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Achtes Kapitel.
Eine Begegnung

Vom ersten Tage an, da die Gutsherrschaft wieder auf Hohenfeldt eingezogen war und von dem alten Familienschlosse Besitz ergriffen hatte, war man ihr seitens der Dorfbewohner mit größter Liebe und Ehrerbietung entgegengekommen und hatte allenthalben die aufrichtigste Zuneigung gegen sie bekundet. – So lange Herz und Gemüt noch nicht ausgeartet sind, stoßen wir nur selten auf eine neidische oder gehässige Empfindung des Armen gegenüber dem wohlhabenden Mitbruder. Im Gegenteile flößt der Besitz des einen dem andern eine gewisse Hochachtung ein und er sieht in dem vom Geschicke Begünstigten seinen natürlichen Arbeit- und Brotgeber, seinen Helfer und Wohlthäter in schlimmer Zeit.

Es ist dies gewiß auch das einzig richtige Verhältnis zwischen Gutsherrn und Gutsangehörigen, schön und zutraulich, freimütig und unterwürfig.

Die Einwohner von Hohenfeldt nahmen lebhaften Anteil an allen Vorgängen im Schlosse und freuten sich über jeden Gruß, über jedes freundliche Wort, das ihnen zukam.

Gräfin Mechtilde war schon nach kurzer Zeit gar wohl bekannt bei alt und jung. Sie ließ sich von dem greisen Pfarrherrn die Armen und Kranken des Ortes bezeichnen und verordnete, daß sie aus der Schloßküche mit Speise und Trank versorgt würden. In mancher Hütte, wo ein armer Leidender lag, der besonderer Pflege bedurfte, trat sie ein wie ein guter Engel, und wenn irgendwo Wunden gereinigt oder verbunden werden mußten, legte sie mutig selbst mit Hand an, und war überall zu Trost und Hilfe bereit. –

Wie es wahr ist, daß niemand richtig befehlen kann, der nicht zuerst richtig gehorchen gelernt hat, ebenso ist es wahr, daß der am besten zu trösten versteht, der selbst schon gelitten hat.

Und das war bei der edlen Dame der Fall. Schon frühzeitig war sie in die ernste Leidensschule eingeführt worden, und aller Reichtum, alle Herrlichkeit, die sie umgaben, vermochte nicht ihr Herz zu erleichtern, das so schwer, so tiefwund in ihr lag. Die Gemütsart ihres Mannes erheischte eine ebenso kluge als geduldige Behandlung, denn der Graf war heftig und es ließ sich schwer mit ihm verkehren. Das gräfliche Paar hatte bereits zwei Knäblein im zartesten Alter, und erst vor etlichen Jahren den letzten heißgeliebten Sohn durch den Tod verloren, dieses Ereignis hinterließ im Herzen beider Eltern eine unheilbar schmerzende Wunde.

Seraphine, die ihnen erst längere Jahre nach diesem Sohne Arthur geschenkt worden war, war ein zartes, kränkliches Wesen, dessen Leben an einem schwachen Faden zu hängen und gleich einer brennenden Kerze sich selbst zu verzehren schien. Wenn sie ihren Vater mit den sanften ernsten Augen fast überirdisch anblickte, trat ihm der Verlust des kräftigen blühenden Knaben doppelt schmerzlich vor die Seele, dann wieder machte er sich Vorwürfe, daß er die arme blasse Kleine nicht so heiß zu lieben vermochte, wie ihren Bruder Arthur, und doch fühlte er, daß seine Zärtlichkeit für sie weit mehr einem gewissen Mitleide, als einer wirklichen Zuneigung entsprang.

Auch hievon litt Gräfin Mechtilde schwer, obgleich sich ihre Liebe gegen die Tochter ganz anders äußerte, als die ihres Gatten. Mit der echten Zartheit weiblichen Gefühles suchte sie gerade dort mit vermehrter Liebe auszugleichen, wo traurige Verhältnisse obwalteten, und dem jungen Herzen jene Zuneigung entging, die sein eigentlichstes Recht gewesen wäre. Sie trug alle Sorgfalt auf Seraphine über, die ihr noch geblieben war, nachdem ihr Gott die Söhne genommen hatte und gerade der Umstand, daß das arme Kind leidend war, wurde ihr zum Antriebe, alle Aufmerksamkeit für sie zu verdoppeln.

Graf Emanuel aber war, seitdem er seinen Bruder, die Mutter und später den letzten geliebten Sohn ins Grab gelegt hatte, meist schweigsam und in sich gekehrt geblieben. Nicht die ihn umgebende Schönheit der Natur, nicht sein blühender Besitz, noch auch die Hingebung seiner Gattin oder die kindliche Zärtlichkeit Seraphinens vermochten ihn dem düsteren Hinbrüten zu entreißen, in das er zuweilen verfiel. Dann war es fast, als drücke eine schwere Last auf sein Gemüt, oder als packe ihn mit einem Male Furcht und Grauen vor der Zukunft. Er vermied dann auffällig jeglichen Verkehr mit Seinesgleichen, ritt gerne die einsamsten Wege, oder ging früh morgens auf die Jagd, von wo er erst spät wieder zurückkehrte.

Für die Leute im Dorfe hatte er übrigens stets ein freundliches Wort und einen herzlichen Gruß bereit, und nur wenige, die ihn hier mit dem alten Wegmacher, oder mit dem Schnitter auf dem Felde plaudern, oder den Kindern, die ihm ein Knixchen machten und sonstwie ihre Ehrerbietung bezeigten, zunicken sahen, ahnten, welch' ernste Überwindung es ihm kostete, sich zu all' dieser Freundlichkeit zu zwingen. Er hatte es aber nicht vergessen, wie sein Bruder Rudolf geliebt war in ganz Hohenfeldt, wie man ihn und seine Gattin ordentlich vergöttert hatte, und wie noch jedermann von dem schweren Schicksale zu erzählen wußte, das so urplötzlich über die edle Familie hereingebrochen war. Schon als Knabe war er eifersüchtig auf jede seinem Bruder zugewendete Verehrung, und dieser einstige Ehrgeiz des Kindes hatte sich in dem reifen Manne nicht vermindert; im Gegenteile hätte er den Gedanken nicht ertragen, sich von seinen Gutsuntergebenen weniger geliebt zu wissen, als Rudolf es gewesen.

Nun war ihm schon öfters bei seinen einsamen Spaziergängen ein Mädchen aufgefallen, das etwa im Alter Seraphinens, von den übrigen Dorfkindern gar merkwürdig abstach, nicht so fast durch die Schönheit seines Gesichtes, sondern vielmehr durch den Ausdruck desselben, besonders durch die Anmut seiner Bewegungen. Heute hatte es der Graf beobachtet, als es munter einen ziemlich breiten Graben übersetzte, der die Wiese von der Landstraße trennte, und bei jedem neu gelungenen Sprunge mit lauter Stimme zählte: »Sieben, acht, neun« u. s. f., als wäre es hocherfreut, daß ihm das Kunststück nun schon so oft gelungen war. Die Wangen der kleinen Springerin glühten mit großen braunen Augen um die Wette, auf den zerzausten Locken lag ein selbstgeflochtener Kranz von großen weißen Gänseblumen und rotem Mohn. Die kleine ländliche Schönheit ahnte jedoch keinesfalls, welch einen reizenden Effekt sie mit diesem Naturschmuck erzielte. Erstaunt war Graf Emanuel eine Weile stehen geblieben, um dem heiteren Spiele zuzusehen, dann trat er näher an das Kind heran und frug es: »Wer bist du, meine Liebe, und wem gehörst du?«

.

»Dem Großvater Klaus und der Großmutter Notburga.«

»Wer ist dieser Großvater Klaus?«

»Der alte Soldat mit dem hölzernen Bein und dem glänzenden Thaler am Rocke; mein Großvater ist in Rußland gewesen, beim Krieg mit den Russen und Franzosen, gleich bei der Brücke draußen steht unser Haus.«

»Wie heißest du?«

»Rita.«

»Gehst du gerne zur Schule?«

»Nein;« die Antwort wurde kurz und störrisch gegeben.

»Hast du denn keine Lust, etwas zu lernen?«

»O lernen, lernen!« wiederholte das Kind in lebhafter Freude, »ich möchte alles lernen, was es giebt, Tiere und Pflanzen und Blumen und Steine möcht' ich lernen und schöne Geschichten möcht' ich lesen, und immer wieder lernen, wenn ich nur nicht in die Schule gehen müßte.«

»Also die Schule ist dir verhaßt?«

Sie nickte heftig mit dem Kopfe.

»Und weshalb denn?«

»Weil – weil die Kinder dort so bös sind –«

»Was thun sie dir denn zu leide?«

»Sie spotten mich, sie lügen mir Dinge nach, die ich gar nicht gethan habe, deshalb spiel' ich auch am liebsten ganz allein oder mit meiner Mieze.«

»Macht es dir denn keine Freude, dich mit andern Kindern zu unterhalten?«

»Nein, nicht die geringste! Ich frag' nichts nach den andern, nicht so viel!« und sie schnippte mit den Fingern und schlug die Zunge so weit heraus, als sie vermochte. Nur mühsam unterdrückte der Graf ein Lächeln, denn die Urwüchsigkeit des Kindes gefiel ihm, und er wollte soeben nochmals eine Frage an Rita richten, als zwei schmutzige Jungen die Landstraße dahergelaufen kamen, mit den Fingern nach Rita deuteten und dazu aus vollem Halse schrieen: »Dorfhexe, Dorfhexe!«

Die also Geschmähte war zuerst leichenblaß geworden, aber schon im nächsten Momente wich diese Blässe einer Röte, die sich über Wangen und Stirne bis hinauf an die Haarwurzeln verbreitete und auch Hals und Nacken dunkel färbte.

Sie litt offenbar in diesem Augenblicke schwer unter dem Spotte, den ihr jene müßigen Bengel in's Gesicht schleuderten, und vielleicht zum ersten Male überkam sie ein Gefühl der Scham, aber auch der lebhaftesten Entrüstung über die soeben erfahrene Beleidigung.

»O, ihr Buben!« keuchte sie, indes ihr zarter Körper bebte, die kleine Hand sich leidenschaftlich zur Faust ballte und weißer Schaum vor ihre Lippen trat, »wartet nur, wartet nur, ich werde mich rächen!«

Lautes Hohnlachen war die Antwort auf ihre Drohung. Der Schloßherr aber legte besänftigend die Hand auf Ritas zuckenden Arm, er hatte Mitleid mit der Verhöhnten und wunderte sich über das stark ausgeprägte Ehrgefühl des Mädchens. Ehe er aber noch einige gütige Worte an Rita richten konnte, war diese wie ein scheues Reh vor ihm geflohen und hielt auch auf seinen Ruf umzukehren und zu ihm zurückzukommen nicht stand.

Erst nachdem sie schon weit von ihm entfernt war, wandelte sich ihr Laufschritt in einen gemäßigteren Gang, der mehr und mehr verlangsamte, je näher sie den Häusern des Ortes kam. Auch der Graf hatte kopfschüttelnd den Heimweg angetreten. Die Begegnung mit Rita hatte ihn mehr aufgeregt, als er sich selbst zugestehen mochte. Was ging ihn denn das kleine, dunkeläugige Kind an, diese Dorfhexe, wie sie genannt wurde, mit all ihren Ungezogenheiten und Widerwärtigkeiten, die es nicht einmal der Mühe wert fand, ihm Lebewohl zu sagen, nachdem er doch so freundlich mit ihr gesprochen hatte? –

Und dennoch! Sprühte nicht ein seltsames Feuer aus diesen Augen, Geist und Gemüt zugleich verratend? Vielleicht lag in dieser rauhen Schale ein süßer Kern verborgen, vielleicht bedurfte diese ungebändigte und unentwickelte Natur nur eines einzigen Zauberwortes, um den Bann zu lösen und die schönste Frucht zu Tage zu fördern? –

Wenn er neben diesem lebendigen Mädchen, so geschmeidig, so urkräftig in jeder Bewegung, an seine kranke Seraphine dachte, so fiel der Vergleich sehr zum Nachteile dieser letzteren aus, und Graf Emanuel konnte einen schmerzlichen Seufzer nicht unterdrücken. Wie ungleich teilt doch oftmals die Natur ihre Schätze aus und versagt hier, während sie dort mit vollen Händen spendet.

Im Schlosse angekommen, sah er den Wagen des Arztes vor dem Portale hin- und herfahren. Jähes Erschrecken stieg ihm heiß an's Herz. »Wer ist erkrankt?« frug er den Diener, der herbeigeeilt kam, ihm den Rock abzunehmen.

»Die junge Komtesse, zu Befehl, gräfliche Gnaden.« –

Schon im nächsten Augenblicke stand Graf Emanuel im Zimmer der jungen Patientin. Diese lag noch mit geschlossenen Augen, wie von heftigen Schmerzen erschöpft, an die Rückwand eines Krankenstuhls gelehnt, die blonden Haare von der Stirne zurückfallend, so daß man das blaue Geäder durch die alabasterweiße Haut schimmern sah; der Arzt hielt ihre zarte Hand in der seinigen und prüfte den Puls, nicht ohne von Zeit zu Zeit die Gesichtszüge der Leidenden aufmerksam zu beobachten. Die Mutter und die treue Kathrine waren indessen emsig bemüht, jede Erleichterung zu gewähren und eine Erquickung vorzubereiten, wenn die Leidende wieder erwachen und vielleicht darnach verlangen sollte. – Als die Thüre geöffnet und Graf Emanuel eingetreten war, ging ihm seine Gemahlin grüßend entgegen, sie war noch bleich und hatte gerötete Augen, doch aber schien sie ruhig und gefaßt: »Es ist nichts, um dich zu ängstigen, Manuel,« sagte sie sanft, »nur einer ihrer Krämpfe, wie Seraphine sie schon mehrmals gehabt hat.«

»Ich finde aber, daß sie jetzt viel öfters kommen, als früher,« sprach der Graf zum Arzte gewendet, und dieser entgegnete in leisem Flüstertöne: »Das ist leider nicht in Abrede zu stellen, die Anfälle nehmen ihren Ausgang vom kranken Rückenmarke, für heute ist übrigens nicht das Mindeste mehr zu fürchten, sobald mit dem Aufhören des Schmerzes die Ohnmacht eintritt, dann wird die liebe Komtesse einige Stunden schlafen und alles ist gut.«

»Wie kam es nur heute?« erkundigte sich der geängstigte Vater.

»Seraphine wollte im Parke ein bischen auf- und abgehen; wir glaubten ihr diesen Wunsch erfüllen zu dürfen und führten sie, Kathrine und ich, zwischen den schattigen Bouquets beim Wasserfalle einigemale hin und wider. Es mochte doch vielleicht zu viel gewesen sein, denn gleich nachher, als sie wieder im Fahrstuhle saß, trat das Übel auf.«

Wieder drängte sich vor das geistige Auge Graf Emanuels das Bild eines blühenden Kindes, und er glaubte die fröhliche Stimme zu hören, wie sie singend über den Graben sprang und im Singen zählte: »siebenmal, achtmal –,« warum denn mußte er jetzt abermals an Rita denken? –

Eine Bewegung des Arztes verriet, daß Seraphine erwacht sei. Schwach lächelnd schaute sie um sich, dann versuchte sie die Hand der Gräfin an ihre Lippen zu ziehen: »Süße Mutter, du bist bei mir? Hab' ich dich sehr arg erschreckt? Und du, Kathrine, treues, liebes Herz! Auch der Doktor? Ich mache Ihnen allen so viel Mühe!« –

»Daran denken Sie nicht, liebes Kind,« sprach der Arzt – er war ein wohlerfahrener, älterer Herr, der Gerichtsarzt der Stadt N., unweit Hohenfeldt, der auf Graf Emanuels Ersuchen, jede Woche etliche Male, nach dem Schlosse gefahren kam, nach Seraphine zu sehen, wenn nichts Ungewohntes passiert war. Er hatte sich in der kurzen Zeit seiner Praxis rasch an die Herrschaft gewöhnt und besonders die kleine Patientin überaus lieb gewonnen. Wenn er auch vom Anfange an jede Hoffnung, sie wieder gesund zu sehen, aufgeben mußte, so hatte er sich doch fest vorgenommen, sein Bestes aufzubieten, um den Zustand des lieben Kindes erträglich zu machen und ihre Schmerzen zu erleichtern, wie immer er konnte.

Jetzt trat Graf Emanuel, der bisher hinter dem Stuhle seiner Tochter gestanden und auf diese Weise sich ihr verborgen gehalten hatte, näher, beugte sich über sie und sagte milde: »Mein armes, liebes Kind!« Tiefer, aufrichtiger Schmerz klang aus diesen Worten, und sein dunkles Auge schimmerte feucht, als er das liebliche, zerbrechliche Wesen erblickte, sein einziges Kind, in diesem elenden Zustande! Zärtlich streichelte Seraphine des Vaters Hand, legte ihre Wange darauf und schaute unsäglich glücklich zu dem hohen Manne auf. Es geschah selten, daß er so weich und teilnahmsvoll mit ihr verfuhr, viel öfter wich er aus, oder versuchte das Leid wegzuscherzen – darum war sie heute doppelt dankbar für seine Güte.

»Wie ihr alle so gut seid für mich!« sagte sie mit leiser Stimme. »Ihr macht allzuviel Aufhebens mit mir, und überbietet euch an Aufmerksamkeit. Ich bin so vieler Sorge gar nicht wert – aber sie thut mir wohl, so unaussprechlich wohl, daß ich's nicht sagen kann. In solchen Momenten möchte ich nicht mit dem glücklichsten Kinde der Welt tauschen.« –

Der Vater hatte auf so viele demütige Liebe keine Erwiderung, die Mutter aber schloß ihrem Töchterchen den Mund mit einem Kusse, und bald war der Schrecken der letzten Stunde überwunden. Der Arzt verordnete baldige Nachtruhe und empfahl sich. Graf Emanuel aber verhielt sich heute beim Abendtische auffallend ruhig und schweigsam. Oft streifte sein Blick Mutter und Kind, und dann war's, als ob ein Schatten an ihm vorüberzöge; nach Beendigung des Mahles bot er den Seinen gute Nacht, verließ den Speisesaal und suchte sein eigenes Schlafzimmer auf.


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