräfin aber mit ihrem feinen Takte konnte vollkommen mitfühlen, was in dem greisen Geschwisterpaare vorging. Sie hatten ihnen eine Wohlthat erweisen, aber keinen Schmerz verursachen wollen, und war völlig entschlossen, alles beim alten zu lassen.

»Nun so gebt uns Rita zur Gespielin und Teilhaberin an den Lehrstunden meiner Tochter,« sprach sie freundlich, und ohne jede Empfindlichkeit, »im übrigen gehört sie euch nach wie vor. Ich würde mir selbst einen Vorwurf machen, wollte ich Euch um das Köstlichste betrügen, was es auf Erden giebt, um den Schatz kindlicher Liebe und Zärtlichkeit. Lebt wohl, zürnt nicht ob meines Vorschlages, und schickt uns die liebe Kleine recht bald, damit auch unser Töchterchen vergnügt sei.« – Dann verabschiedete sie sich herzlich und fuhr nach Hause zurück.


Und nun begannen die schönsten, herrlichsten Tage in Ritas jungem Leben. »Lernen, lernen, alles lernen!« hatte sie damals bei ihrer ersten Begegnung mit dem Grafen gesagt; als sie über den Straßengraben gesprungen und von ihm gefragt worden war, ob sie gerne zur Schule gehe.

Jetzt durfte sie lernen so viel und was sie wollte, durfte schöpfen an dem überschäumenden Borne des Wissens nach Herzenslust, durfte täglich Neues in sich aufnehmen, und aus dem Munde der tüchtigsten Lehrer Schönes und Nützliches erkennen und verwerten, und das alles an Seraphinens Seite!

Wirklich hatte das zarte Lebensflämmchen noch einmal frisch aufgeflackert, wirklich hatte sie nochmals den schweren Sturm überwunden, und war so herzlich froh um die liebe, aufrichtige Freundin, die sie in dem einfachen Dorfkinde gefunden!

Rita war in der That ein vom Schöpfer reichbegabtes Wesen. In kurzer Zeit schon hatte sie Seraphine nicht nur eingeholt, sondern thatsächlich überflügelt, und weder die verschiedenen Arten des Unterrichts, noch die Vielseitigkeit der Lehrgegenstände boten ihr Schwierigkeiten; Seraphine, das gute, liebenswürdige Kind aber sah neidlos auf die, die ihr so sichtlich vorauseilte, sie freute sich des hellen Kopfes, der raschen Auffassung und war ordentlich stolz auf sie.


So zogen die kurzen Wochen des Novembers hinüber; Seraphine hatte sich schon längere Zeit mit dem Gedanken getragen, das diesjährige Weihnachtsfest besonders hübsch zu feiern; »wer weiß,« hatte sie leise zu Rita gesagt, »ob ich noch ein zweites Weihnachten auf Hohenfeldt erlebe, und ich möchte so gerne hier ein gutes Gedächtnis hinterlassen. Kannst du erraten, was ich möchte?«

»Ich weiß nur, das du wieder einmal eine recht böse kleine Schwarzseherin bist,« hatte Rita gezankt, »die sich wieder allerhand dummes Zeug einbildet, und andere ehrliche Leute damit erschreckt.«

»Kindsköpfchen,« lachte die Komtesse, und gab der Freundin einen leichten Klaps auf die Schulter, »nun nimm deine fünf Sinne zusammen und höre, was ich meine: Du sollst mir helfen, die braven Kinder im Orte ausfindig zu machen, die keine Eltern mehr haben, oder denen zu Weihnacht nicht beschert wird; die Armen erhalten den Vorzug; sie sollen auch nicht älter sein als 12 Jahre. Deine guten Großeltern können dir gewiß beistehen, auch stelle ich meine gute Katherine und den alten Franz zur Verfügung; sie wissen vielleicht am besten zu beurteilen, wo etwas fehlt und was zumeist begehrenswert scheint.«

»Ei, ich dächte, wir hätten da vor allem unsern lieben Herrn Pfarrer zu fragen, der kennt das ganze Dorf und auch die Verhältnisse der Leute.«

»Klug, wie immer. Gut denn, wir legen eine Liste an, dann gehen wir sie durch, und die lieben Eltern müssen ihre Erlaubnis geben zu dieser Christbescherung.

Ich verzichte gerne auf alle meine Geschenke, ich habe alles, was ich nur immer brauchen kann in Überfluß, und kann aus einem einzigen von den kostbaren Dingen, die ich gewöhnlich zu bekommen pflege, eine Menge kleiner Geschenke für arme Kinder anfertigen.«

Noch am nämlichen Tage wurde die Gräfin von diesem heißen Wunsche ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt. Wie immer, dankte sie auch diesmal im stillen dem lieben Gott für den Segen, solche Tochter ihr eigen nennen zu dürfen. »Unsere Seraphine,« sprach sie zu Graf Emanuel, »ist ein wirklicher Engel, der allenthalben Segen verbreitet.« –

»Sie ist dein Kind, meine Mechtild,« gab der Graf entgegen.

Über diesen Lobspruch des Gatten errötete die Gräfin lieblich, gleich einer jungfräulichen Braut, schüttelte jedoch das Haupt: »Sprich nicht so, Manuel, Seraphine steht an Opfer und Selbstlosigkeit weit über mir. Bedenke doch nur ihre Jugend, und die Reife ihrer Gedanken. Du willst ihr doch die Weihnachtsfeier hier im Schlosse erlauben?«

»Natürlich, meine Theuere; es ist ein so schönes Verlangen, das hier unser Kind an uns stellt, daß es sündhaft wäre, es ihr zu verweigern; überdies ist sie die einstige Erbin all' unserer Reichtümer und Besitzungen – du weißt – ich rede nicht gerne hiervon – mir graut davor, und oft meine ich, ich müßte die reine Hand unseres Kindes gewaltsam ferne halten von jeder Berührung des eklen Geldes, damit sie nicht befleckt werde.« – Er schwieg; sein Antlitz erblaßte, seine Stirne wurde feucht, mühsam suchte er die Schwäche zu überwinden, die ihn sichtlich befiel.

»Manuel! Mein armer, lieber Mann! Wirst du mich denn nie mit deinem Vertrauen beglücken? Muß ich dir immer ferne bleiben in diesem einzigen Punkte, in diesem Geheimnisse, das sich so unheimlich zwischen dich und mich drängt?« –

Er drückte sie leidenschaftlich an seine Brust, und bedeckte ihr Mund, Stirne und Wangen mit heißen Küssen: »Gutes, armes Weib! Du leidest, und doch leide ich noch ungleich mehr!« –

»So helf' uns Gott, du Ärmster!« sprach Frau Mechtild, und wankte wie gebrochen aus dem Gemache.

Abends betrat der Graf das Zimmer seiner Tochter. Sie lag in ihrem bequemen Stuhle zurückgelehnt, gleich einer Lilie, deren weiße Blätter das Abendrot mit zartem Hauche verschönert, und schien dem Vortrage Ritas zu lauschen, die auf einem Schemel zu ihren Füßen saß, beim Eintritte des Grafen aber sofort aufsprang, denn sie hatte ganz gewaltigen Respekt vor dem ernsten, finstern Herrn, der so wenig sprach, und niemals lachte. Er verkehrte äußerst selten mit den Damen des Schlosses, und hatte deshalb auch von der neuen Freundin seiner Tochter nur weniges gesehen. Daß seine Gemahlin den Umgang der beiden Mädchen billigte, genügte ihm; nach jener unseligen Wagenfahrt aber, die durch den Mut Ritas so glücklich abgelaufen war, hatte er selbstverständlich zu jeder Belohnung und Entschädigung des tapfern Mädchens bereitwilligst seine Zustimmung gegeben. Im übrigen ging er an Rita vorüber, wenn er ihr im Parke oder im Schlosse begegnete, und hatte sich bald daran gewöhnt, sie oft, fast täglich zu sehen. Und hier saß sie nun wieder, das schöne blühende Kind, an der Seite seiner zarten hinwelkenden Tochter. Wie damals bei der ersten Begegnung auf der Landstraße, fiel ihm auch heute wieder ihre eigenartige Schönheit und der merkwürdige Blick ihrer Augen auf. Was berührte ihn nur an diesem schlichten Kinde so sonderbar?

.

»Du kommst wie gerufen Papa,« lächelte Seraphine und hielt ihm die Hand entgegen, »wir bedürfen deiner Hilfe.«

»So, meiner Hilfe, und womit kann ich denn dienen?«

Wenn er mit seiner Tochter redete, gab er sich immer besonders Mühe recht sanft und freundlich zu sein.

»Rita soll dir's sagen,« scherzte Seraphine, »denn sie ist meine Sekretärin und in dieser Angelegenheit einzig kompetent.«

»Nun Rita, was beliebt?«

»Ach Herr Graf, wir brauchen Geld, aber viel Geld, denn wir haben nichts anderes im Sinn, als hier im Schlosse einen Christbaum für die armen Kinder anzuzünden.«

»Geld, und immer wieder Geld!« wiederholte der Graf, »hältst du etwas auf Geld, mein Kind?«

»O natürlich, Herr Graf! Ich habe mir immer gewünscht, reich zu sein, und recht viel Geld zu haben. Was könnte man da nicht Gutes thun, und wie vielen Leuten eine Freude machen! O, wäre ich doch nur reich!«

Der Graf seufzte; »ja, mein Kind, das ist eine der Glanzseiten des Geldes und des Reichtums, willst du aber auch einmal seine Schattenseiten kennen lernen? Das Leid und Weh, die Vorwürfe und Gewissensbisse, die das Geld verursacht? O diese Qualen sind furchtbar, und zehnfach schwerer, als der Segen des Geldes.«

Heftig erschrocken vernahm Seraphine diesen Ausruf ihres Vaters. Diese schmerzliche Klage kam aus tiefster Seele. Stand sie hier endlich vor jenem Geheimnisse, für das sie litt und betete seit Jahren schon? – Wie entsetzlich! – Aber sie wollte diese Stimmung nicht aufkommen lassen, sondern mühte sich, herzlich und heiter zu bitten: »Lieber, guter Papa, wir brauchen aber wirklich Geld.«

»Nun gut, so nehmt, was ihr bedürft.«

»Das wage ich nicht.«

»Nun Fräulein Sekretärin, wie viele Menschenkinderlein sollen denn eigentlich beschenkt werden? Genügt für jeden Kopf 10 Gulden?«

»O Herr Graf, das ist ja viel zu viel!« rief Rita vor freudigen Erschrecken starr.

»So soll Seraphine bestimmen.«

Diese küßte seine Hand: »Ich danke dir, lieber Papa für deinen so guten Willen, uns zu helfen. Ich denke, es wird am besten sein, dich erst dann mit unseren Ausgaben bekannt zu machen, wenn sie geschehen sind.«

Nun ging es lustig über die Vorbereitungen. Der Herr Pfarrer hatte bereitwilligst eine Namenliste verfertigt, worauf die gutgesitteten Kinder sowohl als auch die armen Waislein und alle jene standen, die den Besuch des lieben Christkindleins nicht erwarten durften.

Auch Bertha, d. h. deren kleine Schwester Lischen war da verzeichnet.

»Ich habe gemeint, Bertha verdiene sich als Näherin und auch als Leichenfrau der Kinder und Jungfrauen ziemlich viel?« frug Seraphine.

Rita hatte ihr oftmals schon von den zwei Schwestern erzählt, was sie selbst wußte, oder auch vom Anstreicher Franz gehört hatte, denn dieser kam fleißig zu seiner freundlichen Nachbarin und schüttete ihr sein kummervolles Herz aus.

»Also gut, Lischen soll kommen,« bestimmte Seraphine, »wir könnten aber auch Bertha jetzt schon eine Wohlthat erweisen, wenn wir ihr die Kleider und Wäsche zum Nähen geben wollten, deren wir zum Verteilen bei der Bescherung bedürfen.«

»O das ist gut, das ist ja prächtig,« jubelte Rita.

Noch am nämlichen Abende lief sie zu Berthas Wohnung und klopfte in ihrer Freude etwas ungestüm an. Bertha saß noch über ein weißes Kleidchen gebückt an ihrem Nähtische und arbeitete, Lischen hatte ihre Tafel recht nahe zu der Lampe hingeschoben und machte eine Rechnung, die gar nicht leicht in ihr Köpfchen hineinspazieren wollte, jenes Klopfen aber ließ die Kleine vom Stuhle herab nach der Thüre springen; dieselbe war jedoch bereits aufgegangen und auf der Schwelle stand – »Die Dorfhexe, Bertha!« halb erschrocken, halb erstaunt hatte Lischen es ausgerufen, gedachte aber alsbald der Mahnung ihrer Schwester, die sie geheißen hatte, freundlich gegen Rita zu sein, ohne mit ihr zu verkehren, und blieb verlegen stehen, das Fingerlein im Munde und von der Seite nach Rita schielend, um zu schauen, ob sie wohl ernstlich böse auf sie wäre.

Diese aber ergriff ohne jede sichtbare Empfindlichkeit die Hand der Kleinen und sagte: »Hat mich denn meine liebe Kranzflechterin vom Kirchhofe schon wieder ganz vergessen?«

»O nein,« beteuerte das Kind mit aufrichtigem Ernste, »ich habe dich ganz gewiß nicht vergessen und recht lieb gehabt, aber dann hat Bertha gesagt, ich soll nichts mit dir machen. –«

Jetzt war die Verlegenheit auf Bertha übergegangen, die dem fast erwachsenen Mädchen gegenüber, das heute allem andern, nur keiner Hexe ähnlich war, eine Entschuldigung zu stammeln versuchte.

Rita ging jedoch über all' diese kleinen Verstimmungen klug hinweg, reichte Bertha die Hand und sagte: »Ich denke das letzte Jahr hat mich doch wohl ein bischen besser gemacht?« und dann zu Lischen gewendet, frug sie: »Kommt denn auch das liebe Christkind zu dir?«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie, »aber ich bete jeden Tag, daß es komme und mir nur ein ganz kleines Bäumchen bringe mit einigen Äpfeln daran und Nüssen, denn die sind so viel, viel besser, als alle, die auf der Erde wachsen, es sind ja Himmelsnüsse und die Englein schütteln sie selbst von den Bäumen, nicht wahr, Bertha?«

»Nun wohl, wenn Lischen recht brav ist, und mich auch ein wenig lieb haben und nicht mehr die häßliche Dorfhexe nennen will, sondern »Rita,« dann darf ich sie einladen, am heiligen Weihnachtsabende im Schloße zu erscheinen, denn unsere junge, gnädige Gräfin hat das liebe Christkind dorthin gebeten, und will im großen Saale allen eingeladenen Kindern bescheren. Was sagst du jetzt?«

Das Kind war vor Entzücken sprachlos, aber auch Bertha sah hochbeglückt aus, um des geliebten Schwesterchens willen, deren Entbehrungen ihr wehe thaten, während jede ihr erwiesene Freude sie gleichfalls mit Wonne erfüllte.

»Nun habe ich noch für Sie einen Auftrag,« sagte Rita, und bestellte bei dem fleißigen Mädchen eine Menge Arbeit in weißer und bunter Näherei, »ich habe Sie den Damen empfohlen, und dürfen Sie sich das Material gleich morgen früh im Schlosse holen.«

O wie war Bertha so froh und vergnügt! Zugleich aber beschämt: »Ihr, die mir jetzt reichen Verdienst verschafft, mir so unverhofft eine bange Zukunftssorge abnimmt, und auch mein Schwesterlein beglückt,« dachte sie bei sich selbst, »ihr habe ich so bitter Unrecht gethan durch meine Feindseligkeit und mein häßliches Vorurteil! Wie kann ich es je wieder gut machen?«

In ihrer großen Dankbarkeit vergaß sie sogar, daß Rita vor einem Jahre noch auch wirklich eine andere gewesen, und eher verdient hätte, gemieden, als geliebt oder nachgeahmt zu werden. – Nun dankte sie warm und innig, versprach pünktlich zu erscheinen und geleitete den späten Gast artig zur Hausthüre. Auch Lischen hatte die Änderung im Benehmen ihrer Schwester mit Freuden beobachtet und war recht froh, daß sie nun unbeanstandet dem Zuge ihrer Liebe folgen und Rita so gern haben durfte, als sie nur konnte.


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