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Einundzwanzigstes Kapitel.
Der schönste Tag des Lebens

Niemand möchte es für möglich gehalten haben, daß sich Rita, die kleine Halbwilde so schnell und gut auf dem Schlosse einpassen würde. Schon gleich am ersten Tage, da sie an der Seite ihrer Großmutter vor den gräflichen Herrschaften erschien, war sie so wenig scheu und schüchtern, doch aber so natürlich bescheiden und anständig gewesen, daß sie das Herz der Gräfin Mutter sofort für sich gewann. Diese konnte sich's nicht verhehlen, seitdem sie jenes Versprechen gegeben und Seraphinen den Umgang mit dem fremden Kinde nicht nur gestattet, sondern sogar selbst angebahnt hatte, beschlich sie hie und da ein banges Gefühl, ob Rita wohl dem Vertrauen, das man in sie setzte, auch wirklich entsprechen und als Gefährtin ihrer Tochter so sein würde, wie man hoffte und wünschte. Es war ihr doch leider ein gar schlimmer Ruf vorausgegangen, und würde sich jede richtige Mutter besonnen haben, sie zum Umgange für die eigenen Kinder auszuwählen. War's deshalb nicht verwegen gewesen, den ganzen Bau des Vorurteils niederzureißen und mit einem einzigen kühnen Entschlusse alle schreienden und keifenden Klatschmäuler zum Schweigen zu bringen? Dennoch war's gelungen.

Der liebe Gott segnet gar oft solches Unternehmen mit dem herrlichsten Erfolge und führt Wandlungen der Seele herbei, die an's Unglaubliche grenzen, deren einzige Wurzel aber lediglich jene tiefe, selbstlose Liebe ist, welche vergessen und verzeihen kann, und immer nur das Beste denkt und glaubt.

Solch eine Liebe hatte Gräfin Mechtild, und deshalb bangte ihr auch nicht dauernd vor der Zukunft.

Frau Notburga hatte sich zu ihrem Besuche auf dem Schlosse jene bewußte Staatshaube mit den feuerroten Atlasbändern wieder zurecht gemacht, obschon ihr Bruder meinte, eine ehrsame Wittib sollte eigentlich derlei lautschreiendes Zeugs nicht an sich tragen, und im Grunde genommen, konnte sie ihm nicht Unrecht geben, aber erstens war Frau Notburga viel zu ökonomisch, um sich etwas Neues anzuschaffen, dann knüpfte sich an die Haube auch noch eine weitere, teure Erinnerung: ihr Seliger hatte sie nämlich in derselben ganz besonders gerne gesehen und ihr wiederholt sein Kompliment gemacht, wie hübsch sie ihr zu Gesicht stände, das machte sie ebenfalls kostbar. –

Sie knixte über die Maßen höflich und wurde nicht fertig, immer und immer wieder die Gnade der hohen Dame zu rühmen, die ihrer Enkelin eine so herrliche Gelegenheit zum richtigen Religionsunterrichte gäbe.

»O wie so glücklich wäre Ritas arme Mutter!« rief sie ein über das andere Mal aus und wischte sich dabei die hervorstürzenden Thränen ab, »könnte sie jetzt ihren Liebling sehen, von solcher Pracht und Schönheit umgeben! Als Mitschülerin unserer gnädigen Komtesse!«

»Liebe Frau, lassen Sie das alles beruhen,« bat die Gräfin Hohenfeldt, »ich möchte nicht, daß den beiden Kindern der Unterschied ihrer gesellschaftlichen Stellung klar gemacht werde. Sie sollen einfach und unbefangen ihrer Pflicht obliegen, sich recht fleißig vorbereiten für den schönsten Augenblick ihres Lebens, und hierin haben beide dieselbe Aufgabe und das gleiche Ziel!«

»Ich hoffe, Euer Gnaden, meine Enkelin werde sich so vieler Güte würdig zeigen und uns keine Schande machen.«

»Gott wird unserer lieben Rita helfen.« –


Eine halbe Stunde später kam der Pfarrer zum Religionsunterrichte. Er fand in beiden Kindern aufmerksame, ernste Zuhörerinnen, die durch nichts abgelenkt und zerstreut, jedem seiner Worte mit großem Interesse folgten und bereit schienen, das Saatkorn, das er in die junge Seele legte, tief einzusenken in wohlbereitetes Erdreich.

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Nach der Stunde durfte Rita noch ein bischen bei Seraphinen verweilen. Diese zeigte ihr die einfach schöne Einrichtung ihrer beiden Zimmer, besonders auch ihren Hausaltar, und mit hohem Entzücken bemerkte dort Rita zu Füßen einer kleinen Statue von Biscuitmasse ein vertrocknetes Kränzchen aus Moos, Epheu und Vogelbeeren, das letzte, was sie damals heimlich auf die Bank im Parke niedergelegt hatte, ehe das langdauernde Regenwetter eingetreten war. Sie verriet jedoch mit keiner Miene, daß sie Kenntnis von dieser kleinen Blumenspende hatte, wie sie denn überhaupt ein so richtiges Benehmen an Tag legte, daß man staunen mußte.

Die Macht der großen, gewaltigen Liebe zu Seraphine und ihrer Mutter, die sie erfüllte, beherrschte auch ihr ganzes Sein und Wesen und ließen sie in Gegenwart dieser beiden alles richtig und recht thun. Niemand hätte in dem sittsamen Mädchen die wilde Hummel gesucht, vor der man sich bekreuzt hatte.

»Kennst du dieses Kränzchen hier?« frug da die junge Gräfin plötzlich; und errötend senkte Rita den Kopf. In diesem Falle war ihr Schweigen auch eine Antwort.

»So bist doch du es gewesen, die mir alle Tage hindurch diese Freude gemacht hat? Ich habe also richtig geraten? Aber sage, warum thatest du es?«

»Weil – weil Sie die Einzige waren, die noch glaubte, es könnte etwas Gutes in mir sein!«

»Hast du das gehört?«

»Ja, und ich war so glücklich darüber!«

»Weshalb bist du aber oft so böse und mutwillig gegen die Menschen?«

»Weil ich sie hasse!«

»Hassen? Kann man denn hassen, wenn man betet?« frug Seraphine verwundert, »ich kann mir nicht denken, wie man mich beleidigen müßte, wenn ich es nicht verzeihen sollte. Denke doch, liebe Rita, was wir heute in der Stunde gehabt haben; der, der sich uns geben will zur Speise, starb den Tod am Kreuze. Für andere sterben und noch für sie beten – ist das nicht die wunderbarste Liebe?« –

»Ich könnte das nicht,« sagte Rita offen.

»Weil wir arme Menschen sind und schwach in unserm Können und Wollen. Aber mit der Gnade Gottes bringen wir's doch endlich fertig.«

»Sie wohl, ich nicht.«

»Nenne mich ›du‹, Rita. Mir ist oft, als hätte ich dich längst schon gekannt, das kommt, weil du so aufrichtig bist und ohne Falsch.«

Die Mädchen kamen jetzt auch zum Vogelkäfig und mit großer Lebendigkeit begrüßte Rita das Tierchen, das ihr eigentlich den Weg hieher gebahnt hatte.

»O du!« lachte sie und drohte ihm mit der Faust, »du hast mich arg zerzaust, bis ich dich erwischt habe. – Wie heißt er denn? Ich konnte dich nicht verstehen, als du ihn gelockt hast.«

»›Darling‹, das heißt mein Liebling, mein Herzblatt.« –

»Hast du ihn so sehr lieb?«

»O ja, recht von Herzen. Er ist auch sehr anhänglich an mich. Aber nicht wahr, er hat dich gebissen? Wo denn?«

Rita wies auf die Narbe, sie war noch gerötet, weil kaum geheilt und von beträchtlicher Länge.

»That es sehr weh?«

»Ja, besonders anfangs, doch nein – weil ich es für dich aushielt.« Und heiße Zärtlichkeit glühte in Ritas Auge, als sie nach Seraphine blickte.

»Du gutes Herz!« sprach diese und küßte die neue Mitschülerin auf die Wange, »verstehst du jetzt, was es heißt, für jemanden leiden und sterben aus Liebe, wie wir es heute gehört haben?«

»Ja, nun versteh' ich's besser. Für dich könnte ich sterben!«

»La, la, das ist zuviel der Güte, das wollen wir einander gar nicht zumuten, aber nicht wahr, heute hat der schöne, wichtige Unterricht begonnen, den wollen wir uns recht zu nutze machen und genau darnach thun und handeln. Der Pfarrer sowohl, als auch unsere lieben Eltern müssen recht viel Freude an uns erleben, nicht wahr?«

»O ja, gewiß, ich versprech' es dir.«

»O dann ist's gut, ich glaube was du sagst, und weiß, du hältst, was du versprichst.«

Eine Abschiedsumarmung besiegelte diesen ersten Besuch der Dorfhexe auf Schloß Hohenfeldt.

Diesem folgte nun eine Reihe schöner, glücklicher Tage.

Der alte Pfarrherr war überaus fromm und dabei so sehr von der Wahrheit seiner Lehre überzeugt und durchdrungen, daß er notwendig auch seine Schülerinnen begeisterte und für sich und seine Katechese einnahm. Er sagte wiederholt die Worte eines weisen, gläubigen Mannes: »Das ist keine Wissenschaft, die den Glauben töten will und kein echter Glaube, der die Wissenschaft fürchten muß« – er redete den Kindern so warm, so innig überzeugend in die Seele, daß diese sich täglich weiter und lieblicher entfaltete, wie die Rose ihren Kelch der Sonne öffnet, um ihre leuchtenden, wärmenden Strahlen eindringen zu lassen. Mit jedem Tage wuchs auch ihr Verständnis für die geheimnisvolle Gnade, die sie nun bald, recht bald schon erlangen würden, täglich die Liebe zu ihrem Heilande, täglich die Sehnsucht, ihn aufzunehmen in seliger Umarmung in ihren jungen, unschuldigen Herzen.

Für Rita erschloß sich damit eine neue Welt. In der Schule hatte sie bisher am Kommunionunterrichte noch nicht teilnehmen dürfen, jetzt hörte sie täglich Neues und Schönes, jetzt erst sah sie ein, wie viel sie gefehlt hatte, wie weit sie entfernt war, für ein gutes, braves Kind zu gelten. Oft vergoß sie bittere Reuethränen.

Der Gräfin und den Religionslehrer entzückte diese feurige Auffassung des bisher so unartigen Mädchens, sie zeigte aufrichtige Reue, sie war fest gewillt, eine Andere, eine Bessere zu werden. Aber sie fühlte auch, wie schwer es ist, gute Vorsätze zu verwirklichen; oft überkam sie der alte Trotz, die alte Bosheit, die Lust, sich zu rächen, jemand zu ärgern, zu schädigen – dann aber zeigte sich Seraphinens Macht über das Gemüt Ritas. Sie vermochte alles über sie, sie konnte sie zu allem bringen, für sie verzichtete sie auf das Liebste, that für sie das Schwerste, ertrug für sie alles.

»Thu' das Rita, ich bitte dich, thu' es Gott zu lieb,« hatte die junge Gräfin einmal zu ihr gesprochen und Rita darauf erwidert:

»Dir zu liebe ja, aber sonst thät' ich's nicht, nicht um alles!«

»Hast du denn Gott nicht lieber, als mich?«

Rita besann sich eine Weile und sprach dann: »Nein, zuerst dich, über alles dich – so lieb wie dich, niemanden.«

»Das ist Unrecht, Rita, Gott muß unser Erstes und Größtes sein, und wenn du mich lieber hättest als Ihn, wäre das sündhaft.«

»Ich habe dich aber nun einmal gar so lieb, ach so lieb!« alles zitterte an dem niedlichen Geschöpfe bei dieser Beteuerung.

Seraphine wurde ganz traurig darüber. Endlich sagte sie: »Wenn mich aber der liebe Gott sterben läßt, mußt du mich Ihm auch lassen. Ich komme dann zu Ihm in den Himmel. Ich werde dann ewig selig sein bei Ihm. Willst du mich dann auch nicht Ihm schenken? Würdest du gegen Ihn hadern und gegen Seinen Willen?«

»O Seraphine, so etwas mußt du nicht fragen, ich kann das nie und nimmer fertig denken, dich verlieren, dich sterben sehen und nicht wider Gott murren, nicht mit Ihm zanken, wenn Er so etwas thäte!« –

»Meine liebe Mutter hat ihre drei Söhne in's Grab gelegt, sie weint heute noch um sie, aber sie murrt nicht wider Gott; sie glaubt, daß Er nur unser Bestes will und sagt deshalb fromm ergeben: ›Herr, Dein Wille geschehe.‹ Und das mußt du auch einmal thun, und Gott muß dann dein Trost sein, wenn du mich nimmer hast, versprichst du mir das? willst du?«

Oft redete Seraphine so zu Rita, aber solchen Dingen schien sie noch nicht gewachsen, sie weinte bitterlich und schwieg, überzeugt war sie noch nicht.

Die Gräfin Mechtild ließ die weißen Kleider für ihre beiden Erstkommunikanten herrichten. Sie hatte für Seraphine matte weiße Seide gewählt, Rita sollte ein neues, einfaches Mullkleid bekommen. Aber Seraphine mochte keine Ausnahme von den übrigen machen. Sie wußte, daß der Stoff ihres Kleides eine große Summe kosten würde, und hatte einen Vorschlag zu machen. Wenn die lieben Eltern ihr erlauben würden, wie Rita ein einfaches Mullkleid zu tragen und das erübrigte Geld dazu zu verwenden, eine arme Familie an ihrem Festtage zu beschenken, so würde sie überglücklich und dankbar sein.

Und gerührt hatten der Graf und seine Gemahlin eingewilligt. Schon etliche Tage vorher war die Schloßkapelle, die für diese feierliche Gelegenheit nicht nur den Schulkindern, sondern auch den Eltern und Angehörigen, und überhaupt jedermann offen stehen würde, von außen und innen mit grünen Kränzen reich behangen, zahllose Wachslichter standen auf großen, silbernen Leuchtern am Altar, der überdies mit den herrlichsten Blumen und Ziergewächsen aus dem gräflichen Schloßgarten geschmückt war. Ein wolkenloser, sonniger Himmel stimmte zu dem lieblichen Feste, und kein Herz blieb ungerührt, als die Schuljugend unter feierlichem Geläute aller Glocken vom Schulhause her, den Schloßberg heraufschritt, in langem, wohlgeordnetem Zuge, ein Kind mit der Fahne des göttlichen Kinderfreundes voran; ihm nach je zwei und zwei die weißgekleideten Mädchen, die Knaben in ihren Sonntagskleidern, alle weiße Kerzen in den Händen; auch Rita sollte auf Wunsch des Pfarrers mit der Schule in die Schloßkirche einziehen. Sie hatte sich auch nicht von der letzten allgemeinen Prüfung ausgeschlossen, die in der Schule stattfand und entscheiden sollte, wer an der heiligen Kommunion sich beteiligen dürfe oder nicht, und hatte sie zum Erstaunen ihrer Mitschüler glänzend bestanden.

In der Kapelle erwartete Seraphine in Mitte ihrer Eltern die jugendliche Beterschar. Sie selbst kniete auf einem mit rotem Sammt überzogenen Betschemel und hatte mit Rücksicht auf ihren leidenden Zustand auch noch einen Stuhl mit Lehne zur Verfügung in nächster Nähe.

Sie trug, wie sie es gewünscht hatte, ein einfaches, weißes Kleid, ohne jede Verzierung und Ausschmückung, ein duftiger Schleier aus zartem, sehr durchsichtigem Gewebe umhüllte ihre feine Gestalt wie eine Nebelwolke, und ein Kranz von weißen Rosen lag auf Stirne und Scheitel dieses lieblichen Mädchens, das auf der Schwelle der Jungfrau stehend, mit ihrem sanften, vergeistigten Gesichtchen mehr einem Engel, als einem irdischen Wesen glich.

Als sie nun mit dem Beginne der Feierlichkeit bei den Klängen der Orgel niederkniete und der Schein der brennenden Kerze zuweilen auf ihrem Gesichte spielte, als sie die Augen und Hände betend himmelwärts hob, und der Erde völlig entrückt, einzig in ihren Heiland versunken schien, bot sie das lieblichstfromme Bild, das man sich denken mochte, und tief bewegt betrachteten beide Eltern und mit ihnen vielleicht noch viele andere Beter diese zarte Knospe, die den rauhen Stürmen dieser Erde nicht gewachsen war und vielleicht schon bald in den ewigen Himmelsgarten versetzt werden würde.

Diese Sehnsucht leuchtete aus ihren schönen, großen Augen, diese Sehnsucht brannte in zwei dunkelroten Flecken auf den sonst so bleichen Wangen und wenn Seraphine sich ganz hätte hingehen lassen, wie ihre augenblickliche Stimmung es mit sich gebracht, dann hätte sie heiß verlangend beide Arme ausgebreitet nach den Tabernakel und laut ausgerufen: »O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehest unter mein Dach, aber komm, komm, segne mich, daß meine Seele gesunde, daß sie genese von allen Sünden, allem Elende des Lebens!«

Der Pfarrherr hatte eine innige, warme Ansprache gehalten und überall sah man feuchte Augen, alle Zuhörer waren ergriffen, auch Klaus und Notburga sahen heute mit seltner Rührung nach dem Lieblinge, der so andächtig betend vor ihnen kniete und gewiß das Beste gethan hatte, den hohen, göttlichen Gast recht würdig aufzunehmen in das junge Herz.

Sie hatte schon in der Beichte und auch heute nochmals alles abgebeten, womit sie gefehlt, und einen neuen Lebenswandel versprochen.

Als die schöne, gewiß für alle unvergeßliche Handlung beendet war, sangen die Kinder noch ein herrliches Loblied zur Ehre Gottes und kehrten mit ihren Angehörigen nach Hause zurück.

Seraphine hatte von ihrer Mutter ein wunderschönes, silbernes Kreuz, Reliquien enthaltend, zum Andenken an die heutige heilige Feier bekommen, Rita aber erhielt ein Gebetbuch mit eingeschriebenem Datum des Tages ihrer ersten heiligen Kommunion.


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