Friedrich Gerstäcker
Alle jagen John Mulligan
Friedrich Gerstäcker

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An demselben Abend erreichten sie die Station eines alten Bekannten von Rodwell, den dieser wenigstens auf seinen verschiedenen Fahrten durch die Insel schon manchmal besucht hatte. Hier war Gentleman John mit der Frau, die der Stationsbesitzer für Gentleman Johns Frau gehalten hatte, über Nacht geblieben und mit dem frühesten gegen den Mount Torrens aufgebrochen. Das Kind hatte viel die Nacht geschrien, und die Dame vom Haus behauptete, die arme Frau habe viel geweint, weil sie sich wahrscheinlich um das Kind gegrämt.

Rodwell, obgleich er sein Geheimnis nicht verriet, war in furchtbarer Aufregung, und Tolmer beiseite nehmend, bestand er darauf, hier keine Rast zu machen, sondern an demselben Abend trotz einbrechender Dunkelheit noch weiterzureisen. Die Straße bis zum Torrens-Berg, an dessen Fuß eine andere Station lag, war recht gut, der Mond stand ebenfalls am Himmel, und sie konnten dadurch, ohne ihren Pferden zuviel zuzumuten, einen weiteren Vorsprung gewinnen. Tolmer war natürlich damit einverstanden, und nach einem rasch eingenommenen Mahl brachen die beiden Reiter, zum großen Erstaunen ihres Wirtes, wieder auf.

Zwei Stunden scharfen Rittes brachten sie in Sicht des nächsten Hauses, dessen Licht ihnen schon von weitem durch die hier ziemlich dünn stehenden Büsche entgegenschimmerte – wenigstens konnten sie im Freien einen hellen Feuerschein erkennen. Näher gekommen, entdeckten sie aber bald, daß der Schein nicht aus einem Gebäude kam, sondern von einer Fackel herrührte, um die unter einigen Gumbäumen drei oder vier Männer geschart standen.

Tolmer zügelte zunächst nur sein Pferd, denn möglich war es ja doch, daß sie, anstatt die Station zu erreichen, gar einem Trupp von Buschrangern in die Hände fielen. Kap Borda war von hier gar nicht mehr so weit entfernt, und Gentleman John war viel zu umsichtig, seine Leute nicht gerade dort, sondern weit eher in der Nähe versteckt zu halten. Das Geläut lagernder Herden aber in der Nähe und das Gebell von Hunden verriet doch auch wieder einen von weißen Ansiedlern bewohnten Platz, und deutlich konnten sie jetzt zwischen den um die Fackel versammelten Männern auch einen etwa zwölfjährigen Knaben erkennen. Das waren keine Buschranger.

Nach ein paar flüchtig miteinander gewechselten Worten sprengten sie weiter, nachdem auch einige Opossums suchende Hunde Wind von ihnen bekommen hatten und laut bellend gegen sie ansprangen. Wenige Minuten später hielten sie neben der kleinen, von dem flackernden Lichte der Fackel grell beleuchteten Gruppe, die neugierig zu dem späten Besuch aufschauten.

»Guten Abend, ihr Herren«, sagte da Tolmer, sich an den ältesten der Leute wendend, »könnt ihr uns Nachtquartier für heute und vielleicht einen Hut voll Hafer für unsere Pferde geben? Sie haben einen langen Tagesmarsch gemacht und bedürfen der Stärkung.«

»Jawohl, Fremder – gern«, lautete die gastliche Antwort. »Steigt nur ab und nehmt eure Pferde am Zügel, denn von hier bis zum Haus stehen eine Menge kurz abgehauener Baumstümpfe.«

»Was habt Ihr da gemacht?« fragte Rodwell, der kein Auge von der Gruppe gewandt hatte, mit heiserer, angstbeklommener Stimme. – »Ihr habt –«

»Ein Grab gegraben für ein armes Kind!« sagte der alte Mann mit ernstem, wehmütigem Ton.

»Euer Kind?« fragte Rodwell, und das Licht der Fackel begann vor seinen Augen zu tanzen und wilde, wirre Kreise zu ziehen.

»Meines? – Nein, Gott sei gedankt, daß er mir bis jetzt solchen Schmerz erspart hat. – Es war das Kind einer armen Frau, die es tot auf ihrem Arm zu unserem Haus trug, es wenigstens in der Nähe von Christen begraben zu lassen.«

Rodwell glitt aus seinem Sattel, ließ den Zügel seines Pferdes frei und taumelte mehr als er ging dem frischen, kleinen Grabe zu, über das die freundliche Hand der Fremden eben erst den niederen Hügel gewölbt.

»Eine fremde Frau?« rief Tolmer rasch und erschrocken, während sein mitleidiger Blick den armen Vater streifte.

»Sie kam mit ihrem Mann und einem Träger von Osten her«, erwiderte der alte Mann. »Ihre Pferde waren ihnen im Busch abhanden gekommen, wie sie sagten, und der Mann wollte die Frau nur nach Kap Borda bringen und dann zurückkehren, sie zu suchen.«

»Sein Name war –?«

»Lieber Gott, wir fragen die Leute, die zu uns kommen, nicht nach ihrem Namen: Aber ich dächte, ich hätte den Mann schon vor einigen Wochen einmal am Kap Borda gesehen. Ich glaube, sie nannten ihn dort Howitt!«

Rodwell hörte nichts mehr – vor den Augen flimmerte es ihm, seine Knie zitterten, und er brach zusammen, und mit dem Schmerzensschrei: »Mein Kind – mein armes, armes Kind!« sank er schluchzend am Grabe nieder. – Die Männer waren erstaunte Zeugen dieses ganz unerwarteten Ausbruchs wilden, verzweifelten Schmerzes. Sein Kind, das fremde Leute hier begraben hatten? – Dann der späte Ritt in dunkler Nacht – das sonderbare Benehmen jener Frau – dazu daß hier nicht alles war, wie es sein sollte, unterlag wohl keinem Zweifel. Die Bewohner Australiens sind jedoch an solche außergewöhnlichen Familienszenen zu sehr gewöhnt, als daß sie noch einer jeden nachforschen würden. Selbst das Geheimnisvolle der Abstammung von mehr als drei Viertel der damaligen Einwohner trug viel dazu bei, ein verschlossenes Wesen bei vielen zu entschuldigen und vor unbequemen Fragen zu bewahren. Schweigend blickten deshalb die Männer auf den Unglücklichen nieder, der das Grab seines Kindes mit seinen Tränen netzte. Tolmer dagegen, der sein Pferd am Zügel genommen hatte, faßte des Alten Arm und ließ sich von diesem, während er mit ihm langsam dem Hause zuschritt, die ihnen vorausgeeilten Fremden näher bezeichnen.

Bald blieb ihm auch nicht der geringste Zweifel mehr, daß es wirklich jener sogenannte Kapitän Howitt mit der unglückseligen, verblendeten Frau seines armen Reisegefährten gewesen war. Der Mann war, des Alten Aussage nach, sehr geeilt und hatte die Station gleich wieder verlassen wollen, sobald nur das arme kleine Ding, das ihnen am Wege gestorben, eben unter die Erde gebracht worden war. Die Frau aber hatte sich geweigert, ihm so rasch zu folgen, und er hatte sie wohl nicht allein zurücklassen mögen; denn er war mit ihr bis fast gegen Abend hier geblieben.

Was dem Kinde gefehlt haben konnte, wußte niemand. Wie es ihnen vorgekommen war, hatte die Frau dem Mann, ehe sie fortgingen, Vorwürfe gemacht, er aber nur finster darauf geantwortet. Dann waren sie in dem Dickicht, das die Station umschloß, verschwunden.

Tolmer trachtete danach, das Gespräch auf verstreut im Busch wohnende Leute zu bringen. Er suche, wie er vorgab, Arbeiter und habe gehofft, die hier in der Gegend zu finden. Indessen hatten sich aber noch einige der anderen Männer, Schäfer und Hüttenwächter von der Station, ihnen angeschlossen, und der Alte gab ihm nur ausweichende Antworten auf alle seine dahinzielenden Fragen.

Nur mit vieler Mühe konnte Rodwell bewogen werden, das Grab seines Kindes zu verlassen und die Nacht in der Hütte zu verbringen. Nahrung nahm er gar keine zu sich, und am nächsten Morgen war er schon wieder mit Tagesanbruch an dem teuren Platz.

Auch Tolmer rüstete sich zu frühem Aufbruch; Rodwell weigerte sich aber, weiter mit ihm zu gehen.

»Jenny«, sagte er resignierend, »hat mir den Frieden meiner Heimat zerstört – hat mir mein Kind gemordet, das die Beschwerden dieser Flucht nicht ertragen konnte. Sie hat sich dadurch von mir losgesagt. – Was sie an mir getan hat, vergeb ich ihr ja gern, aber daß sie unser – daß sie ihr eigen Kind so wenig lieben konnte – das – das mag ihr Gott vergeben – ich bin nur ein schwacher, sündhafter Mensch – ich kann es nicht.«

Als ihn Tolmer fragte, was er jetzt zu tun gedenke, erklärte er ihm, daß er die Leiche seines Kindes ausgraben und damit nach Hause zurückkehren wolle. Alle Vorstellungen, die ihm Tolmer deshalb machte, blieben umsonst. Er beharrte fest auf seinem Vorsatz, bat aber Tolmer, das Pferd, das er von Point Marsden mitgenommen hatte, so lange zu benutzen, wie er wolle, und es ihm später zurückzuschicken.

Tolmer dagegen, jetzt allein auf die Verfolgung angewiesen, bis er sich wieder mit seinen Leuten vereinigen konnte, beschloß, seinen Weg zu Fuß fortzusetzen. Die Entfernung bis Kap Borda war überdies nicht mehr so groß, während das ganze Benehmen des alten Siedlers fast vermuten ließ, daß er in der Tat hier eine keineswegs willkommene, sondern gefürchtete Nachbarschaft habe.

Tolmer nahm von Rodwell herzlichen Abschied und versprach ihm, von dem Erfolg seines Unternehmens Nachricht zu geben. Nun erst, als er sich nach dem nächsten Weg nach Kap Borda erkundigte, den, wie er meinte, auch jener Kapitän Howitt eingeschlagen hatte, erbot sich der alte Siedler, ihn eine kleine Strecke zu begleiten und ihm einen Pfad zu zeigen, dem er leicht dahin folgen könne.

»Von allem, was ich von Euch gesehen, Fremder«, redete er ihn da an, als sie das Haus eine Strecke im Rücken hatten, »glaub ich, daß ich Euch vertrauen darf. Ihr gehört keinesfalls zu jenen ›Herren im Busch‹, die hier seit einiger Zeit ihr Wesen treiben.«

»Also doch«, sagte Tolmer lächelnd, »ich hab es mir fast gedacht. Ihr habt übrigens nichts von mir zu fürchten, denn nur der Wunsch, die nähere Bekanntschaft dieser ›Herren‹ zu machen, hat mich hierher geführt.«

»Nehmt Euch dann in acht«, warnte ihn der Alte, »sie sind zahlreicher, als Ihr vielleicht glaubt, wenn sie sich auch bis jetzt, Gott weiß aus welchem Grunde, ruhiger und friedlicher verhalten haben, als das sonst gewöhnlich ihre Sitte sein mag. Wir Stationshalter, die wir hier einzeln im Busch leben, sind ihnen auf Gnade oder Ungnade preisgegeben und müssen sie uns wohl zu Freunden halten. Merken sie einmal, daß wir sie verraten oder gar der Polizei gegen sie beistehen, dann können wir uns darauf verlassen, daß wir dafür büßen müssen.«

»Aber wovon leben sie hier im Busch?« fragte Tolmer.

»Von dem«, sagte der Alte schulterzuckend, »was sie sich auf Rechnung holen. Zahlen tun sie dabei mit dem stillschweigenden Versprechen, uns dafür unsere Stationen nicht anzuzünden, unsere Herden nicht zu zerstreuen oder uns gar abends beim Tee mit ihren Schrotgewehren nicht in die Fenster hineinzuschießen. Es ist jedenfalls eine unbequeme Nachbarschaft, und wenn man den Gouverneur unterderhand nur davon benachrichtigen könnte, daß er eine hinreichende Macht herüberschickte, ließe sich vielleicht mit Erfolg ein Schlag gegen die ganze Bande führen.«

»Und würdet Ihr Herren hier die Polizei dabei unterstützen?« fragte Tolmer.

»Das ist eine kitzlige Sache«, meinte der Alte. »Auf unsere Leute können wir uns natürlich nicht verlassen; ja, wir wissen kaum, ob sie nicht mit der Bande in weit näherer Verbindung stehen, als uns lieb ist. Treten wir also offen auf die Seite der Polizei, und richtet diese, was sehr gewöhnlich der Fall ist, nichts weiter aus, als daß sie ein paar von diesen Burschen wegfängt oder totschießt und fährt dann wieder ruhig nach dem Festland zurück, dann sitzen wir nachher erst recht im Unglück und können uns darauf verlassen, die zu sein, an denen die gereizten Verbrecher ihren ganzen Grimm und Unmut auslassen.

»Und wie viele sind es wohl, Eurer Meinung nach, die sich hier in der Gegend herumtreiben?« fragte Tolmer.

»Gott weiß es«, erwiderte der Alte, »etwas Genaues erfuhr man ja außerdem nie über sie, und man weiß nicht einmal, wo auf der Insel herum sie überall ihre Verbündeten und Hilfe haben. Zwölf aber, dächt ich, wären es gewiß – eher mehr als weniger.«

»Und ihr Hauptversteck?«

»Ist hier am Torrens-Berg, ganz in der Nähe. Etwa eine halbe Stunde von hier kommt Ihr zu einer kleinen Schlucht, an der unten, dicht am Pfade, eine einzelne Kasuarine steht. Drückt Euch dort so rasch wie möglich vorbei, denn in der Schlucht hinauf, nicht viele hundert Schritt vom Pfad entfernt, steht schon eine einzelne Rindenhütte, und eine kleine Strecke weiter oben ist das Lager. Ich bin dort einmal aus Versehen hingekommen, weil ich ein weggelaufenes Pferd suchte, und fand da die ganze Gesellschaft zusammen.

»Die Buschranger?« rief Tolmer rasch.

»Pst« sagte der Alte, sich vorsichtig dabei umsehend. »Es ist gar nicht nötig, den Namen hier so laut in den Busch hineinzuschreien. – Sie ließen mich allerdings ungehindert ziehen, gaben mir aber doch zu verstehen, es wäre ihnen lieb, wenn keine Pferde wieder hier in dieser Richtung in den Busch liefen. Natürlich verstand ich, was sie damit meinten, und habe mich seit der Zeit sorgfältig gehütet, noch einmal in ihre Nähe zu kommen.«

»Und wie lange ist das her?«

»Etwa vierzehn Tage.«

»Dann wundert es mich nur, daß die am Kap Borda nichts von solcher Nachbarschaft wußten.«

»Habt Ihr sie danach gefragt?«

»Allerdings.«

»Die werden sich ebenso gewundert haben, daß Ihr nach so etwas fragen mochtet. Doch von hier aus könnt Ihr den Weg nicht verfehlen, und – wenn Ihr meinem Rat, dem Rat eines alten Siedlers, folgen wollt, dann bleibt so weit von der Schlucht, wie Ihr nur könnt.«

»Herzlichen Dank – und wenn ich Euch Hilfe brächte?«

»Je mehr dabei getan und je weniger davon gesprochen wird, desto besser«, sagte der alte Mann, grüßte Tolmer freundlich und schritt dann seiner eigenen Wohnung zu.


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